Der gute Neffe

lietzensee

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Der gute Neffe​

Sie hatten sich nicht gestritten, denn über Streitereien mit Mimi war Christian schon lange erhaben. Er zählte das Geld in seinem Portemonnaie. Abgegriffenes Leder, das man schon lange hätte ersetzen können, aber er war eben sparsam. Nein, wenn überhaupt, dann hatte ihn Mimi beleidigt. Wie kam sie darauf, dass er nicht mit Geld umgehen könne? Wütend drehte Christian den abgewetzten Stuhl.
Und vor allem, wie kam Tante Mimi darauf, dass sie ihm überhaupt noch Vorhaltungen machen durfte? Er war nicht mehr ihr kleiner Neffe mit Rotznase und ohne Taschengeld. Er war jetzt ein gestandener Mann, hatte einen Mietvertrag, einen Vierzig-Stunden-Job im Schlachthof und ein gebrauchtes Auto. Diese Schlachthofschichten gingen auf die Knochen. Er schaute auf das Geld, keine große Summe, es wirkte nur mehr, weil so viele kleine Münzen dabei waren.
Eigentlich, gestand Christian sich ein, war Mimi nicht das Problem, nicht das Hauptproblem, nicht was ihn eigentlich störte. Wie oft hatte er schon auf einem abgewetzten Stuhl gesessen und sich diese Gedanken gemacht.
Das eigentliche Problem war die endlose Wiederholung des Lebens. Kaum hatte er Miete gezahlt, forderte der nächste Monat die nächste Zahlung und die nächste Rate für den Wagen. Kaum war eine Schicht vorbei, fing schon wieder die Nächste an. Wenn doch alles nur nicht so grau und monoton wäre. Darüber wollte er sich nicht beklagen. Klagen machten das Leben nur noch monotoner, denn auch die Klagen würden ja immer wieder die Gleichen sein. Aber warum musste zu all dem dann noch seine alte Tante Mimi mit ihrem Eigenheim und ihrer Witwenrente über Sachen reden, von denen sie nichts verstand? Er könne nicht mit Geld umgehen. Was sollte er mit dem Geld denn machen? Schnaps kaufen? In einen Rentenfonds einzahlen? Das war beides nicht sein Ding und er konnte sich nicht vorstellen, dass sowas den Alltag erträglicher machen würde.
Irgendwie hatte alles eine Würze verloren. Alles war fade und grau. Die Wettervorhersage war grau. Seine Arbeitskleidung im Schlachthof war grau. Das Gesicht der Aldi-Kassiererin war aschfahl, fast, wie von einer Toten. Das war der Knackpunkt. Er brauchte Farbe im Leben. Christian griff zwei Euro aus dem Portemonnaie und steckte sie in den Schlitz. Sofort begannen sich bunte Kreise zu drehen. Ein Spiel für zwei Euro. So viel Farbe würde sein Budget ja noch verkraften können.
Ja, Tante Mimi, ich investiere halt in das, was mir Freude macht, würde er sagen, wenn sie sich das nächste Mal sahen. Oder vielleicht sollte er sie auch anrufen. Er gönnte sich ein Automatenspiel und sie ließ sich Tabletten verschreiben, so hatte jeder seine Strategie, um das Leben zu würzen.
Natürlich war ihm klar, dass es bei einem Spiel nicht bleiben würde. Gespannt betrachtete er die Rotation der bunten Scheiben. Jetzt noch nicht. Jetzt noch nicht. Genau jetzt! Er zog den Hebel und blickte gebannt auf das Ergebnis des Spiels. Ein kleiner Gewinn. Er verdoppelte den Einsatz. Sofort drehten sich auf den bunten Scheiben größere Zahlen.
Er war nicht mehr gelangweilt. Er war nicht mehr beleidigt. Die Münzen hielt er in der Faust und ein paar Scheine lagen zum Einwechseln bereit. Vielleicht musste er sich morgen doch wieder eine kleine Summe leihen. Was war schon dabei? Hätte er heute nicht gespielt, dann hätte er sich doch spätestens morgen wieder in die Spielothek gesetzt. Sein Gesicht spiegelte sich im Glas des Automaten und bunte Scheiben flackerten in seinen Pupillen. Es musste keinen Streit geben. Er war doch eigentlich ein guter Neffe. Als Gegenleistung könnte er Mimi anbieten, ihr den Weg zur Apotheke abzunehmen.
 



 
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