Der große Helge

WackyWorld

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Marlow fühlte, wie sich die Dämmerung, schwer wie eine dunkle Wolke, langsam herabsenkte.

Sie hatten sich am See getroffen, um ein wenig abzuhängen, er wäre gerne noch länger geblieben, hätte Lisa noch gerne länger in ihrem Bikini gesehen, aber sein Gesicht brannte von der Sonne und er spürte die Müdigkeit. Und er dachte an Helge. Schade, dass Helge nicht da war.

Vorher noch das Gesicht abkühlen.

„Kommst du, Marlow?“ Lisas Stimme ließ ihn zögern.

„Ich... ja, ich komme,“ murmelte er.

Das Gesicht abkühlen.

Er trat an das Wasser, beugte sich hinüber.

Er sah sich selbst umgeben von gesichtslosen Kreaturen auf der Oberfläche. Irgendwie sahen sie aus wie Kronkorken die unter einer Eisschicht lagen. Etwas Kaltes glitt seine Speiseröhre herunter.

„Hey Marlow, was ist los?“, Lisa’s Stimme klang jetzt wie ein fernes Rauschen. Fast so, als würde sie aus Texas per Funk mit ihm sprechen.

„Kommt her! Seht euch das an!“ Rief Marlow. Seine Stimme hallte über den See.

„Was ist los? Hast du was interessantes gefunden?“ Fragte einer seiner Freunde.

„Ich habe als ich mein Spigelbild sah hinter mir gesichtslose Leute gesehen! Die sahen aus wie Kronkorken.“

Die Gruppe fing an zu lachen. „Ja, wahrscheinlich holt dich gleich auch noch ne Meerjungfrau ins Wasser“ hatte er sich das wirklich nur eingebildet? Lisa legte ihre Hand auf seine Schulter. „Du bist wahrscheinlich einfach nur müde. Geh besser nach Hause, wir kommen gleich nach“

Marlow nickte Lisa zu und machte sich auf den Weg zur Brücke. Er war müde, ja, aber es war mehr als das. Es war, als ob die Dämmerung selbst ihn erschöpft hätte. Und dann sah er den alten Mann. Barfuß, in einer groben Leinenhose, sein silbrig weißes Haar breitete sich fächerförmig auf seinen schmalen Schultern aus. Aber es war die Stille, die von ihm ausging, die Marlow am meisten beunruhigte. Eine Stille, die schwerer wog als alles, was er je erlebt hatte.

„Bist du ein Sehender?“ Der alte Mann schaute Marlow an.

„Was meinen Sie?“ Marlow war verwirrt.

„Ich war es auch. Der, der sie gesehen hat.“ Der alte Mann zog eine Schachtel Zigaretten aus seinem Mantel. Er hatte eine Armbinde. Da stand komischerweise Schalke drauf.

„Was meinen Sie?“ Marlow spürte, wie die Worte in seiner Kehle kratzten.

„Sie wird deine Freunde holen.“ Der alte Mann sprach die Worte mit einer Art von Gewissheit aus, die Marlow Angst machte.

Dann zündete er sich eine Zigarette an.

„Wer ist sie?“

„Sie ist das Rauschen, das aus den Tiefen des Sees aufsteigt, die Verschlingerin der Ungläubigen, die Essenz des Wassers selbst.“

Marlow starrte den alten Mann an. „Du hast aber noch eine Chance, sie aufzuhalten“.
Er zog einen Dolch aus seiner Jackentasche und reichte ihn Marlow. „Du musst sie dort treffen, wo die Krone sitzt. Das ist der einzige Weg.“

Dann drehte sich der Alte um und ging.

Marlow machte sich auf den Weg zurück zum See, gezogen von einer unsichtbaren Kraft, die er weder verstehen noch leugnen konnte.

Und da war sie—Lisa.

Sollte er sie wirklich mit dem Dolch töten? Hatte der alte Mann Lisa gemeint? Dort, wo die Krone sitzt? Welche Krone?

Lisa stand im Wasser. Sie stand einfach da und schaute ihn an.

„Lisa?“, rief Marlow.

Sie schwieg.

Die Worte des alten Mannes hallten in seinem Kopf nach, füllten die Luft mit einer drückenden Schwere.

Was sollte er nun tun?

„Tritt näher!“, flüsterte sie, und der Klang ihrer Stimme war so betörend wie das Lied einer Meerjungfrau.

„Warum ich? Was ist mit den anderen?“, fragte er.

„Satans Werk. Und Gladbachs Beitrag.“

„Was meinst du damit?“, fragte Marlow.

„Der Beelzebub hat die Seelen geholt, ich wollte sie retten.“

Marlow begann zu zweifeln. Was, wenn der Alte gelogen hatte?

In einer Geste von erhabener Schönheit breitete sie ihre Arme aus, die Handflächen dem Himmel entgegenstreckend, als ob sie die Unendlichkeit berühren wollte. Für einen flüchtigen Augenblick schien es, als lausche das Meer ihrer stillen Anweisung, als würde es ihr seine Geheimnisse anvertrauen. Die Wasseroberfläche begann sich sanft zu kräuseln, als ob sie auf den unsichtbaren Impuls ihrer Handbewegung reagieren würde.

„Wer ist dieser Teufel, von dem du redest?“

„Er wandelt in unserer Mitte.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“ Marlow fühlte, wie die Unsicherheit in ihm wuchs, ein dunkler Nebel, der seine Gedanken verhüllte.

Plötzlich durchbrach eine Stimme die Stille in Marlows Gedanken: „Lass dich nicht von ihr verführen! Nutze den Dolch!“

Voller Panik zog er den Dolch raus.

Sie hielt ihm ein Bier hin.

Er köpfte es mit dem Dolchschaft und trank es auf Ex.

Im See war eine ganze Kiste.

Die Gesichter...

Er verstand.

Und trank.

Der alte Mann kam auch noch dazu und bot Lisa und ihm noch ein paar Mümmelmänner an. Die Schnäpse vom Discounter gingen runter wie Öl.

Nach dem Dreier hatte Marlow nen Bandscheibenvorfall. Er konnte kaum laufen, so sehr drückte der Prolabs.

Er dachte noch an den großen Helge auf dem Nachhauseweg. An den großen Helge.

Und daran, dass man immer Butter habe, wenn man eine Mutter sein eigen nannte.

Und dann nahm er den Dolch und schnitt sich einen Apfel zurecht.

"Hätte ich vorher proben sollen?"

Der alte Mann legte eine Hand auf seine Schulter : "Das habe ich auch nie gemacht, geprobt. Geh heim, Schalke spielt morgen gegen Mönchengladbach."
 
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