Hey StM!
Dann versuch ich mich mal daran, ein Echo auf Dein Mörikiade zurückzuwerfen!
Hier sieht man - ob mit oder ohne Krückstock - ziemlich direkt, dass mit diesem Gedicht die politische Bühne bespielt wird. Auch wer in politischen Farbenspielen eher unbewandert ist und z. B. die blaue Farbe nicht mit der AfD assoziiert (Zuschauer:innen aus der Schweiz oder Österreich oder politisch ganz uninteressierte Zeigenoss:innen könnten hiervon betroffen sein) wird doch wissen, welcher politische Raum in Brauntönen gehalten ist.
Und "goldene" vs. "schwierige" Zeiten, ein ominöser "Aufbruch", verloren gegangener "Biss", lange fehlender "Mut" angesichts der "Krise" - das sind alles Schlagwörter, die unzweifelhaft gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklungen und politische Verwerfungen anmoderieren. In der dritten Strophe dann nochmal der explizite Bezug zu den "braunen" Zeiten. Soweit ist das Themen-Feld des Gedichts also schonmal abgesteckt.
Dabei suggeriert der ganze Tonfall des Gedichts, dass wir es hier mit einer Lamentatio, einem Klagelied, zu tun haben. Wobei die Klage in wohltuend unzeigefingerhaftiger Weise kaum einmal in eine Anklage umschlägt und wo sie das doch tut, da zeigt die 1. Person Plural an, dass es durchaus eine Selbstanklage ist. Hier weiß es also kein ausgepichtes lyirsches Ich mal wieder besser als die ganzen Dummies drumherum, vielmehr sagt es nur die Lektionen auf, die es selbst schmerzlich gelernt hat (im Hinblick auf die gottlob um 988 Jahre verkürzten 1000 Jahre ist es natürlich keine Lektion aus eigener Erfahrung, aber doch aus bitterer Anschauung dessen, was diese Zeit an Verheerungen brachte).
Das mundet mir alles ganz gut.
Und wie es sich für ein politisches Gedicht (häufig) gehört, gibt es auch eine Art Lebensweisheit. Der Schluss bildet die deutliche Antithese zu dem (saudummen) Sprichwort "In Gefahr & Not bringt der Mittelweg den Tod": Vielmehr lautet die Devise des Gedichts wohl eher: "Alles mit Maß".
Und damit komme ich zu dem Punkt, der mir den Inhalt des Gedichts so erfreulich machte (wobei ich mich nicht völlig des Verdachts entheben kann, es sei hier womögich ein unbeabsichtigter Lucky Punch geglückt - Du magst mich da aber harsch korrigieren, lieber StM!).
Es stellt sich nämlich schon die Frage: Warum ausgerechnet Mörike? Warum muss also ein unpolitisches Frühlingslied des alten Meisters herhalten, um politische Unbill zu besingen? Klar... das blaue Band & die AfD - da gibt es eine Farbkongruenz, aber mit dem Argument hätte man auch "heute blau & morgen blau" oder "an der schönen blauen Donau" fürs politische Liedgut zweckentfremden können.
Zurück also zu dem Appell an die Mäßigung: Es gibt tatsächlich ein (ebenfalls unpolitisches) Gedicht von Mörike, welches "Alles mit Maß" heißt. Und unerwarteterweise beschert uns dieses Gedicht eine polemisch nutzbare Farbenspielerei, wenn der Dichter dort verkündet: "[...] er schmeckt mir nicht mehr wie sonst, der bräunliche Schweinsfuß [...] Ei so hole der Teufel auf ewig die höllischen Schweinsfüß!".
Et voilà: Durch die Hintertür sind wir doch mitten im Feld einer klassischen Pasquille samt Argumentum ad hominum gelandet. Nur Klage & keine Anklage ... von wegen!
Ist das erlaubt? Und klug? In einer Debatte: Nein & nein! In einem Gedicht: allemal. Da geht es nicht um Überzeugungsarbeit, denn kein Mensch bildet sich heutzutags seine Meinung anhand einer Gedichtlektüre, da geht es um die gute alte Funktion des Dampfablassens.
Tja... ein langer Sermon... so kennt man mich... so [passendes Verb einsetzen] man mich.
Jetzt bliebe noch auszuführen, was mich in der Form alles stört... da nehm ich aber nochmal einen separaten Anlauf.
LG!
S.