Der Gitarrist und die Senioren

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flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der Gitarrist und die Senioren
Einmal im Monat kommt der Gitarrist und Sänger T. W. in die Seniorenbegegnungsstätte. Bei seinem ersten Auftritt sagte er: „Ich bin nicht der Typ, der Konzerte gibt. Ich möchte mich lieber in die Mitte setzen und Sie können alles mitsingen“. Und er begann Volkslieder zu spielen, die jeder kennt. Gleich am ersten Tag wünschte man sich außerdem noch dieses oder jenes andere Volkslied und er spielte alles, was er kannte, war aber auch bereit, von uns zu lernen, z. B. „Und in dem Schneegebirge“ oder „Kleiner Kuckuck, kuku“.
Immer hatten wir sehr viel Spaß, denn er würzte seine Veranstaltung mit allerlei Witzchen. So lautet bei ihm die Mehrzahl von Kuckuck „Kuckücke“ und er weiß, dass tschitscheringrün der Berliner Ausdruck für lila ist.
Der „Jäger aus Kurpfalz“ hat bei ihm zwei weitere Strophen. Die eine singt er immer zu Beginn des Liedes – „Ein Jäger aus Kurpfalz, der reitet durch das Gänseschmalz und schießt die Grieben raus, gleich wie es ihm gefallt“ und die andere zum Schluss – „Ein Jäger aus Kurpfalz, der reitet durch das Gänseschmalz und bricht dabei den Hals, ein Jäger aus Kurpfalz“.
Er ist auch offen, wenn wir ein Lied umdichten wie „Es klappert der Müller mit seinem Gebiss, klipp, klapp, es wird alles teurer, davor hat er Schiss, klipp, klapp!“
Und er fügt der Vogelhochzeit völlig neue Strophen hinzu wie: Der alte Archäopteryx, der sagt dazu „Das war wohl nix!“
Bei seinem letzten Besuch sangen wir auch „Wo die Nordseewellen spülen an den Strand“. Da hatte er eigens eine hochdeutsche Variante ausgedruckt: „Wir sind Berliner, uns ist das Plattdeutsche nicht geläufig“. Allerdings haben wir in unserer Mitte mehr als die Hälfte Senioren, die aus Mecklenburg, Ostpreußen bzw Bremen stammen. Also wurde beschlossen, dass jeder, der plattdeutsch kann, es auch so singt und alle anderen sich an das Notenblatt halten. Es klang gar nicht schlecht.
Dann teilte er die Blätter aus von „Ho, unser Maat, der hat schief geladen“. Leider ist ihm beim Refrain ein Fehler unterlaufen. Anstelle von „Ho – jo, ahoi, wir segeln“ hatte er „Hoi o“ geschrieben und ausgerechnet unsere beste Sängerin mit der kräftigsten Stimme sang „Heu o“. Da brauste die kleine Dicke auf, die sonst immer den Notenwart macht: „Das heißt Ho jo! Seemänner haben mit Heu nischt am Hut!“ Sofort kam das Gegenargument: „Aber sie grüßen sich doch mit Ahoi, haben also doch Heu!“ – „Das is was ganz anderes, Ahoi is ne Mischung aus Aloha und Good bye, also ein weltumspannender Seemannsgruß!“ T. W. bemühte sich zu schlichten: „Die Seemänner nehmen immer Heu mit auf große Fahrt, nämlich für die Seepferdchen. Außerdem sollte man doch jedem sein Dings lassen, dann lässt der einem auch das Bumms!“
Allseits großes Gelächter.
Am Schluss gibt es immer Kaffee und Kuchen. Dabei können wir mit dem Künstler noch eine Weile über dies und das reden. Am häufigsten über weitere Sachen, die wir gerne mit ihm singen würden wie z. B. alte Schlager. „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“, „La Paloma“ und „Mädchen mit roten Haaren“. Alle unsere diesbezüglichen Wünsche hat er im Laufe der Zeit erfüllt, aber manchmal kommt auch jemand auf ortsgebundene Gassenhauer wie „Stoß dir man ja nich den Kopp an de Hochbahn“ oder „Links ne Pappel, rechts ne Pappel“. Beide kannte er überhaupt nicht. Das Lied von der Hochbahn, wo Berlin – Touristen auf die Schippe genommen werden, haben wir nie zusammenbekommen, aber das andere:
Links ne Pappel, rechts ne Pappel,
in der Mitte Pferdeappel,
Klotz, Klotz, Klotz am Been, Klavier vor m Bauch,
wie lang ist die Chaussee.

Links ne Eiche, rechts ne Eiche,
in der Mitte Pferdeleiche,
Klotz, Klotz, Klotz am Been, Klavier vor m Bauch,
wie lang ist die Chaussee.
Wir wandern, wir wandern,
von dem einen Ort zum andern,
wir wandern, wir wandern,
aber nur auf der Chaussee.

Links ne Lärche, rechts ne Lärche,
in der Mitte ziehn wir Ärsche,
Klotz, Klotz, Klotz am Been, Klavier vor m Bauch,
wie lang ist die Chaussee.

Links ne Linde, rechts ne Linde,
in der Mitte Hinternwinde,
Klotz, Klotz, Klotz am Been, Klavier vor m Bauch,
wie lang ist die Chaussee.
Wir wandern . . .

Links ne Tanne, rechts ne Tanne,
In der Mitte Bratenpfanne,
Klotz . . .

Links ne Kiefer, rechts ne Kiefer,
in der Mitte Ungeziefer,
Klotz . . .
Wir wandern . . .

Links ne Weide, rechts ne Weide,
in der Mitte Strich aus Kreide,
Klotz . . .

Links ne Eibe, rechts ne Eibe,
in der Mitte Fensterscheibe,
Klotz . . .
Wir wandern, . . .

Links ne Espe, rechts ne Espe,
In der Mitte fliegt ne Wespe,
Klotz . . .

Links ne Birke, rechts ne Birke,
in der Mitte Gott s Gewirke,
Klotz, . . .
Wir wandern . . .

Links stehn Bäume, rechts stehn Bäume,
in der Mitte Blütenträume,
Klotz . . .

Links ne Esche, rechts ne Esche,
in der Mitte Windelwäsche,
Klotz . . .
Wir wandern . . .

Links ne Buche, rechts ne Buche,
in der Mitte Spurensuche,
Klotz . . .

Links Akazie, rechts Akazie,
in der Mitte ich mit Grazie,
Klotz . . .
Wir wandern . . .

Links ne Fichte, rechts ne Fichte,
in der Mitte stehn Gewichte,
Klotz . . .
Links ne Palme, rechts ne Palme,
in der Mitte Haferhalme,
Klotz . . .
Wir wandern . . .
Links n Ahorn, rechts n Ahorn,
in der Mitte steht ein Nashorn,
Klotz . . .

Links Zypresse, rechts Zypresse,
Mensch, nu halt doch bloß die Fresse,
Klotz . . .
Wir wandern . . .

Als wir damit fertig waren, sagte die Kollegin, die den Kaffee eingegossen hatte: „Die Kanne ist noch fast voll. Wer will noch n Schluck? Wenn sich keiner meldet, gieß ich ihn weg!“
Da flüsterte T. W. mit weit aufgerissenen Augen: „Haben Sie das gehört? Hier wird der gute teure Westkaffee einfach weggeschüttet!“ Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Die Zeit, wo richtiger Kaffee sehr teuer war, war ja noch nicht allzu lange her. Manch ein DDR – Bürger kam nur dann in den Genuss, wenn er sehr gut verdiente oder hin und wieder ein Westpaket bekam. In seinem Fall war es so, dass nur seine Mutter eine Freundin hatte, die ein- oder zweimal im Jahr zum Westkaffee einlud.
Auf meine Sprachlosigkeit erzählte er mir, wie er zu seiner ersten Gitarre gekommen war. Sie hing im Schaufenster eines Radioladens, war aus naturfarbenem Holz mit zwei Palmen (wahrscheinlich mit dem Lötkolben gezeichnet) darauf und sollte 38 Mark und 50 Pfennig kosten. Der zehnjährige sparte monatelang jeden Groschen – er fuhr nicht mehr mit der Straßenbahn, verzichtete auf Eis und Kino und wenn er vom Vater Geld für Süßigkeiten bekam, steckte er es in seine Sammelbüchse. Endlich hatte er das kostbare Instrument und wollte sogleich drauflos spielen und den Rolling Stones und den Beatles Konkurrenz machen, aber irgendwie klappte es nicht. Er konnte anstellen, was er wollte, es war keinerlei Ähnlichkeit mit den verehrten Westkünstlern herzustellen. Zufällig kam der große Bruder eines Klassenkameraden vorbei und hat die Gitarre erst mal gestimmt . . .
 

Doska

Mitglied
Hallo Flammarion

Diese kleine Story ist dir wieder mal sehr gelungen. Oft habe ich schmunzeln müssen und sie war unterhaltsam informativ.

Liebe Grüße an dich
 



 
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