Der gelähmte Verlobte

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Auch Tante Alma wohnte in einem der älteren Reihenhäuser der Straße. Ihres und das meiner Großeltern waren nicht aneinandergebaut, es führte zwischen ihnen ein zwei Meter breiter Durchlass in den Garten der Tante. Den Abstand der Gebäude empfand ich als bezeichnend für die Verhältnisse: Tante Alma wahrte ihn auch.

Ich glaube, Tante Alma war nur sehr weitläufig mit uns verwandt. Sie hielt sich tagsüber viel in ihrem großen und gut bestellten Garten auf. Den Blickkontakt vermied sie nach Möglichkeit, wenn einer von uns in ihrer Nähe erschien. Einen Gruß gab sie nur kurz und etwas muffig zurück und bückte sich gleich wieder über ein Beet. Sie trug stets weite, dunkle Sachen. Als ich Kind war, mochte sie in den Fünfzigern stehen.

Zu anderen Malen kam es doch zu Gesprächen über den Zaun oder vor den Häusern. Dabei wurden die üblichen Themen behandelt, das Wetter, Blumen und Früchte des Gartens, mein Wachstum. Sie blieb meistens ernst und erschien fast immer etwas bedrückt. Wo andere lachen, huschte nur eine Andeutung von Schalk über ihr Gesicht. Tante Alma brachte - das drückte alles an ihr aus - ein lebenslanges Opfer. Sie haderte nicht mit uns, doch vielleicht mit dem Schicksal. Sie war allerdings entschlossen, sich treu zu bleiben.

Ihre Geschichte war sehr einfach. In einer Kaufmannsfamilie in guten Verhältnissen aufgewachsen, lernte sie als heiratsfähig gewordene Frau einen ihr zusagenden jungen Mann kennen. Sie verlobten sich. Während der Verlobungszeit traten bei ihm erste Symptome einer allmählich fortschreitenden Lähmung auf. Tante Alma entschloss sich, die Verlobung nicht rückgängig zu machen. Sie heiratete ihn und wurde seine Pflegerin für Jahrzehnte. Fraglich, ob die Ehe vollzogen werden konnte. Zu meiner Zeit war der Gelähmte schon sehr lange nicht mehr berufstätig. Und Tante Alma sah aus wie eine in innere Glaubenskämpfe verwickelte katholische Nonne. Doch sie würde durchhalten, keine Frage.

Sie lud mich damals einige Male zum Fernsehen in ihr Haus ein. (Meine Großeltern schafften sich erst später ein Gerät an.) Es war ausgerechnet die Serie "Soweit die Füße tragen". Den Herrn des Hauses - übrigens ein gescheiter, freundlicher, wenn auch stark leidender Mann - trugen sie schon lange nicht mehr. Sie betreute ihn noch weitere Jahrzehnte dort im Haus, bis zu seinem Tod. Etwas später siedelte sie in ein Altenheim über. Ich stelle sie mir als Witwe so vor: ernst bis zur Verdüsterung und mit diskreten Anzeichen von Stolz und Befriedigung. Da war ein starker Wille gewesen, der alles überwunden hatte.
 
Zuletzt bearbeitet:

York

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Hallo Arno -

ich bin in der Leselupe eigentlich nur auf der Seite der Kurzprosa unterwegs, da mich sehr interessiert, was Kurzpsa ist oder sein könnte oder welches Bild ich mir davon mache (machen möchte).

Unter diesem Gesichtspunkt schaue ich mir Deine Geschichte vom gelähmten Verlobten an und habe einige Anmerkungen bzw. Fragen (an den Text und an die Kurzprosa).

Eigentlich passt der Text ist für mich nicht zur Kurzprosa, sondern er ist ein Auszug aus einer biografischen Erzählung und als solcher gut.

Für einen geschlossenen Kurzprosa-Text sollte er nach meiner Meinung mehr gestrafft sein und Hinweise, die für die Geschichte unwichtig sind (etwa, dass es das Haus der Großeltern war) gestrichen werden. Es war das Nachbarhaus - das reicht für diese Geschichte.

Dann bin ich immer vorsichtig mit Redensarten und Klischees und wenn ich die lese, habe ich zu denen ein distanziertes Verhältnis, wie: mit dem Schicksal hadern.

Und für mich ist der Satz "Als ich Kind war, mochte sie in den Fünfzigern stehen" merkwürdig. Dieses "stehen" stammt entweder aus einem Dialekt oder aus einer Sprache, die in der heutigen Umgangssprache nicht mehr gebraucht wird. Auch Aussagen wie: "die Ehe vollzogen" und "Den Herrn des Hauses" fallen mir hier auf. Damit übertrifft der/die Erzähler:in die Spießigkeit der Tante Alma. Es würde passen, wenn diese Aussagen von ihr kämen.

Ich denke, durch eine Überarbeitung und eine deutliche Straffung des Textes könntest Du ein gutes Bild dieser Tante Alma zeichnen und einen griffigen Kurzprosatext entwickeln.

Gruß
York
 
Danke, York, für die ausgiebige Beschäftigung mit dem kleinen Text. Zum Teil stimme ich dir zu, zum Teil nicht.
Eigentlich passt der Text ist für mich nicht zur Kurzprosa, sondern er ist ein Auszug aus einer biografischen Erzählung
Nein, es ist kein Auszug. Es ist eine isolierte Erinnerung. Das Ehepaar im Nachbarhaus wird sonst niemals behandelt.

Für einen geschlossenen Kurzprosa-Text sollte er nach meiner Meinung mehr gestrafft sein und Hinweise, die für die Geschichte unwichtig sind (etwa, dass es das Haus der Großeltern war) gestrichen werden.
Für die Einblicke in diese Verhältnisse ist die entfernte Verwandtschaft doch von Bedeutung, daher auch die Erwähnung der Großeltern sinnvoll. Ohne die verwandtschaftliche Nähe wäre die Vorgeschichte vermutlich nicht so bekannt gewesen.

Dann bin ich immer vorsichtig mit Redensarten und Klischees und wenn ich die lese, habe ich zu denen ein distanziertes Verhältnis, wie: mit dem Schicksal hadern.
Das kann man so sehen. Nur: Die Tante ist ja eine recht starre Persönlichkeit von anno dunnemals und ich finde, dass gerade ein Sprachklischee wie dieses recht gut zu ihr passt. Es entspricht ihrem Selbstbild. Dasselbe gilt auch für die zwei weiter unten von dir noch angeführten Beispiele. Man kann natürlich der Auffassung sein, diese Sprache sollte ihr dann bitte selbst in den Mund gelegt werden. Zwingend erscheint mir das jedoch nicht. Ich habe eben ein Bild im alten Stil gemalt. Eine ähnliche Technik wenden manchmal Filmregisseure an, wenn sie einzelne Sequenzen in Schwarz-Weiß, mit altmodischer Kleidung und längst nicht mehr benutzten Utensilien drehen lassen.

Dieses "stehen" stammt entweder aus einem Dialekt oder aus einer Sprache, die in der heutigen Umgangssprache nicht mehr gebraucht wird.
Habe dazu kurz recherchiert. Mein Gebrauch scheint tatsächlich sehr selten zu sein. Welcher deiner beiden Erklärungsansätze zutrifft, weiß ich nicht. Der Ausdruck erschwert jedoch nicht das Leseverständnis und es ist auch nicht mein Ziel, mich stets der Umgangssprache anzupassen.

Du darfst nicht denken, dass ich deine Vorschläge einfach ablehne. Sie scheinen mir sogar von beträchtlichem Sprachgefühl zu zeugen. Aber ich wollte hier (und bei einigen anderen Stoffen) etwas altertümlich Wirkendes produzieren. Ein belletristischer Text ganz in der Sprache von heute würde mir bei der Beschreibung einer ca. 1900 geborenen Frau als Stilbruch vorkommen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 
Nachtrag:

Habe mir jetzt noch mal den ganzen Text durchgelesen, York. Ja, da sind doch noch mehr leicht antiquierte Ausdrücke: Abstand wahren, gut bestellter Garten, sie mochte in den Fünfzigern stehen, zu anderen Malen, Früchte des Gartens, Andeutung von Schalk. Das ist alles dieselbe Sauce, salopp gesagt. Es ist wahrscheinlich nicht mal bewusst so gestaltet - der Text ist gut zwölf Jahre alt - , sondern mir einfach aus der Feder geflossen (aus der Feder geflossen, schreibt er!), indem ich mir die ältere Frau wieder vorstellte. Leicht archaisierend und insoweit wohl auch ein wenig ironisch, vgl. den Titel der Fernsehsendung. Wenn ich es noch mal anfassen sollte, würde ich das noch deutlicher herausarbeiten, vor allem in den letzten beiden Absätzen, habe nur gerade keine Lust dazu.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

York

Mitglied
Hallo Arno -

ja, dass mit dem "etwas altertümlich Wirkendes" kann man natürlich machen.

Wenn du schreibst:
Nein, es ist kein Auszug. Es ist eine isolierte Erinnerung. Das Ehepaar im Nachbarhaus wird sonst niemals behandelt.
Wo sonst niemals? Also ist es doch ein Auszug, oder?


Für die Einblicke in diese Verhältnisse ist die entfernte Verwandtschaft doch von Bedeutung, daher auch die Erwähnung der Großeltern sinnvoll. Ohne die verwandtschaftliche Nähe wäre die Vorgeschichte vermutlich nicht so bekannt gewesen.
Verwandschaftsverhältnsse können ja sein. Für den Inhalt dieser Geschichte ist es aber egal, ob die Tante die Nachbarin der Großeltern oder die der Eltern ist. Wenn du hier über die Erinnerungen eines Kindes schreibst, frage ich mich, wieso lebt das Kind bei den Großeltern? Oder ist das Kind zu Besuch bei den Großeltern?? Es entstehen beim Lesen Fragen nach einem größeren Zusammenhang, der aber für diese gewählte Kurzprosa nicht relevant ist, oder?!


In Bezug auf einen Kurzprosatext denke ich, dass eine Straffung des Textes gut ist und die Leser:innen so gefordert werden, Dinge zuende zu denken.
Als Beispiel:
Diesen Abstand der Häuser empfand ich als bezeichnend für die Verhältnisse: Tante Alma wahrte auch Abstand.
Hier denke ich, dass der Zusatz "Tante Alma wahrte auch Abstand" nicht notwendig ist und sogar zu viel ist, da er den Gedanken so auserzählt und damit ein bisschen langweilig macht. Ohne die Erklärung ist es genauso deutlich, die Leser:innen werden aber angeregt, den Gedanken selbst zu denken. Dies ist für einen Kurzprosatext interessanter (natürlich immer: meiner Meinung nach!)

Liebe Grüße
York
 
Wo sonst niemals? Also ist es doch ein Auszug, oder?
Nein. Es ist weder ein Auszug noch wird es von mir ein weiteres Mal irgendwo behandelt. Bitte keine Umkehrschlüsse konstruieren.

Für den Inhalt dieser Geschichte ist es aber egal, ob die Tante die Nachbarin der Großeltern oder die der Eltern ist.
Ich habe oben schon begründet, warum die Verwandtschaft an sich eine Rolle spielt und erwähnt werden sollte, und dann steht es mir frei, zwischen Eltern und Großeltern zu wählen. Dass Enkelkinder gelegentlich ihre Großeltern besuchen, soll vorkommen, oder? Du siehst hier ein Problem, wo gar keins ist.

[
Es entstehen beim Lesen Fragen nach einem größeren Zusammenhang, der aber für diese gewählte Kurzprosa nicht relevant ist, oder?!
Welche Kurzprosa habe ich denn gewählt?

Hier denke ich, dass der Zusatz "Tante Alma wahrte auch Abstand" nicht notwendig ist und sogar zu viel ist, da er den Gedanken so auserzählt und damit ein bisschen langweilig macht. Ohne die Erklärung ist es genauso deutlich, die Leser:innen werden aber angeregt, den Gedanken selbst zu denken. Dies ist für einen Kurzprosatext interessanter (natürlich immer: meiner Meinung nach!)
Meine Meinung ist das nicht.

Bei der Gelegenheit, York: Ich verwende selbst keine irgendwie gegenderte Schreibweise und schätze es auch nicht, wenn sie unter meinen Texten auftaucht. Es kann vorkommen, dass ich allein deshalb auf Beiträge nicht antworte.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Arno,

Die hier dargestellte unerschütterliche Treue, diese das Leben verdüsternde Aufopferung kann sich jemand Heutiger kaum noch vorstellen. Sie sind Teil einer vergangenen Zeit und damit bildet die von dir verwendete Sprache eine harmonische Einheit. Geschickt gewählt ist auch die Perspektive des Jungen aus dem Nachbarhaus, die das Leben seiner Tante Alma wie unter einem Brennglas erscheinen lässt. Habe die Geschichte sehr gerne gelesen.

Einige Kleinigkeiten würde ich ändern, ich habe die Stellen in deinem Text rot markiert.

Das Wort "Haus" kommt im Text viel zu oft vor, dabei geht es dir doch wohl um die Person der Tante und nicht um ein Haus.
Tante Alma wohnte im Nachbar
haus, es war wie die meisten in der Straße ein älteres Reihenhaus. Ihres und das meiner Großeltern waren nicht aneinandergebaut und es führte dort ein zwei Meter breiter Durchlass in Tante Almas Garten. Diesen Abstand der Häuser empfand ich als bezeichnend für die Verhältnisse: Tante Alma wahrte auch Abstand.

Tante Alma wohnte nebenan (oder: neben uns), es war wie die meisten in der Straße ein älteres Reihenhaus. Ihres und das meiner Großeltern waren nicht aneinandergebaut und es führte zwischen ihnen ein zwei Meter breiter Durchlass in Tante Almas Garten. Diesen Abstand empfand ich als bezeichnend für die Verhältnisse: Tante Alma wahrte auch Abstand.

Ich glaube, Tante Alma war nur sehr weitläufig mit uns verwandt. Sie hielt sich tagsüber viel in ihrem großen und gut bestellten Garten auf. Den Blickkontakt vermied sie nach Möglichkeit, wenn einer hinter unserem
Haus erschien.
So wie du das hier schreibst, ist unklar, WER erschien. Und ob das gerade hinter dem Haus war, ist wohl eher nebensächlich, oder nicht?

Ich glaube, Tante Alma war nur sehr weitläufig mit uns verwandt. Sie hielt sich tagsüber viel in ihrem großen und gut bestellten Garten auf. Den Blickkontakt vermied sie nach Möglichkeit, wenn einer von uns (oder: jemand von den Meinen oder: einer von meiner Familie) in ihrer Nähe erschien.

Sie lud mich damals einige Male zu Fernsehsendungen in ihr Haus ein.
Sie lud mich damals einige Male zum Fernsehen in ihr Haus ein. Dass es im Fernsehen Sendungen gibt, brauchst du nicht eigens zu betonen.

Gruß,


Ofterdingen
 
Vorab herzlichen Dank, Ofterdingen, für deine Mühe und die Vorschläge, die mir auf Anhieb einleuchteten. Ich werde sie alle oder zum größten Teil berücksichtigen, brauche dafür ein klein wenig Zeit.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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