Der fremde Junge

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Midian

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Der fremde Junge

Perikles war schon seit zwei Tagen verschwunden. Manolis war überzeugt, sie hatten ihn weggejagt, weil er zu viel fraß, zuviel bellte. Zu Hause war kein Platz mehr für seinen Hund, deswegen gab es auch für ihn dort keinen mehr. Zornige Entschlossenheit stand in seinem Gesicht. Er hatte den Weg gewählt, den nur wenige gingen, denn er endete weit oben bei den verlassenen Schafhürden. Manolis hockte sich auf einen Stein, kramte verdrossen in seiner Tasche und holte einen krümelig gewordenen Käsefladen hervor. Gedankenverloren biss er ein Stück ab, kaute und stellte sich vor, wie seine Eltern ihn vergeblich rufen und alles nach ihm absuchen würden. Geschieht denen recht, dachte er, denn Perikles ist wohl schon tot. Dabei rollten ihm Tränen über das Gesicht, ohne dass er es merkte.
„Warum heulst du denn?“
Manolis schreckte hoch. Vor ihm stand ein magerer Junge mit großen Augen in einem harten Gesicht. Seine Haut war dunkelbraun gebrannt. Manolis wusste sofort, dass er eines der Kinder türkischer Arbeiter war, die hinter den Tabakfeldern wohnten. Kein griechischer Junge, der etwas auf sich hielt, wechselte mit denen ein Wort. Manolis machte eine weit ausholende, verächtliche Geste, die er seinem Vater abgeguckt hatte und die besagen sollte, dass der andere sich entfernen möge. Der braune Knabe aber übersah diese Bewegung. Seine Blicke gingen forschend über das Gesicht des Jungen, der schnell und verlegen die Tränen abwischte, und er fragte: „Hast du dich verlaufen?“
Manolis warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Nein. Was willst du von mir? Lass mich in Ruhe!“
Doch der andere blieb unbeeindruckt. „Du hast geheult. Ich habe es gesehen.“
„Ich heule, wann ich will.“
Der türkische Junge lächelte dünn und setzte sich neben Manolis in den Sand. „Ich heiße Kemal. Und du?“
Manolis schwieg.
„Bist du aus dem Dorf?“
Wie hartnäckig und aufdringlich er ist! dachte Manolis erbost. „Ich rede nicht mit Türken.“
„Warum nicht?“
Manolis rutschte unbehaglich auf seinem Stein hin und her. Er wäre gern weitergegangen, aber vielleicht würde der Junge ihm folgen. „Ihr Türken habt viele Jahre unser Land unterjocht“, gab er altklug zur Antwort, doch Kemal bohrte nur seine schmutzigen Zehen in den Sand, dann wandte er sein Gesicht Manolis zu. „Du bist dumm. Merkst du nicht, dass ich dir helfen will? Sag schon, warum du heulst.“
Manolis senkte den Blick. Es machte ihn ärgerlich, dass er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. „Ich heiße Manolis“, sagte er schließlich, und ich heule aus Wut – natürlich! Mein Hund ist weggelaufen, und ich suche ihn.“
„Wie sah er denn aus – dein Hund?“
„Braun war er mit weißen Flecken und einer weißen Schnauze. Er heißt Perikles.“
Kemal nickte. „Ja, da ist klar, so ein Hund – mochtest du ihn sehr gern? Ich meine, so wie einen sehr guten Freund?“
Manolis sah Kemal erstaunt an. Woher wusste der, dass es sich genauso verhielt? „Ja, er ist mein allerbester Freund.“
Kemal schwieg, dann meinte er zögernd: „So einen Hund, braun, weiß gefleckt, also den habe ich gesehen. Ja, bei unserer Hütte lief so einer herum.“ Kemal bemerkte Manolis’ hoffnungsvollen Blick. Er nickte bekräftigend. „Ja, ich möchte wetten, dass es dein Hund ist.“
Manolis sprang auf. „Dann lass uns doch mal nachsehen.“
Kemal zuckte die Achseln. „Können wir. Komm mit!“ Und schon wandte er sich um und lief voraus. Manolis stolperte hinterher. Er schämte sich, als er, hinter Kemal hertrottend, an den ärmlichen Lehmhäusern vorbeiging. Kemal führte ihn zu einem abseits gelegenen Schuppen und winkte Manolis. Der kam misstrauisch näher. Kemal öffnete die Tür, und heraus schoss ein wolliges, geflecktes Bündel. Braun-weiß, aber nicht Manolis’ Hund. Freudig aufgeregt sprang er an den Beinen der Jungen hoch. Wütend und enttäuscht schob Manolis den kleinen Hund mit einem leichten Stoß beiseite. „Das ist nicht mein Hund.“
„Ich weiß“, sagte Kemal und hob den kleinen Hund auf. „Doch sieh nur, wie niedlich er ist und was für hübsche Augen er hat.“
Manolis jedoch fühlte sich heimtückisch in das schmutzige Türkendorf gelockt. Giftig zischte er zurück: „Ein hässlicher Köter ist er und außerdem – ein Türkenhund!“
„Ich dachte, du magst Hunde.“ Kemals Stimme war plötzlich traurig, doch Manolis in seiner Verbitterung merkte es nicht. „Du wusstest es. Weshalb hast du mich hierher gelockt?“
Kemal sah Manolis verwundert an. „Ich dachte, wenn dein Hund fort ist, schenke ich dir eben einen anderen. Und der hier – „ er kraulte ihn zärtlich hinter dem Ohr, „der ist doch wirklich lieb. Und stark wird er auch mal, du wirst sehen.“
„Ich will keinen anderen Hund, behalte deinen Bastard!“ Manolis wandte sich heftig ab und rannte die Gasse zurück. Als er sich umdrehte, sah er, dass Kemal und der Hund ihm folgten. Er ging langsamer. „Wohin willst du jetzt?“ schrie Kemal. Er holte ihn ein. „Sei mir nicht böse, ich habe es gut gemeint. Soll ich dir helfen, deinen Hund zu suchen?“
Manolis schüttelte den Kopf und schwieg. Der kleine Hund lief ihm schwanzwedelnd voraus. „Wohin gehst du jetzt?“ fragte Kemal.
„In die Berge.“
„Ist dein Hund da oben?“
„Nein, ich glaube nicht.“ Zögernd rückte Manolis mit der Wahrheit heraus, dass er fortgelaufen war, weil er glaubte, dass sein Hund nicht mehr lebte. Kemal sah ihn ernst von der Seite an. Plötzlich drehte er sich um und rannte zurück. Der kleine Hund zögerte kurz, dann flitzte er Kemal hinterher.
Manolis sah den beiden nach und dann hinauf zu den schroffen Hängen, die sich in der Dämmerung dunkel vom verblassenden Himmel abhoben. Er fluchte leise. Jetzt hätte er schon oben sein können bei den Schafhürden und schlafen. Stattdessen lief er durch die Straßen der Türken, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Nein, auch nicht mit ihren Hunden!
Da lief das wuschelige Bündel plötzlich vor seine Füße. Manolis sah sich um. Kemal schlenderte lächelnd heran. Seine Hände steckten im Bund seiner geflickten, kurzen Hosen, von seiner Schulter hing eine große, schwere Tasche.
Manolis blieb stehen. „Hör zu, Kemal – „ zum ersten Mal nannte er ihn bei seinem Namen – „ich will allein gehen.“
„Allein ist nicht gut, oben ist es einsam. Essen gibt es auch nicht.“ Er wies auf seine Tasche und grinste. „Hier drin ist alles, was wir brauchen.“
Manolis fühlte einen leichten Druck im Magen. Was wollte der fremde Junge? In seiner Unsicherheit erwiderte er trotzig: „Ich nehme nichts von Türken. Gib es deinem Hund!“
Kemal pfiff diesen zu sich und warf ihm einen Brocken zu. „Wenn der Hunger kommt, wirst du essen“, stellte er fest und setzte gelassen den Weg fort, den Manolis nehmen musste, und jetzt war es Manolis, der Kemal und dem Hund folgte.
Fast unbemerkt war es Nacht geworden, das Lärmen der Zikaden verstummt. Kemal zog eine Taschenlampe aus seiner Tasche. Es zeigte sich, dass er den Weg gut kannte, denn er führte Manolis sicher bergan. Manolis überlegte, was er ohne Kemal getan hätte. An eine Taschenlampe hatte er nicht gedacht, auch seine Wegzehrung war kärglich gewesen. Er hatte seine Flucht von zu Hause erbärmlich geplant.
Als sie die Schafhürden erreichten, war Manolis müde, zerschlagen und wütend auf sich selbst. Er ließ sich zu Boden fallen und stellte sich schlafend. Kemal raschelte mit etwas. Der Duft von Weißbrot, Schafskäse und Oliven stieg Manolis in die Nase. Der Hund schmatzte. Manolis wollte sich missmutig auf die andere Seite wälzen, da schob sich eine Hand zu ihm hinüber, und ein Kanten Brot mit Schafskäse zerstörte seinen Stolz. Er packte zu und stopfte das Brot in sich hinein. Manolis meinte, Kemals zufriedenes Grinsen zu sehen, doch Kemal grinste nicht. Er wartete, bis Manolis aufgegessen hatte, dann fragte er mit ruhiger Stimme: „Was wirst du morgen tun?“
Manolis zuckte zusammen. Er hatte nicht die geringste Vorstellung vom Fortgang seiner Flucht. „Weiß noch nicht“, murmelte er.
„Du wirst wieder nach Hause gehen“, stellte Kemal fest.
„Willst du mir das vielleicht vorschreiben?“ brauste Manolis auf.
„Du wirst es tun, weil es so am besten ist“, kam es selbstsicher von Kemal.
„Was weißt denn du?“ Und nach einer Pause: „Du bist schließlich auch weggelaufen. Was sagen denn deine Eltern dazu?“
Kemal antwortete nicht sofort. „Sie vermissen mich nicht“, sagte er schließlich leise. „Wir sind viele zu Hause, weißt du. Es fällt nicht auf.“
Manolis horchte auf. Kemal hatte zum ersten Mal unsicher geklungen. Manolis konnte sich nicht vorstellen, dass man ihn daheim nicht vermissen könne. „Gibst du mir noch etwas?“ fragte er, und diesmal ging es ihm leicht über die Zunge. Sofort reichte ihm Kemal noch ein Stück Brot mit Käse und ein paar Oliven. Der kleine Hund rutschte schnüffelnd an Manolis heran, und der begann ihn abwesend zu kraulen. „Ich kann doch nicht zurück“, fuhr er zögernd fort, „sie werden furchtbar schimpfen.“
Kemal schüttelte den Kopf, doch Manolis konnte es nicht sehen. „Nein, sie werden sich freuen, dass du wieder da bist – du wirst sehen.“ Kemal schwieg, und Manolis kam es so vor, als säße Kemal ein Kloß im Hals. Manolis wurde nachdenklich, beinahe traurig. Schnell schob er den letzten Bissen in den Mund und dachte, wie behaglich es war, satt zu sein. Zu Hause wurde er das immer. Und Kemal? Er sah mager aus, und sie waren viele, hatte er gesagt. Doch Manolis mochte ihn nicht weiter fragen. „Wir wollen es überschlafen“, sagte er und gähnte absichtlich, obwohl er gar nicht mehr müde war.
„Ja gut“, sagte Kemal und rollte sich auf die Seite. Seine ruhigen Atemzüge verrieten Manolis bald, dass er eingeschlafen war. Auf seinem Bauch lag die Hundeschnauze. Manolis beneidete Kemal um seinen Schlaf. Wie selbstsicher er war und wie vernünftig. Er selbst dagegen war so kindisch. Manolis konnte nicht wissen, dass ein hartes Leben Kemal eine unbeschwerte Kindheit vorenthalten hatte.
Der Morgen war kühl. Manolis hatte nicht geschlafen. Er stand auf und reckte sich. Der Hund hob sofort den Kopf. Manolis lächelte ihm zu, als verstünde der Hund. Beruhigend war es, diese beiden Begleiter zu haben. Manolis wäre jetzt nicht gern allein gewesen. Er rüttelte Kemal an der Schulter. „Wach auf!“
Der war sofort wach, genau wie sein Hund. Er lächelte überlegen. „Gehen wir erst, oder essen wir erst?“
„Erst essen“, sagte Manolis.
Der Hund hockte vor Manolis, denn der warf ihm die besten Bissen zu. Kemal beobachtete die beiden. „Du behandelst deine Freunde gut, was?“
Irritiert sah Manolis auf. Dann lachte er verlegen. „Hast du schon überlegt, wie es weiter geht?“
Kemal nickte. „Wir gehen nach Hause. Zur dir nach Hause.“
Manolis schüttelte abwehrend den Kopf, aber Kemal achtete nicht auf ihn,. Er stopfte die Essensreste in seine Tasche und stand auf. Manolis blieb ihm eine Erwiderung schuldig. Ergeben folgte er Kemal. Erst, als sie die Maisfelder erreichten, bereute Manolis seine Folgsamkeit. Was würden seine Freunde aus dem Dorf sagen, wenn sie ihn in Begleitung eines türkischen Jungen sahen?
Kemal drehte sich zu ihm um. „Geh du jetzt voran, zeig mir dein Haus.“
Manolis zögerte, doch dann schämte er sich. Tapfer lächelnd schritt er neben Kemal quer über den Marktplatz. Als er sich dem väterlichen Hof näherte, ging er langsamer, das flaue Gefühl war wieder da. Er blieb am Zaun stehen und spähte vorsichtig in den Hof. „Hier ist es“, murmelte er.
Kemal sah sich prüfend um. „Gefällt mir gut. Sind deine Eltern nett?“
Manolis nickte stumm. Nett – ja. Aber heute? Da raste plötzlich ein braun-weiß geflecktes Etwas freudig bellend auf den Zaun zu und sprang an ihm hoch.
„Perikles!“ schrie Manolis überrascht. Er riss das Tor auf, und Perikles riss Manolis bei seiner stürmischen Begrüßung fast um. „Perikles, du bist ja wieder da!“ rief Manolis und knuffte ihn übermütig.
Kemals Hund stand schwanzwedelnd abseits, unbewegt Kemal. Er war fremd hier, seine Überlegenheit war einer unsicheren Erwartung gewichen. Da stand eine Frau neben Manolis und legte ihm die Hand auf den Scheitel. „Mein Junge“, sagte sie nur.
Manolis wurde dunkelrot. „Mama – ich dachte, ihr hättet – ich dachte, Perikles wäre – „
„Schon gut, du bist ja wieder da. Im Nachbardorf gibt es eine Hündin, die hat Perikles besucht.“ Die Mutter lächelte. „In einer solchen Angelegenheit bleibt ein Mann gern lange aus. – Doch wer sind denn die beiden?“ Sie wies auf Kemal und den kleinen Hund.
„Der Hund, der muss nun auch hier bleiben!“ stieß Manolis eifrig hervor.
Als hätte der verstanden, stolzierte er auf Perikles zu, und nach Hundeart beschnüffelten sie sich. Offensichtlich hatte Perikles dem anderen vorgeschlagen, sich gemeinsam das Gelände anzusehen. Die Hunde verschwanden im Hof. Manolis’ Mutter lächelte. „Perikles hat schon entschieden. Hoffentlich ist dein Vater nicht anderer Meinung. Und – wer ist das?“
Manolis sah Kemal an. Der starrte stumm auf seine nackten Zehen. „Das ist Kemal, mein Freund. Morgen spielen wir zusammen Fußball, nicht?“
Kemal sah von seinen Zehen hoch. In seinen ernsten Augen stand ein Glänzen, und ein schüchternes Lächeln machte seine Züge weich. „Arkadaschim“, flüsterte er in seiner Sprache. „Mein Freund.“ Dann macht er eine Kopfbewegung zum Haus hin und fragte leichthin: „Warum gehen wir nicht hinein?“
„Klar!“ rief Manolis, und sie liefen den Hunden hinterher.
 
D

Dominik Klama

Gast
Zwei Jungen aus den verfeindeten Bevölkerungsgruppen Türken und Griechen freunden sich an über der Suche nach einem entlaufenen Hund.

Nein, der Wertung entsprechend habe ich (fast gar) nichts zu meckern. Gefällt mir gut.

Unter den Autorinnen in der Leselupe ist midian eine der eher wenigen, von der bereits mehrere Werke im Druck erschienen sind. Und zwar nicht in jener Art von Verlagen, wo der Schreiber, damit etwas herauskommen kann, das Geld vorstrecken muss. Liest man diese Story, ist man sich ziemlich sicher, dass die Autorin im Bereich „Jugendbuch“ schon ein paar Erfolge vorzuweisen haben dürfte. Dass sie hierorts, in der Leselupe, bisher über den eher undankbaren Rang eines „manchmal gelesenen Autors“ nicht hinausgekommen ist, sollte sich bald mal ändern!

Na ja, Kinder- und Jugendbücher lese ich sonst halt nie. Da ich niemals Kinder hatte und mich auch schon lange nicht mehr fühle wie eines. Im Grunde ist mir das immer ein wenig zu simpel und auch zu geschönt. Was man diesem Text auch vorwerfen könnte, ich will es aber nicht tun, da er mich gerührt hat.

Bemerkt werden sollte auf jeden Fall die professionelle sprachliche Form, die man natürlich hat, wenn man sogar schon Geld verdienen konnte mit seinem Schreiben, die aber viele LL-Kollegen leider nicht haben. Mit den Zeichen bei der wörtlichen Rede sieht sie es ein wenig anders als der Duden oder ich.

„Und der hier...“, er kraulte ihn zärtlich hinter dem Ohr, „...der ist wirklich lieb. Und stark wird er auch mal, du wirst sehen.“ Würde ich schreiben. Und:
„Der Hund, der muss hier bleiben!“, stieß Manolis hervor.

Auch würde ich die von Manolis her schauende Perspektive und die Zeitebene, die jene der Hundesuche ist, nicht unvermittelt und mehr oder weniger einmalig verlassen, um den Leser zu unterrichten, dass Kemal eine harte Kindheit hatte. Das kann man entweder andernorts in der Erzählung andeuten. Geschieht ja auch: dass er zu Hause nicht vermisst wird – im Gegensatz zu Manolis. Oder aber, man ist sich nicht ganz sicher, ob man das genug andeuten konnte, ob alle Leser auch drauf kommen. Dann halte ich das in meinen Texten so: Ich sage mir, auf Jäger, die man zum Jagen tragen muss, kann man notfalls schon mal verzichten. Auf Grund der Infos, die ich ihnen gebe, werden es die einen Leser mitkriegen und die anderen nicht. Es muss ja nicht jeder alles mitkriegen. Am Ende macht sich jeder Leser doch seinen eigenen Text.

Ach ja! Seufz! Irgendwie glauben wir das immer, wenn wir solche Texte lesen (oder, in meinem Fall eher: solche Filme sehen), dass die allermeisten Menschen in ihrem Kern ja so wären wie diese Jungen. Oder zumindest so sein könnten. Leider muss man nur die letzten vier Wochen in seinem eigenen Leben Revue passieren lassen um zu merken, dass die Menschen so überhaupt nicht sind. Auch die Jugendlichen nicht (mehr). Die Kinder vielleicht (noch). Weiß nicht, kenne zu wenig. Und ist man selber denn so?

Vielmehr sind die Menschen einander gegenüber sehr gleichgültig, wenn sie aber interessiert sind aneinander, wenn sie auf einander zugehen, dann doch allemal, weil sie etwas wollen, nämlich für sich – und nicht den Anderen. Was meist leider nicht so brav ist, wie hier bei Kemal: Der will auch was für sich, nämlich einen Freund, jemanden, dem er was wert ist. Und das ist dann mehr oder weniger das Beste, was diesem Manolis überhaupt passieren kann. Die meisten Menschen sind ganz und gar nicht so gut und unschuldig. Auch wenn sie sich das selber so erzählen mögen. Früher war ich immer traurig, wenn ich abends heimkam und der Anrufbeantworter null Anrufe zeigte. Heute bin ich jedes Mal erleichtert: Wieder ein Tag, wo mich nicht irgendwer für irgendwas einspannen wollte!

Ich schreibe solche Texte selber niemals, weil ich grundsätzlich die Welt nicht so beschreiben will, wie sie sein sollte, sondern so, wie sie ist. Auch habe ich ein „Händchen“ dafür, produktiv zu werden, wenn mir etwas weh tut oder wenn mich etwas wütend macht. Nicht, wenn mich etwas freut und glücklich macht. Gibt halt unterschiedliche Menschen.

Aber gelesen habe ich das sehr gern. Wir Männer haben auch irgendwo ein Herz. Oder den Manolis noch in uns.
 

Midian

Mitglied
Hallo Dominik,
danke für deinen Beitrag. Hat mich sehr gefreut. Ist doch mal was ganz anderes, gelle?
Ich schreibe übrigens nicht Texte, wie die Welt sein sollte, sondern wie sie sein könnte und manchmal auch ist, nur ziemlich selten. Wenn man immer nur die Realität abbilden wollte, dann müsste mindestens die Hälfte der Literatur einpacken.
Gruß Midian
 
R

Rose

Gast
Hallo Midian,

eine wundervoll, lehrreiche Geschichte. Ich habe sie sehr gern gelesen.

Blumige Grüße
Rose
 
K

KaGeb

Gast
Hallo Midian,

gute Geschichte, die angenehmen zu lesen war. Die Jungs erinnern mich ein bisschen an das Buch "Drachenläufer", was womöglich daran liegt, dass der Konflikt wie so oft gar nicht durch die Jungs selbst verursacht wird, sondern die stogmatische Denkweise der Eltern zugrundeliegt.

Ein paar kleinere Vorschläge hätte ich, deren Nutzung ich dir natürlich gern freistelle ;)

Aber es sind Ideen, wie es "MIR" besser gefiele. Andere Leser könnten dies natürlich gaaanz anderes sehen.

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Perikles war schon seit zwei Tagen verschwunden. Manolis war überzeugt, sie hatten ihn weggejagt, weil er zu viel fraß, zuviel bellte.
..., [blue]weil er zuviel gefressen oder gebellt hatte.[/blue]


Zornige Entschlossenheit stand in seinem Gesicht.
[red]So wie du es geschrieben hast, müsste man annehmen, dass (in der Handlung) noch jemand dasteht und die zornige Entschlossenheit in Manolis Gesicht sehen soll, die da "steht". Aber eigentlich ist ja nur Manolis da, d.h. wäre es IMHO besser, Manolis z.B. entschlossen dastehend zu beschreiben oder eben "er war wütend" "er war zornig und entschlossen" oder sowas (Nur so Gedankengänge)[/red]


Er hatte den Weg gewählt, den nur wenige gingen, denn er endete weit oben bei den verlassenen Schafhürden.
[red]"Den" bestimmt m.M.n. den (einzigen?) Weg, den wenige gehen, aber es gibt da sicher auch andere Varianten als der Weg zu den Schafhürden. IMHO vielleicht "einen" Weg wählen, den wenige gehen würden, und der weit oben bei den verlassenen Schafhürden endet.[/red]


Manolis hockte sich auf einen Stein, kramte verdrossen in seiner Tasche und holte einen krümelig gewordenen Käsefladen hervor. Gedankenverloren biss er ein Stück ab, kaute und stellte sich vor, wie seine Eltern ihn vergeblich rufen und alles nach ihm absuchen würden. [red]("Cut"=Neuer Zeilenanfang)[/red]

Geschieht denen recht, dachte er, denn Perikles ist wohl schon tot.
[red]
Das denkt vermutlich niemand: "..., denn Perikles ist wohl schon tot. Ich meine hier explizit "denn". Vielleicht sowas wie:[/red] [blue]Perikles ist bestimmt schon tot.[/blue]


Manolis schreckte hoch. Vor ihm stand ein magerer Junge mit großen Augen in einem harten Gesicht. Seine Haut war dunkelbraun gebrannt. Manolis wusste sofort, dass er eines der Kinder türkischer Arbeiter war, die hinter den Tabakfeldern wohnten. Kein griechischer Junge, der etwas auf sich hielt, wechselte mit denen ein Wort.
[red]Hier könnte man Spannungssegmente reinbringen, weil gerade in diesem (einen) Moment die Kulturen und Manolis Vorurteile aufeinanderprallen. Sooo passiert das nirgendwo wieder in deinem Text und sollte IMHO besonders hervorgehoben werden.
Idee:[/red]
[blue]Manolis erschrak, starrte den dürren Jungen vor sich an. Große Augen, hartes Gesicht und braune Haut.
Ein Türke, vermutete er, ein Bastard von den Arbeitern hinter den Tabakfeldern. Mit dem spreche ich nicht. Niemals. Kein Grieche tut das, der was auf sich hält.[/blue]

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So, erst mal Schluss. Hilft das insoweit? Hätte sodann noch Ideen für den weiteren Verlauf.

LG, KaGeb
 

Lesemaus

Mitglied
Hallo Midian, auch mir hat die Geschichte gefallen,obwohl mich der Perspektivwechsel, den auch Dominik schon angemerkt hat, auch störte. Ich würde konsequent aus der P. von Manolis erzählen.

LG Lesemaus
 



 
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