Kapitel 2 – Daves Geschichte
David, oder Dave, wie ihn alle nannten, hatte eine Mordswut im Bauch. Schon seit über einer halben Stunde quasselte Dr. Möller, der Psychologe des Waisenheims auf ihn ein und versuchte, ihn zu überreden, auf seine Fragen zu antworten. Aber Dave wollte nicht mit ihm reden. Er wollte mit niemandem reden, sondern nur allein sein, in Ruhe gelassen werden. Er hasste diese Gespräche mit Dr.Möller, die zwar immer in derselben Einseitigkeit verliefen, aber ihn dennoch nervten. Er hatte nichts zu sagen. Was denn auch. Fast ein Jahr war es nun her, dieses tragische Erlebnis, das sein Leben von einer Sekunde auf die andere total veränderte. Und dennoch träumte er fast jede Nacht den gleichen Traum. Nein, es war kein wirklicher Traum. Es war eher ein Film, der sich immer und immer wiederholte. Nie war etwas anders oder verblasste etwas in diesem Film. Jedes Bild, jedes Geräusch, jedes Gefühl war immer exakt identisch. Er konnte sogar noch den Gestank des Bluts, den beißenden Geruch des Rauchs wahrnehmen.
Vor gut einem Jahr war er unterwegs gewesen, mit seinen Eltern und seinem Bruder Steve, der ihn noch kurz vor dem alles verändernden Moment geärgert hatte, worauf Dave ihn einen Blödmann genannt hatte. Dave bereute noch heute, dass dies die letzten Worte waren, die sein Bruder von ihm zu hören bekam. Als Dave sich von ihm abwendete und seinen Blick wieder nach vorne richtete, sah er nur noch ein gleißendes Licht, das sich nur wenige Meter von ihnen entfernt befinden konnte. Er hörte noch seine Mutter schreien, ohne es zu verstehen. Es war wie ein Schrei, der nicht mehr in der Lage war, Worte zu bilden, sondern nur noch ein schrilles Etwas. Dann hörte er schon die Reifen ihre Autos quietschen, der Wagen schlingerte, alle wurden mit großer Wucht nach vorne gepresst. Dave spürte, wie ihn diese ungeheuere Kraft nach vorne drückte und gleichzeitig der Sicherheitsgurt versuchte, ihn in seiner Position zu halten. Und dann passierte es. Ein ohrenbetäubendes Geräusch, ein Krachen, als würde man Hunderte von trockenen Ästen gleichzeitig mit großer Wucht zerschmettern, Klirren von zerberstenden Scheiben, sich überschlagende Schreie, der Wagen schien plötzlich zu fliegen, ein kurzer Moment der absoluten Stille und dann ein infernalischer Krach, der ihm durch Mark und Bein ging und schier endlos war. Als ihr Auto schlussendlich durch den Aufprall an einem Baum zum Stehen gebracht wurde, war Dave schon bewusstlos.
Als er wieder zu Bewusstsein kam, langsam die Augen öffnete, glaubte er noch immer im Auto zu sitzen. Bis er erkannte, dass dies kein Auto war, sondern ein kleines Zimmer und er in einem Bett lag. Er versuchte, sich aufzurichten, ganz langsam, schaffte es aber nicht. Ein stechender Schmerz im Rücken hielt ihn davon ab. So versuchte er sich liegend einen Eindruck von seiner Umgebung zu verschaffen. Als er nach oben sah, erkannte er eine Flasche, die an einer Art Galgen hängend, hing. In ihr war eine durchsichtige Flüssigkeit und ein dünner Schlauch führte von der Flasche zu seiner rechten Hand. Er musste in einem Krankenhaus sein. Ja, natürlich. Langsam kam die Erinnerung an diese furchtbaren Momente zurück, die er vor seiner Bewusstlosigkeit erlebt hatte. Sie hatten einen Unfall gehabt. Vielleicht war sein Vater eingeschlafen und von der Fahrbahn gekommen, oder er musste einem Auto ausweichen. Ja, so musste es gewesen sein. Dave entschloss sich zu überprüfen, wie sehr er verletzt war. Er versuchte ganz behutsam sein rechtes Bein zu bewegen. Er zog es zunächst an und wartete ängstlich darauf, irgendwann vor Schmerzen aufhören zu müssen oder es vielleicht gar nicht mehr zu spüren. Aber nichts von alledem. Es gelang ihm problemlos, das Bein zu drehen, anzuwinkeln und hoch zu halten. Voller Freude begann er sofort mit der Untersuchung des linken Beins und siehe da, auch das war kein Problem, auch wenn er einen leichten Schmerz am Oberschenkel spürte. Auch die Arme ließen sich ohne Anstrengung bewegen. Dave bemerkte zwar einige blaue Flecken und ein paar Schürfwunden, aber das störte ihn nicht weiter. Er hatte sich schon so oft weh getan beim Fahrradfahren, dass ihm das nichts ausmachte. Das würde verheilen. Er begann sein Gesicht abzutasten, aber soweit er es feststellen konnte, hatte er auch hier keine schweren Verletzungen. Dave atmete erleichtert auf. Lediglich der stechende Schmerz zu Beginn seiner Eigenuntersuchung machte ihm noch etwas Angst. Gerade als er versuchte, sich auf die Seite zu drehen, um besser mit der Hand den Rücken abzutasten, öffnete sich die Tür. Eine Krankenschwester kam herein und lächelte ihn an. „Na, junger Mann, wie geht es Dir?“ fragte sie. Dave wollte ihr antworten, aber erst jetzt merkte er, wie ausgetrocknet sein Mund war. Und so nickte er ansatzweise mit dem Kopf, so als wolle er sagen „Ganz gut soweit.“ Die Krankenschwester schien ihn zu verstehen und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. Dann nahm sie ein Glas mit einer bräunlichen Flüssigkeit und führte es an den Mund von Dave. „Trink ein wenig. Das wir dir gut tun.“, sagte sie aufmunternd zu ihm. Kamillentee. Dave roch es sofort. Das war dieses scheußlich schmeckende Getränk, das ihm seine Mutter auch immer verabreicht hatte, wenn er krank gewesen war. Dave hasste es. Aber sein ausgetrockneter Mund ließ ihn letztlich den Mund öffnen und ein wenig an dem Glas nippen. Auch wenn ihn der Geschmack fast ekelte, trank er noch mehr davon. Erst jetzt spürte er, wie durstig er war.
„Wo bin ich? Was ist passiert? Wo sind meine Eltern? Wo ist mein Bruder?“ Aus Dave sprudelten die Fragen nur so hervor, jetzt wo er wieder in der Lage war, zu sprechen. Die bisher freundliche Miene der Krankenschwester begann sich schlagartig zu verändern, als Dave seine Fragen gestellt hatte. Doch bevor sie Dave antworten konnte, öffnete sich abermals die Tür und ein Mann in einem weißen Kittel trat ein und kam zu ihnen. „Hallo Dave, ich bin Dr.Kulka.“ stellte er sich vor. „Hallo“ antwortete Dave wortkarg. Der Doktor nahm seine Hand, fühlte seinen Puls und begann ihn zu untersuchen. Als Dave die Fragen, die er schon der Krankenschwester gestellt hatte, wiederholen wollte, begann der Arzt von sich aus zu reden. „Unfassbar. Du musst einen sehr guten Schutzengel haben. Außer ein paar Prellungen und Schürfungen und einer Stauchung der Halswirbelsäule fehlt dir nichts. Und wie es scheint, bist du hart im Nehmen, obwohl du erst dreizehn bist. Das ist wie ein kleines Wunder.“ „Was ist denn passiert? Hatten wir einen Unfall?“ fragte Dave, erleichtert über die Erkenntnis, dass er offensichtlich nicht allzu schwer verletzt war, auch wenn er nicht wusste, was eine Stauchung der Halswirbelsäule war, aber dennoch noch sehr ängstlich, weil er noch immer keine Ahnung hatte, was eigentlich geschehen war. „Ja, ihr hattet einen Unfall. Einen sehr schweren sogar. Euer Auto ist von einem anderen Auto angefahren worden, ihr seid von der Straße abgekommen, habe Euch überschlagen und seid letztlich gegen einen Baum gekracht.“ „Wie geht es den anderen, meinen Eltern und meinem Bruder?“ fragte Dave ängstlich, nachdem er erahnen konnte, was sich zugetragen hatte. Dr.Kulka schwieg einige Sekunden, bevor er sich ans Bett setzte und Dave ansah. „Deine Eltern sind gestorben, Dave. Sie waren auf der Stelle tot. Es tut mir sehr leid mein Junge. Sehr leid. Dein Bruder Steve ist vor ein paar Stunden auf der Intensivstation gestorben. Wir konnten ihn leider nicht mehr retten. Die Verletzungen der inneren Organe waren einfach zu stark gewesen.“ Es war totenstill, als Dr. Kulka seine knappe, sachliche Erklärung beendet hatte. Die Krankenschwester wendete sich ab und wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht. Der Arzt hielt noch immer Dave’s Hand und es war ihm anzumerken, wie schwer es ihm gefallen war, Dave die Wahrheit zu sagen. Doch davon bekam Dave nichts mehr mit. Seit Dr.Kulka ihm erzählt hatte, was seinen Eltern und seinem Bruder geschehen war, starrte er nur noch mit leerem Blick in die Augen des Doktors. Es war keinerlei Ausdruck in diesem Blick zu erkennen. Er schaute nicht wirklich in die Augen von Dr.Kulka, sondern durch ihn hindurch. Es schien, als habe er mit dem letzten Wort des Doktors sein Bewusstsein, seine Sinne, und erst recht sein Gefühl ausgeschaltet, um sich nicht der erdrückenden Wahrheit aussetzen und nicht darüber nachdenken zu müssen. Dies war der Moment, an dem Dave aufhörte zu sprechen. Zwar sollte er ein paar Wochen später damit beginnen, eine heftige Auseinandersetzung in sich selbst zu führen, aber für die Außenwelt sollte er für sehr lange Zeit nicht mehr erreichbar sein. Und er sollte noch viele Male dieses grauenvolle Ereignis in seinen Träumen wieder erleben. Er befolgte mechanisch und völlig apathisch die Anweisungen der Ärzte und Krankenschwester in den folgenden Wochen bis zu seiner Entlassung, aber wer immer ihn auch etwas fragte, erhielt keinerlei Antwort. Noch nicht einmal eine Geste. Dave war abgetaucht in eine andere Welt und gewährte keinem Zugang zu dieser Welt.
„Dave... Dave... hallo Dave, hörst du mich?“ Die laute und aufdringliche Stimme von Dr.Möllner holte Dave aus seinem Tagtraum zurück. Er hasste diese Stimme. Diese unnötigen Fragen. Was sollte es für einen Grund geben, Fragen zu stellen, gleich welcher Art, konnten sie doch allesamt nichts mehr ändern. Seine Eltern, sein Bruder, alle waren tot. Nur ausgerechnet er lebte noch. Dave hasste sich dafür, noch zu leben. Warum ausgerechnet er? Warum konnte er nicht auch tot sein, und zusammen mit seiner Familie ausgelöscht irgendwo ein paar Meter unter der Erde liegen. Es war viel schmerzlicher noch zu leben, wo doch die Menschen, die ihm etwas bedeutet hatten, nicht mehr da waren, als hier ein beschissenes Leben zu führen. Er vermisste sie alle so sehr.
Seinen Bruder, der zwei Jahre älter war, und immer sein großes Vorbild gewesen war. Klar hatten sie des Öfteren gestritten, aber dennoch waren sie immer gute Freunde gewesen. Sein Bruder hatte ihn nie ausgeschlossen, sondern ihm abends im Bett immer noch erzählt von seinem Tag und er ihm. Steve hatte ihm sogar von seiner ersten Freundin erzählt, von seinem ersten Kuss, auch wenn ihn das damals herzlich wenig interessierte. Sein Vater, den er immer für seine Klugheit und sein Wissen verehrt hatte. Ihn konnte man alles fragen, wie seltsam oder dumm es auch schien. Er konnte so wunderbar selbst komplizierte Dinge erklären. Einmal hatten sie zusammen mit Steve einen Nachtausflug unternommen und er hatte ihnen die Sternbilder erklärt und ihm die ungeheure Entfernung beschrieben, die zwischen der Erde und diesen unvorstellbar weit entfernten Sternen lag. Entfernungen, die sich Dave damals noch nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte, weil sie jede Vorstellung, die er damals von Entfernung hatte, bei weitem überstiegen. Und dennoch hatte er es alles ganz genau in sein großes Buch der Erkenntnis, wie es seine Mutter getauft hatte als sie es ihm geschenkt hatte, vermerkt. In seinen eigenen Worten. Doch am meisten fehlte Dave seine Mutter, denn sein Vater war sehr oft geschäftlich unterwegs gewesen, in fernen Ländern. Und so war seine Mutter sehr oft die einzige Ansprechperson im Haus. Aber es fiel ihr nicht schwer, diese verschiedenen Rollen auszufüllen. Soweit sich Dave erinnern konnte, war sie niemals wirklich schlecht aufgelegt oder traurig und wann immer sie jemand darauf aufmerksam machte, sagte sie nur: „So lange ich meine drei Männer habe, geht es mir gut.“ Basta. Selbst als Steve sich zu Beginn seiner Pubertät manchmal wie ein Elefant im Porzellanladen benahm, wich sie nicht von dieser Meinung ab. Nur vor ungefähr zwei Jahren, als die Eltern seiner Mutter innerhalb kürzester Zeit verstarben, war seine Mutter eine Zeit sehr wortkarg und traurig gewesen. Dave hatte das nicht verstanden, denn seine Großeltern waren nie sehr nett und liebevoll zu ihr gewesen, weil sie Dave’s Vater geheiratet hatte. Es hatte ihnen nicht in den Kram gepasst, dass ihre einzige Tochter einen Amerikaner heiratete, von dem sie so gut wie nichts wussten und der ständig unterwegs war. Sie hatten seiner Mutter damals ziemlich zugesetzt und ihr angedroht, sie nicht mehr zu unterstützen, was sie dann auch prompt in die Tat umsetzten, als sie sich kurzerhand entschloss, nach Amerika zu ziehen, um ihn, Dave’s Vater zu heiraten. Wie konnte seine Mutter um diese Menschen trauern, die nach der Hochzeit nichts mehr von ihr wissen wollten. Als Dave seine Mutter einmal darauf ansprach, nahm sie ihn fest am Arm, zerrte ihn in sein Zimmer, setzte ihn aufs Bett und sagte zu ihm „Frag so etwas nie wieder. Meine Eltern haben mich in diese Welt gebracht. Ihnen habe ich mein Leben zu verdanken. Warum soll ich also nicht um sie trauern. Wenn sie nicht gewesen wären, gäbe es weder mich, noch dich heute. Vergiss das nie, hörst du!“ Als sie mit ihrer Ansprache zu Ende war, Dave konnte sich noch genau erinnern, hatte er geweint und war ihr um den Hals gefallen. Er verstand zwar noch nicht wirklich, was seine Mutter ihm gerade erzählt hatte, aber allein die Art und Weise wie sie es getan hatte, genügten ihm zu erkennen, dass seine Gedanken völlig falsch gewesen sein mussten. Viel mehr erschreckte ihn die Heftigkeit, mit der ihn seine Mutter behandelt hatte und er befürchtete, sie werde ihn ab sofort anders behandeln als bisher. Aber nichts dergleichen geschah. Nach dem reinigenden Gewitter verhielt sie sich wie immer zu ihm. Dave konnte sich noch gut daran erinnern, wie erleichtert er damals darüber gewesen war. Eine Welt wäre für ihn zusammengebrochen, wenn sie ihn nicht mehr gemocht hätte. Sie war die bemerkenswerteste Person, die er bis dahin kannte. Sie war voller Lebensfreude, Energie und Güte. Und sie hatte unendlich viel Phantasie. Sie konnte ihm aus dem Stand zu einem beliebigen Stichwort eine Geschichte erzählen, in so bunten Farben und in wunderschönen Worten. Ihr verdankte er seine unersättliche Gier nach Büchern und der wöchentliche Besuch in der Bücherei war für beide wie ein abenteuerlicher Spaziergang durch geheimnisvolle und phantastische Welten. Und schon auf der Fahrt dorthin hatte ihr Dave immer wieder erzählt, welche Bücher er sich heute ausleihen werde.
„So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagte Dr.Möllner und verließ entnervt den Raum. Er kam und kam keinen Millimeter weiter. Schon fast ein Jahr war dieser Junge nun bei Ihnen und noch kein einziges Mal hatte er mit ihm gesprochen. Er hatte alles versucht und blieb dennoch erfolglos. Gewiss, dieser Junge hatte ein sehr schweres Los hinter sich, keine Frage, aber in dem Waisenheim, in dem er arbeitete, lebten fast nur Kinder und Jugendliche, denen das Leben schon sehr früh unsagbar viel zugemutet hatte. Aber dieser Junge war anders. Er war körperlich gesund, trieb viel Sport, seine Leistungen im Unterricht waren tadellos. Aber es schien, als würde er all das nur als ein notwendiges Übel erachten und über sich ergehen lassen. Er verfügte über ausgezeichnete sprachliche Fähigkeiten, seine Aufsätze waren immer von besonderem Ausdruck, wenn auch meist sehr düster. Aber all das schien sich auf einer ganz anderen Ebene seines Bewusstseins abzuspielen. An seine wahren Gedanken und Gefühle kam er einfach nicht ran. Und so beschloss er, einen Spezialisten, der ihm empfohlen worden war, zu Rate zu ziehen. Er jedenfalls war mit seinem Latein am Ende.
Dave stand auf und verließ den Gesprächsraum. Er hatte seine lästige Pflicht erledigt und eine halbe Stunde Gequassel über sich ergehen lassen. Für heute reichte es ihm und so beschloss er in den Hof zu gehen, um sich auf die Wiese zu legen und all diesem Geschnatter, Gerede und Gekreische um ihn herum zu entgehen. Der Hof war eigentlich kein richtiger Hof, sondern eine großzügige Anlage mit einem Spielplatz für die Jüngeren, einem Fußballplatz, ein paar Tischtennisanlagen und eben einer großen Wiese. Der Grund, weshalb diese Anlage bei allen nur „der Hof“ hieß lag in dem zwei Meter hohen, starken Zaun, der die Anlage umgab. Ein paar Jahre zuvor, als es diesen Zaun noch nicht gab, waren mehrere Jugendliche eines abgehauen und nie wieder gefunden worden. Diese Geschehnisse hatten einen großen Wirbel verursacht und es hatte Untersuchungen und Befragungen gegeben. Das Ergebnis war schlussendlich dieser Zaun gewesen. Dave legte sich unter einen großen Baum, der in einer Ecke des Hofs stand. Hierher zog Dave sich immer zurück, wenn ihm alles zuviel wurde. Meist war man hier ungestört und keiner laberte einen voll. Er schloss die Augen und döste vor sich hin, als er plötzlich von lautem Krach aufschreckte. Ein Kleinlastwagen war offensichtlich zu schnell gefahren und hatte es nicht mehr geschafft, die enge Kurve vor dem Waisnehim zu nehmen, sondern war mit quietschenden Reifen weiter gerutscht und geradewegs in den Zaun gedonnert und hatte ein großes Stück des Zaunes herausgerissen. Dave rannte sofort zu dem Auto hin, das nur wenige Meter von ihm endlich zum Stehen gekommen war. Der Fahrer stieg gerade aus, als Dave bei dem Fahrzeug ankam. Der Fahrer, ein älterer Mann, der eine Latzhose trug, wie ihn die Arbeiter getragen hatten, die vor kurzem ein paar Räume neu gestrichen hatte, nahm seine Kappe ab und kratzte sich nachdenklich am Kopf, so als wolle er darüber nachdenken, wie es zu diesem Unfall hatte kommen können. „Wie geht es Ihnen? Sind sie verletzt?“ fragte ihn Dave. „Ja ja, mir geht es gut.“, antwortete der Fahrer etwas kleinlaut. „Nur meinem Auto und dem Zaun geht es nicht so besonders. „ „Sie müssen dort zu dem Haus gehen. Dort fragen sie nach Herrn Waldner. Das ist der Direktor.“ schlug Dave dem noch immer verdutzten Fahrer vor. „Na gut, dann werd ich mich wohl mal auf den Weg machen.“ Der Fahrer schien zwar nicht begeistert zu sein von Dave’s Vorschlag, erkannte aber, dass es wohl keine andere Möglichkeit gab. Und so trottete er gemächlich davon und machte sich auf den Weg, diesen für ihn unangenehmen Vorfall zu melden. Dave schaute sich inzwischen das Auto und den Zaun genau an. Das Auto schien nicht allzu viel abbekommen zu haben. Bis auf ein paar Dellen und Schrammen schien alles soweit in Ordnung zu sein. Der Zaun hatte auf eine Breite von 3 Metern eine riesige Lücke und das fehlende Stück war durch die Wucht des Aufpralls weit weggeschleudert worden. Und jetzt sah Dave auch, dass offensichtlich beide Reifen gerissen waren und die Felgen eine ordentliche Delle hatten. „Das muss beim Überfahren des Bordsteins passiert sein“, murmelte Dave vor sich hin. Plötzlich erstarrte er in einer unnatürlichen Position, als er sich gerade hinunterbeugen wollte, um sich den Schaden an einer Felge genauer zu betrachten. Er stand wie eingefroren da, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, als ihm mit einem Schlag gewahr wurde, dass er soeben zum ersten Mal nach fast einem Jahr gesprochen hatte. Offensichtlich hatte der Unfall, auch wenn er in keiner Weise vergleichbar war mit den furchtbaren Geschehnissen des schrecklichen Unfalls, der seinen Eltern und seinem Bruder das Leben gekostet hatte, offensichtlich hatte dieser Unfall etwas in ihm bewirkt, was er sich nicht wirklich erklären konnte, aber dennoch eine starke Wirkung haben musste. Denn es hatte ihn ganz natürlich, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, den Fahrer fragen lassen, wie es ihm ging. Dave war total verwirrt und gelähmt. Er spürte wie er zornig wurde, als wäre es eine Sünde zu sprechen. Er wusste nicht was er tun sollte, denn er wollte auf gar keinen Fall ab sofort irgendwelche unnützen Gespräche mit Dr.Möllner führen oder den anderen alles erzählen müssen. Doch wenn der Fahrer eine Anmerkung machen sollte, dass er es gewesen sei, der ihn zu Herrn Waldner geschickt habe, dann wäre er verloren. Und so begann er wie aus einem Impuls heraus zu laufen, durch das riesige Loch im Zaun, die Strasse hinunter, immer weiter, bis er irgendwann die Stadt längst verlassen hatte und auf einem Feldweg erschöpft stehen blieb. Er hatte einen brennenden Durst und hätte er die Möglichkeit gehabt, er hätte mit Freuden ein ganzes Glas Kamillentee auf einen Zug ausgetrunken. Doch weder Kamillentee, noch der kleinste Tropfen Wasser war zu sehen. Und so ging Dave weiter, langsam aber unaufhörlich in der Hoffnung irgendetwas zu trinken zu finden.