Georg hatte das Büro heute zwei Stunden früher als üblich verlassen. Er hatte gleich gewusst, dass er sich für den heutigen Tag hätte krankschreiben lassen sollen. Nach dem Mittagessen war ihm übel geworden. Er hatte sich auf der Toilette übergeben und dann beschlossen, sich beim Chef abzumelden.
Auf dem Nachhauseweg dachte er über Maria nach. Sie hatte heute ihren freien Tag und er freute sich richtig darauf, den Nachmittag mit ihr gemeinsam verbringen zu können. Sie waren seit vier Jahren zusammen aber Georg war immer noch so stürmisch in sie verliebt wie ganz zu Beginn ihrer Beziehung.
Schon als er die Haustür aufschloss, merkte er, dass heute etwas nicht stimmte. Aus dem oberen Stockwerk hörte er eine fremde Männerstimme, die hektisch etwas Unverständliches flüsterte.
Georg hastete die Treppe hinauf und riss die Schlafzimmertür seiner Frau auf. Dort sah er einen fremden Mann, der hektisch versuchte, sich seine Hose anzuziehen. Seine Frau lag unter einem Bettlaken. Schock und Scham waren ihr ins Gesicht geschrieben.
Georg brachte nichts weiter zu Stande als ein ungläubiges und verzweifeltes Stöhnen.
"Soll ich euch etwas vom Bäcker mitbringen?", rief Georg, der schon mit den Schuhen im Flur stand, bereit loszugehen.
"Nein danke!", rief seine Mutter zurück.
Seit er sich vor zwei Wochen von Maria getrennt hatte, war er wieder bei seinen Eltern eingezogen. Oft hatte er davon geträumt, wieder in seinem früheren Kinderzimmer zu sitzen und die alten Harry-Potter-Bücher auszugraben. Nochmal das Kind seiner Eltern zu sein.
Trotzdem war er noch nie in seinem Leben derart verzweifelt gewesen. Das Leben ohne Maria schien leer und farblos. Vier Jahre lang war sie der Grund gewesen, warum er sich morgens überhaupt aus dem Bett aufraffen konnte. Schon oft hatte er sich fest vorgenommen, ihr einfach zu verzeihen, die Sache als einen einmaligen Ausrutscher anzusehen und wieder zu ihr zurückzukehren. Doch er schaffte es nicht. Er konnte nicht verstehen, wie Maria ihm so etwas hatte antun können. Nach allem, was zwischen ihnen gewesen war.
Als er beim Bäcker angekommen und schließlich an der Reihe war, bestellte er drei Brezeln, eine Mohnschnecke und einige Stückchen Kuchen. In der letzten Zeit aß er gerne Süßes. Da er es nicht passender hatte, bezahlte er mit einem 20-Euro-Schein. Wie gewohnt zählte er nachlässig das Wechselgeld. Die Kassiererin hatte ihm fünf Euro zu viel rausgegeben. Normalerweise war er der Typ, der so ein Missverständnis sofort aufklärte. Maria hatte ihn oft wegen seiner übertriebenen Ehrlichkeit aufgezogen. Heute aber, und er konnte selber nicht verstehen warum, dachte er sich nur "Was solls?" und verließ das Geschäft mit seinen fünf Extra-Euro.
Die Abende hatte Georg in den letzten zwei Wochen damit verbracht, sich im Bett auf seinem Handy youtube - Videos anzusehen, bis er schließlich einschlief. Das war besser, als sich in den Schlaf zu weinen. Er interessierte sich zur Zeit sehr für Sam Harris, einen amerikanischen Neurowissenschaftler und Philosophen. Und so klickte er ohne lange zu überlegen das neueste Video auf dessen Kanal an "Warum der freie Wille eine Illusion ist".
Der Gedankengang des Wissenschaftlers war folgendermaßen: Wenn im Universum jede Wirkung auch eine Ursache hat, dann ist unsere physikalische Wirklichkeit streng deterministisch. Mit einem sehr leistungsfähigen Computer könnte man also die Zukunft vorhersagen. Aber Sam Harris ging weiter. Da auch unsere Gehirne nur physikalische Objekte sind, geht es auch in ihnen streng deterministisch zu und das bedeutet nichts anderes, als das unser Gefühl, einen freien Willen zu haben, nur eine Illusion ist.
Auch die Quantenmechanik, die zwar nicht deterministisch ist, ließe keinen Raum für den freien Willen, da hier alles zufällig geschehe. Zufällige Prozesse in unserem Gehirn könnte man aber kaum als freien Willen bezeichnen.
Georg konnte dieser Argumentation nichts entgegensetzen, fühlte sich aber trotzdem unwohl bei dem Gedanken, offenbar nichts als eine sehr komplexe Maschine zu sein. Er löschte das Licht. Kurz vor dem Einschlafen war ihm noch etwas eingefallen. Er fuhr kurz aus dem Bett hoch, konnte sich dann allerdings nicht mehr erinnern, woran er gedacht hatte.
Am nächsten Morgen rief er mit klopfendem Herzen Maria an. Er hatte eine Entscheidung getroffen. "Hey Schatz, ich finde wir sollten nochmal über alles reden. Du hast mich sehr verletzt, aber ich liebe dich und ich will dir noch eine Chance geben"
Zuerst herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Dann schluchzte Maria heftig auf. Es dauerte lange, bis sie wieder in der Lage war, normal zu sprechen.
Am nächsten Abend lag Georg mit Maria im Bett. Sie war bereits eingeschlafen. Er beugte sich zu ihr hinunter und roch heimlich an ihren Haaren. Er liebte den Geruch ihres Shampoos.
"Das war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe", dachte er sich.
Dann holte er sein Tagebuch hervor. Lange hatte er nichts mehr hineingeschrieben, aber heute hatte er ein starkes Bedürfnis dazu.
Er schrieb:
11.11.2022
Ich bin wieder mir Maria zusammen. Es schaudert mich bei dem Gedanken, dass ich fast so blöd gewesen wäre, sie für immer aufzugeben. Das alles verdanke ich im Grunde Sam Harris. Er hat Recht. Es gibt keinen freien Willen. Daran habe ich keine Zweifel mehr. Und wenn es keinen freien Willen gibt, ist es nicht Marias Schuld, dass sie mich betrogen hat. Das alles war nicht mehr als ein Unfall. Mit Leichtigkeit habe ich ihr verziehen.
Dieses Wissen wird mein ganzes Leben verändern. Ich werde ab jetzt jedem Menschen alles verzeihen können. Den anderen und auch mir selbst.
Nächte lang war ich schon wach gelegen und habe mich gemartert bei dem Gedanken, wie anders mein Leben verlaufen wäre, hätte ich nur andere Entscheidungen getroffen. Doch diese Fragen sind müßig. Ich hätte nie anders handeln können. Alles was passiert, und passieren wird ,steht schon seit jeher fest, seit es das Universum gibt.
Es gibt keinen freien Willen. Das heißt auch, es gibt keine bösen Menschen. Wir sind Opfer unseres Gehirns und unserer Lebensumstände. Habe ich gerade das Rezept für die bedingungslose Liebe zu allen Menschen gefunden? Darüber will ich morgen auf jeden Fall nachdenken.
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Auf dem Nachhauseweg dachte er über Maria nach. Sie hatte heute ihren freien Tag und er freute sich richtig darauf, den Nachmittag mit ihr gemeinsam verbringen zu können. Sie waren seit vier Jahren zusammen aber Georg war immer noch so stürmisch in sie verliebt wie ganz zu Beginn ihrer Beziehung.
Schon als er die Haustür aufschloss, merkte er, dass heute etwas nicht stimmte. Aus dem oberen Stockwerk hörte er eine fremde Männerstimme, die hektisch etwas Unverständliches flüsterte.
Georg hastete die Treppe hinauf und riss die Schlafzimmertür seiner Frau auf. Dort sah er einen fremden Mann, der hektisch versuchte, sich seine Hose anzuziehen. Seine Frau lag unter einem Bettlaken. Schock und Scham waren ihr ins Gesicht geschrieben.
Georg brachte nichts weiter zu Stande als ein ungläubiges und verzweifeltes Stöhnen.
"Soll ich euch etwas vom Bäcker mitbringen?", rief Georg, der schon mit den Schuhen im Flur stand, bereit loszugehen.
"Nein danke!", rief seine Mutter zurück.
Seit er sich vor zwei Wochen von Maria getrennt hatte, war er wieder bei seinen Eltern eingezogen. Oft hatte er davon geträumt, wieder in seinem früheren Kinderzimmer zu sitzen und die alten Harry-Potter-Bücher auszugraben. Nochmal das Kind seiner Eltern zu sein.
Trotzdem war er noch nie in seinem Leben derart verzweifelt gewesen. Das Leben ohne Maria schien leer und farblos. Vier Jahre lang war sie der Grund gewesen, warum er sich morgens überhaupt aus dem Bett aufraffen konnte. Schon oft hatte er sich fest vorgenommen, ihr einfach zu verzeihen, die Sache als einen einmaligen Ausrutscher anzusehen und wieder zu ihr zurückzukehren. Doch er schaffte es nicht. Er konnte nicht verstehen, wie Maria ihm so etwas hatte antun können. Nach allem, was zwischen ihnen gewesen war.
Als er beim Bäcker angekommen und schließlich an der Reihe war, bestellte er drei Brezeln, eine Mohnschnecke und einige Stückchen Kuchen. In der letzten Zeit aß er gerne Süßes. Da er es nicht passender hatte, bezahlte er mit einem 20-Euro-Schein. Wie gewohnt zählte er nachlässig das Wechselgeld. Die Kassiererin hatte ihm fünf Euro zu viel rausgegeben. Normalerweise war er der Typ, der so ein Missverständnis sofort aufklärte. Maria hatte ihn oft wegen seiner übertriebenen Ehrlichkeit aufgezogen. Heute aber, und er konnte selber nicht verstehen warum, dachte er sich nur "Was solls?" und verließ das Geschäft mit seinen fünf Extra-Euro.
Die Abende hatte Georg in den letzten zwei Wochen damit verbracht, sich im Bett auf seinem Handy youtube - Videos anzusehen, bis er schließlich einschlief. Das war besser, als sich in den Schlaf zu weinen. Er interessierte sich zur Zeit sehr für Sam Harris, einen amerikanischen Neurowissenschaftler und Philosophen. Und so klickte er ohne lange zu überlegen das neueste Video auf dessen Kanal an "Warum der freie Wille eine Illusion ist".
Der Gedankengang des Wissenschaftlers war folgendermaßen: Wenn im Universum jede Wirkung auch eine Ursache hat, dann ist unsere physikalische Wirklichkeit streng deterministisch. Mit einem sehr leistungsfähigen Computer könnte man also die Zukunft vorhersagen. Aber Sam Harris ging weiter. Da auch unsere Gehirne nur physikalische Objekte sind, geht es auch in ihnen streng deterministisch zu und das bedeutet nichts anderes, als das unser Gefühl, einen freien Willen zu haben, nur eine Illusion ist.
Auch die Quantenmechanik, die zwar nicht deterministisch ist, ließe keinen Raum für den freien Willen, da hier alles zufällig geschehe. Zufällige Prozesse in unserem Gehirn könnte man aber kaum als freien Willen bezeichnen.
Georg konnte dieser Argumentation nichts entgegensetzen, fühlte sich aber trotzdem unwohl bei dem Gedanken, offenbar nichts als eine sehr komplexe Maschine zu sein. Er löschte das Licht. Kurz vor dem Einschlafen war ihm noch etwas eingefallen. Er fuhr kurz aus dem Bett hoch, konnte sich dann allerdings nicht mehr erinnern, woran er gedacht hatte.
Am nächsten Morgen rief er mit klopfendem Herzen Maria an. Er hatte eine Entscheidung getroffen. "Hey Schatz, ich finde wir sollten nochmal über alles reden. Du hast mich sehr verletzt, aber ich liebe dich und ich will dir noch eine Chance geben"
Zuerst herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Dann schluchzte Maria heftig auf. Es dauerte lange, bis sie wieder in der Lage war, normal zu sprechen.
Am nächsten Abend lag Georg mit Maria im Bett. Sie war bereits eingeschlafen. Er beugte sich zu ihr hinunter und roch heimlich an ihren Haaren. Er liebte den Geruch ihres Shampoos.
"Das war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe", dachte er sich.
Dann holte er sein Tagebuch hervor. Lange hatte er nichts mehr hineingeschrieben, aber heute hatte er ein starkes Bedürfnis dazu.
Er schrieb:
11.11.2022
Ich bin wieder mir Maria zusammen. Es schaudert mich bei dem Gedanken, dass ich fast so blöd gewesen wäre, sie für immer aufzugeben. Das alles verdanke ich im Grunde Sam Harris. Er hat Recht. Es gibt keinen freien Willen. Daran habe ich keine Zweifel mehr. Und wenn es keinen freien Willen gibt, ist es nicht Marias Schuld, dass sie mich betrogen hat. Das alles war nicht mehr als ein Unfall. Mit Leichtigkeit habe ich ihr verziehen.
Dieses Wissen wird mein ganzes Leben verändern. Ich werde ab jetzt jedem Menschen alles verzeihen können. Den anderen und auch mir selbst.
Nächte lang war ich schon wach gelegen und habe mich gemartert bei dem Gedanken, wie anders mein Leben verlaufen wäre, hätte ich nur andere Entscheidungen getroffen. Doch diese Fragen sind müßig. Ich hätte nie anders handeln können. Alles was passiert, und passieren wird ,steht schon seit jeher fest, seit es das Universum gibt.
Es gibt keinen freien Willen. Das heißt auch, es gibt keine bösen Menschen. Wir sind Opfer unseres Gehirns und unserer Lebensumstände. Habe ich gerade das Rezept für die bedingungslose Liebe zu allen Menschen gefunden? Darüber will ich morgen auf jeden Fall nachdenken.
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