Der Gassenläufer

Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht den gleichen Weg auf mich nehme. Er führt mich durch eine Gasse, die sich zwischen dem bloßen Mauerwerk der Stadt um ein paar abgeschürfte Ecken biegt. Sie ist recht schmal, doch sieht man an ihren Wänden hoch, will sie gar nicht mehr aufhören, sodass man glaubt, kein Regentropfen wird jemals bis auf das Pflaster fallen. Es ist nicht hell in der Gasse aber auch nicht dunkel, es ist weder Tag noch Nacht, es ist ein Zwielicht, das nicht zu bestimmen ist und auch keine Bedeutung hat. Ich gehe immer alleine auf meinem Weg. Begegnet mir ein Mensch, so senke ich mein Haupt, als verbeugte ich mich. Aber keineswegs weil ich mich vor ihm fürchte, o nein, es ist ein viel größeres Leid, für das ich mich schon seit meiner Kindheit schäme: Von Natur aus habe ich keine Nase im Gesicht und auch die Oberlippe fehlt mir zur Gänze. Ein rosa Schlund, der an seinen Rändern leicht entzündet ist, tut sich stattdessen zwischen meinen Wangen auf, durch den der Betrachter bis in meine Seele schaut, selbst wenn er es gar nicht wünscht. So ist es wohl verständlich, dass ich mein Gesicht vor den Menschen verberge, damit sich niemand über meinen Anblick beschweren möchte.
Es ist spät, nur wenige Menschen kreuzen meinen Weg. Ich gehe an dem Modelleisenbahngeschäft vorüber; der Laden ist seit Jahren geschlossen, an der Jalousie hängt der Staub in Fäden herab. Wenige Schritte weiter wird es hell, dort sehe ich eine junge Frau im Licht. Sie ist in einen schwarzen Lackmantel gehüllt, in der linken Hand hält sie einen Regenschirm, der leicht nach außen gedreht auf der Spitze steht. Auf freche Art trägt sie ein französisches Käppchen, ihr gelocktes Haar ist feuerrot wie die untergehende Sonne an einem Abend im Sommer. Sie lächelt. Es ist ein wehmütiges Lächeln, das alle Scheu von meinem Herzen nimmt. Ruhig schaut sie in meine Wunde. Ihr Blick dringt tief in mich ein, doch scheint er in meinem Innern nicht zu verbleiben, gläsern durchbricht er mich und sucht immer weiter, bis er sich in meinem Rücken verliert in einer anderen Welt. Ich weiß von dieser Welt, manchmal sehe ich sie in meinen Träumen, sie ist so leicht und unbeschwert aber unendlich fern meinem Leben. Ich schließe die Augen, wende mich ab und gehe weiter. Die Frau weiß von meinen Träumen, vielleicht wird sie mich einmal an die Hand nehmen und dorthin begleiten, vielleicht schon morgen. Und morgen werde ich wieder durch die Gasse gehen und mich vor den Menschen verbeugen, bis ich vor dem Licht stehen und hoffen werde - auf das Fräulein aus Plastik im Schaufenster der Boutique.
 
K

KaGeb

Gast
Hallo Gernot,

schön, mal wieder was von dir zu lesen.

Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht den gleichen Weg auf mich nehme.
"auf mich nehme" klingt (für mich) hölzern. "Gehe" wäre (für mich) passender.

Er führt mich durch eine Gasse, die sich zwischen dem bloßen Mauerwerk der Stadt um ein paar abgeschürfte Ecken biegt.
Hier steckt mir ein Logikfehler drin. Eine Gasse ist ja bereits ein gepflasterter Weg durch enge Häuser hindurch, also kann der "Weg" oben den Prot. nicht durch die Gasse führen. Er IST ja die Gasse.

Sie ist recht schmal [blue](Gasse assoziiert schon "schmal", wäre als hier doppeltgemobbelt)[/blue] doch sieht man an ihren Wänden hoch [blue](hier wieder der Hinweis, dass Gasse ein Weg ist, somit kann man "an ihren Wänden" nicht hochschauen.)[/blue]

Nur so ein paar Ideen, mehr nicht.
Insgesamt finde ich den Text gut - Entstellter schleicht täglich seinem Traum hinterher, der wohl immer Traum bleiben wird, wenn auch ein schöner.
Warum hast du das Ende aufgelöst? Das nämlich nimmt dem Text m.M.n. seine Würde. Lass es doch lieber im Nebel, den Leser spekulieren. Wenn man den Text intensiv liest - vor allem die Stelle, an der ihr Blick durch ihn hindurchgleitet - kommt man selbst auf die Lösung.

Gerne gelesen!

LG
 
schön, mal wieder was von dir zu lesen.
Die Freude ist ganz meinerseits, lieber Karsten, das angenehme Grün der Lelu fehlte mir schon lange ein bisschen.
"auf mich nehme" klingt (für mich) hölzern. "Gehe" wäre (für mich) passender.
Ursprünglich stand dort: "gehe", aber "vergeht" und "gehe" beißt sich ein wenig.

Hier steckt mir ein Logikfehler drin. Eine Gasse ist ja bereits ein gepflasterter Weg durch enge Häuser hindurch, also kann der "Weg" oben den Prot. nicht durch die Gasse führen. Er IST ja die Gasse.
Der Weg bedeutet - seine Lebensumstände - nichts verändert sich.
Es gibt schmale aber auch breite Gassen.
Hier möchte ich eigentlich nichts verändern.

Nachdenlich stimmst du mich mit dem hier:
Wenn man den Text intensiv liest - vor allem die Stelle, an der ihr Blick durch ihn hindurchgleitet - kommt man selbst auf die Lösung.
Hm, wenn, dann müsste das "Plastik" verschwinden, aber das "Fräulein" bleiben, denke ich.
Mal schaun, besten Dank dir.

Liebe Grüße
Gernot
 



 
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