Der Häftling

Der Häftling

Nun, Herr Stragowin, die Entscheidung darüber wie es mit ihrem Leben weitergehen wird, liegt jetzt ganz bei ihnen.“ Der Richter sprach im strengen Ton, aus welchen Nikolaj einen Hauch von Mitleid vernahm. Er selbst konnte zu diesem Zeitpunkt sein Glück nicht fassen, denn es bestand tatsächlich noch eine Chance, lebend aus der Sache herauszukommen. Bei seiner Festnahme vor drei Monaten hatte er unweigerlich mit seinem Leben abgeschlossen. Doch jetzt gab es dieses Angebot und ein lukratives war es auch noch – nun, zu einer Verteidigung, stellte sich alles, abgesehen von der Todesstrafe, als lukrativ dar.

Aber Nikolaj war nicht dumm. Für die von ihm verübten Verbrechen, war die Todesstrafe das Geringste gewesen. Er selbst teilte diese Meinung nicht, doch wusste er, dass die Menschen um ihn herum so dachten. Deshalb musste etwas an diesem Deal faul sein, darauf hätte Nikolaj sein Leben gesetzt.
Im Gerichtssaal war es ruhig, als die dort versammelten auf Nikolajs Antwort warteten, wodurch das Knarren seines Stuhls durch die Stille kratzte, als er aufstand, um zum Richter zu sprechen. Er richtete sein Frack und sah sich einmal um, ehe er anfing zu reden. „Euer Ehren, bevor ich eine Entscheidung, über die mir restlich verbliebenen Lebensjahre treffe, ist es einem Mann wie mir erlaubt zu fragen, welche Tätigkeit mich als Zwangsarbeiter in Sibirien erwartet?“
„Sie dürfen“, kam die Antwort von einem Mann, der nicht der Richter war. Dieser sah zum Richter und beide Männer nickten sich gegenseitig zu, dann sprach er zu Nikolaj: „In Sibirien werden Sie unter den strengsten Auflagen Wasser transportieren. Sie werden in Isolation leben. Essen, Schlaf und Arbeit werden die Grundlage ihrer Existenz sein.“ Eine Entscheidung zu treffen, fiel Nikolaj hierbei nicht schwer. Er bedankte sich lächelnd beim Gericht, noch am Leben bleiben zu dürfen, wobei ihm die Auflagen ganz gleich waren. Im Gerichtsprotokoll stand später, dass der Verurteilte demütig und voll Dankbarkeit lächelte; hinter dieser Maske verbarg sich aber Nikolajs wahres selbst und das Lächeln hätte als hochmütig und listig bezeichnet werden müssen, denn sich selbst für den klügsten haltend, hielt er die um sich herum für dumm.

Am ersten Tag in Sibirern „in dieser gottverlassenen frierenden Hölle“, wie es Nikolaj beschrieben hatte, fand er sich mit einem Wärter auf einem Feld wieder. Gemeinsam standen sie zwischen zwei Brunnen. Während der Wärter Nikolaj seine Arbeit erklärte, hörte dieser die anderen Häftlinge. Sie stöhnten, sie fluchten und lachten gelegentlich, wobei Nikolaj auch zum Lachen zumute war. Zu seiner Überraschung musste er, genauso wie es abgemacht wurde, Wasser transportieren.
„Sehen Sie den Brunnen links?“, fragte der Wärter. Keine Antwort. „Sehen Sie den Brunnen rechts?“ Keine Antwort. „Wie auch immer, die sind nicht zu übersehen. Ihre Aufgabe ist es, Wasser aus dem einen in den anderen zu befördern. Jeden Tag. Hin und Her. Bis Sie irgendwann Tod umfallen.“ Nikolaj fing an zu lachen. „Und was ist mit den anderen, was machen die?“
„Soweit ich weiß“, sagte der Wärter, „schlagen die Steine. Für irgendeine eine Schule, die hier in der Gegend gebaut werden soll.“
„Dann bin ich noch gut weggekommen, oder? Wären Sie lieber an meiner Stelle oder an deren Stelle?“
„Weder noch. Ihr seid nämlich alle am Arsch!“, antwortete der Wärter.

Die Überzeugung das beste Los aller Insassen gezogen zu haben, hielt nicht lange. Etwa ein Jahr nach dem Haftantritt fingen die Klagelieder an und Nikolaj traf die Töne wie kein zweiter. Dabei wusste er nicht einmal, weshalb er sich beschwerte. Alles was er dadurch erreichte, war die innere Unordnung in eine Ordnung zu bringen, aber seine Situation änderte sich nicht, und weil die Ursache der inneren Unordnung seine Situation war, endete er damit, sich bloß im Kreis zu drehen, wodurch seine Klagen immer haltloser wurden. Wo er sich anfangs noch wegen des unerträglichen Gestanks oder dem schlechten Essen beschwerte, fing er jetzt damit an, einen heftigen Streit mit dem Wärter anzufangen, nur weil ihm das Grau der Zelle zu grau war.
Einzig durch seine Aufenthalte im Krankenflügel, welche durch die Schläge der Wärter verursacht wurden, bekam Nikolaj Abwechslung und dadurch Ruhe in seinem Leben. Dort durfte er aber nicht länger als zwei Tage bleiben, eine Anweisung, die vom Personal strengstens befolgt wurde.

Einmal ging Nikolaj Stragowin zu einem Wärter. An vereinzelten Stellen seines Kopfes waren ihm büschelweise die Haare ausgefallen und wann er das letzte Mal geschlafen hatte, das wusste er selbst nicht. Er ging zum Wärter und fragte: „Also, die anderen Häftlinge schlagen Steine für eine Schule, die gebaut werden soll, richtig?“ Der Wärter nickte. „Und ich? Welchen Zweck hat meine Arbeit? Welchen Zweck hat es, dass ich Wasser von A nach B transportiere? Wasser, das nicht einmal getrunken wird. Das ist die sinnloseste Beschäftigung, die mir jemals aufgetragen wurde!“ Der Wärter zog die Schultern hoch und neigte seinen Kopf leicht nach rechts. „Diese Frage haben wir unseren Vorgesetzten auch gestellt, aber wir wurden daran erinnert, dass wir dafür ausgebildet wurden, Befehle zu befolgen und keine Fragen zu stellen.“ Nikolaj musste die Antwort so hinnehmen.

Zwei Jahre später, das heißt im dritten Jahr seiner Haft, hatte sich Nikolaj Stragowins physischer und psychischer Zustand so sehr verschlechtert, dass er von der Arbeit freigestellt wurde. Er stand am Rande des Wahnsinns. Dadurch, dass die Brunnen alles waren, womit er sich beschäftigen konnte, diese aber vollkommen bedeutungslos waren, hatte er es zuglassen, dass er den Bezug zu seiner unmittelbaren Realität verlor. Vergewaltigungen und Morde waren, seitdem er zurückdenken konnte, die Quelle seiner Freude gewesen. In diesen Momenten fühlte er sich lebendig, mächtig und allen anderen Menschen überlegen. Da war zwar stets die Stimme in ihm, die ihm sagte, dass seine Taten Selbstsüchtig waren. Doch sah er darin keinen Grund aufzuhören, zum einen, da diese Stimme sehr selten zu ihm sprach und zum anderen, weil er nicht an Gerechtigkeit glaubte. Weder irdische noch himmlische Gerechtigkeit.
Dabei gab es ein Hintertürchen, für das sich Nikolaj bewusst gegenentschieden hatte. Selbstmord war seiner Ansicht nach ein absolutes Tabu. Es war nichts Religiöses. Einzig die Vorstellung sein eigenes Opfer gewesen zu sein, war für ihn unannehmbar. Nikolaj ließ es lieber zu den Verstand zu verlieren, um mit seiner Realität leben zu können.

Womit Nikolaj Stragowin Bekanntschaft gemacht hatte, war etwas, dass sich jenseits von Gut und Böse befand, jenseits von Richtig und Falsch, jenseits von Leben und Tod, und dieses Etwas war das Nichts. Das Nichts, ein Ort, an dem es weder ein Oben noch ein Unten gab, genauso wenig ein Links oder ein Rechts. Nikolaj wusste, dass die Hölle ein Paradies im Vergleich zum Nichts war. Er hatte nicht an Gerechtigkeit geglaubt, aber jetzt sehnte er sich inbrünstig danach. Er sehnte sich so sehr danach, dass er es zu Handgreiflichkeiten mit den Werten kommen ließ, um die Schläge der Knüppel zu spüren; Wiedergutmachung erhoffte er sich leisten zu können, indem er anbot, ebenfalls Steine zu schlagen, aus denen dann die Schule gebaut werden sollte. Nikolaj sehnte sich so sehr danach etwas zu fühlen, ganz gleich was, er war bereit Qualen zu erleiden, solange er das Gefühl von Bedeutungslosigkeit loswerden konnte. Etwas war mehr als Nichts. Aber selbst dieses Etwas wurde ihm verwehrt und so gab es Nächte, in denen er im dunkelsten Winkel seines Kerkers saß und ununterbrochen „es ergibt keinen Sinn … es ergibt keinen Sinn … es ergibt keinen Sinn“ vor sich hin nuschelte.

„Es ergibt einen Sinn“, sagte irgendwann ein Mann, der sich neben Nikolaj Stragowin ans Bett gesetzt hatte. Nikolaj hatte ihn nicht hereinkommen hören und zuckte heftig als er die Stimme hörte. Der Mann griff nach der Milch, die auf Nikolajs Nachttisch stand und trank das Glas in einem Zug aus. Dann streichelte er Nikolajs Hand und sagte: „Nur durch einen Zweck kann etwas wie Sinn entstehen. Sie haben den Zweck ihrer Arbeit nicht gekannt, somit erschien Sie ihnen Sinnlos“. Als Nikolaj in das Gesicht des Mannes sah, erkannte er ihn wieder. Es war derselbe, der, an der Stelle des Richters, ihm geantwortet hatte und obwohl Nikolaj den Mann erkannte, sagte er: „Der Teufel … in Menschengestalt?“
„Nein, Herr Stragowin, nicht ich bin der Teufel, sondern Sie. Ich bin nur derjenige, der den Teufel gezähmt hat. Warum weinen Sie?“, sagte er und wischte Nikolaj die Tränen aus dem Gesicht.

„Sie haben es gesehen, oder? Sie haben das bodenlose Nichts erkannt und sind innerlich daran zerbrochen. Allein dafür verdienen Sie einen Orden. Sie haben der Menschheit, ganz besonders zukünftigen Generationen, einen wertvollen Dienst erwiesen.“ Der Mann stoppte plötzlich und sagte etwa für eine Minute nichts. Sein Blick wanderte willkürlich durch den Raum herum, dann sprach er weiter. „Diese Anstalt, die anderen Häftlinge und Sie auch. Nichts von all dem ist echt, vielleicht könnte man sagen, dass dies nichts weiter als ein Experiment ist. Wir mussten etwas herausfinden, bevor es zu spät sein würde. Was … Sie wollen wissen, was wir herausfinden wollten? Herr Stragowin, die Menschheit befindet sich inmitten eines Umbruchs. Heute ist der 20.12.1866 und das größte Machtorgan, dass die Menschen jemals erschaffen haben, schwindet dahin wie das Gedächtnis einer alten Frau. Der Glaube an eine Gottheit, wird, in der Form wie wir es kennen, bald nicht mehr zu stemmen sein. Wir, wir großen Menschen, müssen daher etwas finden damit ihr, ihr kleinen Menschen, weiterhin unter unsere Fittiche Schutz findet. Anhand ihres Lebens und das der anderen Häftlinge wollten wir die Auswirkungen testen, die sich ergeben, wenn einer streng nach der wissenschaftlichen Erkenntnis lebt und die anderen nicht. Daher konzipierten wird ihr Leben so, dass sie bestens versorgt wurden, aber dafür eine Arbeit zu verrichten hatten, an der es an Mehrwert fehlte. Die anderen wiederum, wurden schlechter versorgt, deren Arbeit jedoch, besaß etwas wie einen Mehrwert. Zumindest wurde es ihnen so gesagt.“ An der Stelle lachte der Mann. „Die Hauptsache aber ist, dass unsere These bestätigt wurde. Der Mensch braucht zum Überleben genug Nahrung, eine Beschäftigung, Sicherheit und noch etwas, dass ich gerne als Balsam bezeichne. Sehen Sie, der Balsam ist eine zartbittere Lüge, ein Endprodukt, dass nicht erreicht werden muss, füge dem Leben Balsam hinzu und du hast glückliche, zufriedene Menschen. Das ist meine Plicht. Aber, das Allerwichtigste hierbei ist, die Menschen dürfen nicht erfahren, dass sie belogen werden, sie müssen in dem Glauben bleiben, dass sie streng nach der Wahrheit leben, nur so können wir, wir großen Menschen, euch, euch kleinen Menschen, retten.

Im Volksmund heißt es, dass die Wissenschaft die Religion ersetzten wird, aber dazu wird es niemals kommen! Wenn es so kommt, wird jeder Mensch genauso wie Sie verkommen. Sie haben es selbst erlebt, es war wider ihrer eigenen Natur streng nach der Wahrheit zu leben. Der Mensch kann unerträgliches Leid ertragen, solange ihm eine Rechtfertigung gegeben wird, fehlt ihm diese Rechtfertigung, ist selbst der kleinste Nadelstich zu viel für den Menschen. Daher müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen sich bald einen neuen Gott gebären, dass ist die Aufgabe der Mächtigen.“

Der Mann nahm Nikolajs Hand und drückte sie mit all seiner Kraft. Aber Nikolaj spürte nichts mehr. Nikolaj atmete, hier und da sagte er Mal was und seine Augen nahmen eindeutig etwas wahr, doch abgesehen davon, gab es keinen Unterschied zwischen ihm und einen Toten. „Herr Stragowin“, die Stimme des Mannes hörte sich jetzt wuchtig an, fast so, als wollte er mit seinen Worten etwas Unumstößliches umstoßen. „Dem Menschen stehen drei Wege offen: Entweder, der Mensch lebt streng nach der Wahrheit und er erfährt unendliches Leid. Er leidet bis ins unermessliche, weil er sich für das Leid keine Rechtfertigung zurechtlegen darf. Ein anderer wäre, dass von oben aufgetragene Balsam, als Notlüge zu akzeptieren und zu verstehen, dass das Leben, nur durch eine Rechtfertigung erträglich sein kann. Nur in dem eine Lüge in die Zukunft platziert wird, findet der Mensch Freiheit und Glückseligkeit in der Gegenwart. Das ist der Zauber jeder Religion. Und zu guter Letzt der Freitod. Wäre der Mensch nur halb so mutig, halb so frei, wie er es von sich selbst behauptet, würde er immer den Freitod wählen.

So schließt sich der Kreis, Nikolaj Stragowin, und trotzdem liegt mir noch eine Sache auf dem Herzen. Nein, neben den drei Möglichkeiten, so glaube ich, gibt es noch eine vierte. Eine, die ein Mensch ohne moralische Vorurteile, ein Mann wie sie, der nach Lust und Laune gemordet hat, hätte wählen können … ist diese vierte Möglichkeit nicht mit der Erleuchtung gleichzusetzen? Nikolaj, war es den nicht möglich für Sie, ihr eigenes Balsam zu werden?“
 



 
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