Der Gestiefelte Kater

Matula

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Frau Fischer und Herr Puntigam (Lisi und Willi) sahen dem Gestiefelten Kater schon eine ganze Weile zu, wie er sich Passanten in den Weg stellte und ihnen Pralinen auf einem silberfarbenen Tablett anbot. Die Person in dem Kostüm, eher männlich als weiblich, eher alt als jung, trug eine Katzenmaske, rote Stiefel und einen blauen Hut mit Feder, den sie jedes Mal mit einer kleinen Verbeugung lüftete, wenn sich ein Fußgänger näherte. Dabei wurde ein grauer Hinterkopf sichtbar. Der stapfende Gang der Figur erinnerte mehr an das Rumpelstilzchen als an einen geschmeidigen Kater.

Das Paar saß in kurzer Entfernung in einem Gastgarten hinter einer Hecke aus Kübelpflanzen. Es langweilte sich, wollte aber nicht als gelangweiltes Paar vor den übrigen Gästen in Erscheinung treten. Da es kein anderes Thema gab als das vor ihrer Nase, nahmen sie mit dem Gestiefelten Kater vorlieb.

"Dass sich so ein alter Zausel noch zum Affen macht ...", bemerkte Frau Fischer und schüttelte missbilligend den Kopf. "Das ist doch eine Arbeit für junge Leute, für Studenten oder Schüler."

"Man nennt das Straßenakquise", belehrte sie Herr Puntigam. "Und wahrscheinlich reicht die Rente nicht. Er wirbt wohl für die Hofzuckerbäckerei 'Laubensack'. Hast du dort schon einmal eingekauft?"

"Na, bin ich verrückt?!" erwiderte Frau Fischer. "Solche Preise können sich nur die Touristen leisten. Einfach unverschämt, was die verlangen!"

"Also ich war vor vielen Jahren einmal dort, mit der Irene. Wir haben uns ein Viertel Kilo Bonbons gekauft und noch auf dem Heimweg verputzt. Die waren schon sehr gut."

"Aha! Mit der Irene also! Die hast du nach Strich und Faden verwöhnt und mich lässt du mit einem kleinen Eis verhungern! Bin ich dir vielleicht zu dick geworden?"

"Aber Lisi, das ist doch Jahre her. Wir waren damals alle noch schlanker ... und das 'Laubensack' weniger teuer ... glaub ich."

"Ausreden, Ausreden", maulte Frau Fischer. "Weißt du was! Wir gehen da jetzt hinaus und schnappen uns das Tablett mit den Pralinen! Was sagst du?"

"Das werden wir natürlich nicht tun!" erwiderte Herr Puntigam. "Wir sind doch keine Straßenräuber. Wir werden die Pralinen testen und dann entscheiden, ob wir welche kaufen wollen oder nicht. Vielleicht sind sie ja heute gar nicht mehr so gut wie damals."

"Gegenvorschlag, Willi: Wir gehen ins Geschäft, tun so, als ob wir etwas kaufen wollten und laufen dann mit dem Sackerl davon. Wir müssen nur vorher unsere Scooter vor dem Geschäft abstellen. Was meinst du? Das wird lustig!"

"Ohne mich! Was ist denn los mit dir?! Willst du in deinen Vierzigern noch wegen ein paar Naschereien von der Polizei gesucht werden?"

"Warum nicht", antwortete Frau Fischer kampflustig, "erstens ist vierzig das neue dreißig, und zweitens muss man diesen Läden hier einmal zeigen, dass sie keine Phantasiepreise verlangen dürfen!"

"Lisi, ich glaube nicht, dass sie diesen Zusammenhang herstellen werden. Du kannst ja im Geschäft sagen, dass alles viel zu teuer ist, dass niemand soviel Geld für Süßigkeiten ausgeben kann, außer gewisse Touristen, und dass sie bitte auch an die Einheimischen denken sollen."

"Du bist so fad! Nie willst du etwas riskieren, etwas Besonderes erleben, eine richtige Dummheit machen! Von mir aus verschenken wir das Zeug später an Kinder auf der Straße - falls du Angst um meine Figur hast."

Dem als "fad" bezeichneten Herrn Puntigam schwoll die Zornesader an der linken Schläfe. Nicht nur hatte ihn die Fischerin überredet, mit den albernen Tretrollern in die Stadt zu fahren und dann in diesen lähmenden Gastgarten gelockt, wo er von seiner Position aus nur sie und diesen Straßenakquisiteur sehen konnte, nun musste sie ihm indirekt auch noch sein Alter vorhalten. Das hatte natürlich mit der Erwähnung seiner Ex-Frau zu tun. Immer, wenn er ihren Namen nannte, gebärdete sie sich wie ein durchgeknallter Teenager. Dabei dachte er nur selten an Irene. Sie war einfach das Beiwerk aller seiner Jugenderinnerungen.

Auch Frau Fischer war verärgert, sowohl auf den Mann, der mit ihr am Tisch saß, wie auf den, der draußen vor der Hecke in seiner lächerlichen Verkleidung herumstiefelte. Er war so nahe, dass man ihn nicht übersehen konnte und manchmal, wenn sich ein Gespräch mit einem Passanten entwickelte, konnte sie einzelne Worte aufschnappen. Es war erbärmlich, dass sie und der Willi an einem Samstag Nachmittag nicht Besseres zu tun hatten.

"Als Kind war mir der Gestiefelte Kater unsympathisch", erinnerte sich Herr Puntigam, um das Thema zu wechseln. "Er ist heimtückisch, mehr wie ein Mensch, nicht wie ein Tier. Wie er den Zauberer dazu bringt, sich in eine Maus zu verwandeln und ihn dann frisst ... mir hat der Zauberer leid getan."

"Das schaut dir ähnlich! Er ist eben loyal zu seinem Herrn. Was ist daran heimtückisch? Am Ende wird er, soweit ich mich erinnere, sogar Minister."

"Schon, schon", räumte Herr Puntigam ein, "aber für seine Loyalität müssen andere bezahlen, zum Beispiel die Bauern und Holzfäller, die für ihn lügen und sagen müssen, dass alles Land dem Grafen gehört, weil sie sonst erschlagen werden."

"Na ja, der Zweck heiligt die Mittel", meinte Frau Fischer. "Am Ende sind ja alle zufrieden: die Bauern, der Müllersohn, der König und die Prinzessin. - Nur ich bin nicht zufrieden."

Herr Puntigam überhörte den Nachsatz. Als wollte er dem tieferen Sinn des Märchens unbedingt auf den Grund gehen, fuhr er fort: "Nein, nein, nein, das ist zu einfach. Diese Zufriedenheit ist nur eine scheinbare. Sie beruht ja auf einem riesigen Betrug. Der König bekommt einen Müller als Schwiegersohn, die Prinzessin einen falschen Grafen ... und der Zauberer wird brutal enteignet. Das ist doch eigentlich keine Geschichte für Kinder!"

"Ich bitt sich, beruhig dich! Willst du jetzt den Gestiefelten Kater anzeigen? Oder gleich die Gebrüder Grimm? Die Moral ist doch, dass man keinem Viech trauen kann, das plötzlich auf zwei Beinen geht. - Und jetzt könnten wir es auch dabei bewenden lassen."

"Dass du nie eine Sache zu Ende denken willst!" Herr Puntigam war nun richtig in Fahrt gekommen. "Der Gestiefelte Kater hat doch den Müllersohn sein Leben lang in der Hand. Ein Wort von ihm genügt und der ganze Schwindel fliegt auf. Dann ist das Schloss perdu samt der Prinzessin! Man kann sich wirklich nur wundern, wo da die Lehre für den Leser stecken soll. Der Müllersohn ist im Grunde genommen ein Taugenichts. In der ganzen Geschichte hat er eine einzige Idee, nämlich, sich Handschuhe aus dem Fell des Katers machen zu lassen!"

"Und trotzdem kriegt er die Prinzessin, so wie du mich gekriegt hast!"

Herr Puntigam überhörte die Frechheit und bedeutete dem Kellner, noch einen Großen Braunen zu bringen.

"Vielleicht muss man das Märchen ja historisch betrachten. Der Müllersohn hat doch ältere Brüder. Der älteste erbt die Mühle, der andere den Esel, während er bis auf den Kater leer ausgeht. Eine Primogeniturerbfolge also. Sinnvoll, wenn man Ländereien oder große Betriebe wie eine Mühle nicht zerschlagen will, aber verdammt ungerecht aus der Sicht der jüngeren Kinder, wenn du mich fragst."

"Ich frag dich aber nicht! Ich will gehen! Wieso hast du jetzt noch einen Kaffee bestellt ?!"

"Ja, ja, nicht so eilig. Ich glaube, ich beginne zu verstehen ... Das Märchen will die Erben trösten, die nicht zum Zug kommen. In den alten Zeiten mussten sie das Haus verlassen und sich als Knechte und Mägde verdingen. Davon hast du ja sicher schon gehört. Damit hatten sie keine Chance, zu Wohlstand zu kommen und einen eigenen Hausstand zu gründen. Verstehst du? Das Märchen will trösten und sagt: Trotzdem kannst du dein Schicksal in die Hand nehmen, ja selbst ein König kannst du werden."

Frau Fischer beobachtete schweigend, wie der Große Braune serviert wurde und Herr Puntigam die Rechnung beglich. Seit sie ihn kannte, tat sie alles, um keine Langeweile in der Beziehung aufkommen zu lassen. Dazu gehörte, dass sie einander nur an den Wochenenden trafen, neue Lokale ausprobierten, neue Filme anschauten und wie ein frischverliebtes Pärchen nur Augen füreinander haben sollten. Ihm gefiel die Idee grundsätzlich und im Besonderen, dass sie an diesen Tagen hohe Absätze und keinen Büstenhalter trug.

"Vielleicht sollte ich mir nächstes Mal solche Stulpenstiefel anziehen", sagte sie bitter, als der Kellner gegangen war. "Diese Overknees scheinen dich ja richtig auf Touren zu bringen!"

"Sei nicht kindisch. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, bei den Söhnen, die nichts erben! Das Merkwürdige ist nur, dass das Märchen nicht wie üblich mit Verstand und Tüchtigkeit tröstet. Es sagt nicht: Auch wenn du arm wie eine Kirchenmaus bist, aber fleißig und klug, kannst du es zu Ruhm und Wohlstand bringen. Das ist doch komisch - und andererseits sehr hellsichtig, fast schon prophetisch."

"Wir könnten später noch ins 'Ma Pitom' gehen. Ich hätte Lust auf Schinkenfleckerln."

"Stattdessen gibt es diesen fiesen Kater, eigentlich ein Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier. Genau genommen ...", Herr Puntigams Blick wurde glasig vom angestrengten Nachdenken, "benimmt sich dieser Kater wie eine Mutter, die dem Sohn alle Wege ebnet. Der Trost für den Jüngsten soll also offenbar die Mutterliebe sein, die über Leichen geht. Man fragt sich nur, was der Zuhörer ...".

In diesem Moment schlug Frau Fischer mit der Faust auf den Tisch, der die Schwingung sofort auf Herrn Puntigams volle Kaffeetasse übertrug und sie zum Überlaufen brachte. Im Gastgarten wurde es ganz still. "Schluss mit der Märchenstunde!" zischte sie und stürmte hinaus. Dann kam sie zurück, weil sie ihre Handtasche vergessen hatte.

Bevor sie auf ihren Scooter stieg, herrschte sie den Gestiefelten Kater an: "Sie sollten sich schämen - in Ihrem Alter!" Statt einer Antwort hielt er ihr das Tablett unter die Nase. Sie nahm eine Praline und steckte sie in den Mund. Danach ging es ihr besser.
 
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Aniella

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Hallo @Matula,

Du hast zu Beginn der Geschichte sehr schön (zur Orientierung für den Leser) die beiden Vornamen erwähnt. Leider finde ich sie nicht mehr im Text, dafür aber eine Verwechslung:

"Dass du nie eine Sache zu Enden denken willst!" Herr Fischer war nun richtig in Fahrt gekommen.
Bei "Enden" muss das letzte "n" weg und es ist wohl auch nicht Herr Fischer, der da die Nerven verliert. ;-)

Außerdem irritiert mich die kontinuierliche Großschreibung von "gestiefelt" im Titel und im Text.

Inhaltlich kann ich zwar folgen, aber die Aussagen über Frau Fischer empfinde ich als anmaßend und übergriffig (von ihr). Ich vermute, das soll so sein, wie eine Art Spiegel der Gesellschaft? Aus Frust in ihrer Beziehung stürzt sich die Frau auf jeden und alles, was ihr begegnet und versucht mit Gewalt (nur aus Spaß?), Unruhe zu stiften, sogar Straftaten zu begehen. Ich erkenne durchaus Parallelen, aber die Motivation erscheint mir nicht logisch.
Die Deutungsversuche des Herrn Puntigam zum ursprünglichen Märchen sind naheliegend. Er kann sie seiner Freundin aber nicht gut vermitteln.

Der Aussage, dass Märchen nichts für Kinder sind, stimme ich zu.

Ansonsten lässt mich die Geschichte ein wenig ratlos zurück.

Aber vielleicht deute ich die Geschichte ja verkehrt?

LG Aniella
 

Benn

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Hallo Matula. Humorvoller spitzbübischer Text. Erinnert mich an Loriot. Feiner Humor. Wohlgesetze Pointen. Nicht übertrieben. Fast wie aus dem richtigen Leben. Man sieht, spitzzüngige eifersüchtige Neckereien sind auch im Alter möglich. Intelligent mit einem Märchen und der Gegenwart verwoben. Gratuliere. Tolle Idee. Hat Spaß gemacht, zu lesen.
 

Matula

Mitglied
Hallo @Aniella !

Danke für den Hinweis auf den Tippfehler und die Verwechslung.
"Gestiefelt" habe ich groß geschrieben, weil ich "Gestiefelter Kater" als Eigenname auffasse, wie zB die "Gelbe Karte". Aber vielleicht liege ich da falsch.
Ich wollte einen Nachmittag im Leben eines Pärchens beleuchten, das zu viele Konzessionen macht. Dass die alten Märchen nichts für Kinder sind, würde ich bestreiten.

Schöne Grüße,
Matula
 

Matula

Mitglied
Hallo @Benn,

vielen Dank für Deine nette Beurteilung ! Freut mich, wenn Dich der Text erheitert hat und ja: Loriot gehört zu meinen Vorbildern. Er war einer der Großen. Die Fragen ist nur, ob junge Leute ihn heute noch verstehen.

Schöne Grüße aus Wien,
Matula

PS Vor lauter Werbung sieht man die Kommentare kaum noch ...
 



 
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