Der Herr auf dem neunten Stock

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Hera Klit

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Sie hatten mich praktisch gegen meinen Willen zum Qualitätsmanager gemacht. Ich musste eine mehrwöchige Schulung beim TÜV in Frankfurt absolvieren und danach bekam ich die Aufgabe, das Qualitätsmanagement in unserer Firma einzuführen.

Alle anderen Mitarbeiter hassten das Qualitätsmanagement, weil sie von nun an ordentlich und nach Vorschriften arbeiten sollten und sie hassten mich, weil ich es im Namen des TÜV und im Auftrag unseres Chefs von ihnen verlangen musste.

Ich war der meistgehasste Mitarbeiter im Unternehmen.

Meine Frau fand es gut, dass ich jetzt tausend Euro Netto mehr hatte im Monat und bestellte mehr Kleider.

Ich hatte niemanden zum Reden und ich spürte mehr und mehr, dass ich nervliche Schlagseiten bekam. Meine Augen zuckten, wenn ich es am wenigsten wollte und ich musste ständig aufs Klo. Dauernd machte ich mir Sorgen, ich könnte mir den Hintern nicht richtig abgewischt haben, also ging ich wieder zur Toilette und wischte, bis es blutete.

Meine langen Klozeiten erregten langsam Unmut unter der Belegschaft.

Weil ich scheinbar irgendein Ventil brauchte, schlich ich mich nachts, wenn meine Frau schlief, in mein Arbeitszimmer und surfte im Internet. Durch Zufall entdeckte ich Travesta.de und meldete mich an. Warum war mir eigentlich gar nicht klar, zunächst.

Nachdem ich mir viele Profile von anderen angeschaut hatte, bestellte ich bei Amazon eine billige Perücke, einige Strumpfhosen, High Heels, einen Push-up-BH und Schminksachen und machte eines Nachts Bilder von mir in verschiedenen Posen und lud sie rauf.

Ich gebe zu, dass ich schon seit Jahren einen Hang zur Travestie hatte, den ich aber nur im Kleinen auslebte. Mal ein Höschen meiner Frau, mal ein BH, wenn sie einkaufen war. Kurz vor dem Spiegel und alles schnell wieder ausziehen.

Lange besuchte kaum jemand mein Profil. Ich versuchte mehrere Profilbilder.
Irgendwann hatte ich eins, das mehr Aufmerksamkeit erregte, dann meldete sich hin und wieder mal ein Mann und lobte meine Erscheinung. Da es immer jüngere Männer waren, die mich nicht interessierten, schrieb ich nur kurz höflich zurück oder gar nicht, wenn sie sehr jung waren.

So ging das etliche Monate und ich spielte schon mit dem Gedanken, mich abzumelden, doch da schrieb mich ein Herr aus der Schweiz an. Er fände mich total sexy und er wünsche sich schon lange eine intensive Beziehung mit einer Frau wie mir. Er war dreiundachtzig und sein Profilbild war beeindruckend männlich und Ehrfurcht gebietend.

Irgendwie verliebte ich mich sofort in ihn. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, ihn zu küssen und in seinen Armen zu liegen, als seine Frau.

Wir schrieben immer inniger miteinander, von gegenseitiger Liebe und von zärtlichen Küssen und sanften Streicheleinheiten.

Ich war immer ein Mann gewesen, der aktiv im Bett war und der sich anstrengte, es Frauen recht zu machen. Dass eine Frau mal mehr als mein Geschlechtsteil angefasst hat, daran kann ich mich nicht erinnern. Für sie hatte ich praktisch keinen Körper.

Jetzt schrieb mir ein Mann, er wolle mich von oben bis unten anfassen und streicheln und er wolle mich überall sanft küssen.

Ich brauchte einige Zeit, bis ich mich innerlich überhaupt bereitmachen konnte, solche Zärtlichkeiten zu empfangen. Von nun an duschte ich viel länger als früher und ich achtete auf Duschcremes die Haut sanfter und zarter machen und ich kaufte plötzlich Bodylotions und ich verwendete sie sogar regelmäßig.

Oft kam ich jetzt erst nachts um vier in das Eheschlafzimmer. Meine Frau schnarchte dann gewöhnlich, sodass ich kaum noch einschlafen konnte und um sieben musste ich raus.

In der Firma erschien ich nicht eben ausgeschlafen. Dort lief ich wie ein Schlafwandler herum und mir ist es heute schleierhaft, wie ich den Eindruck ein engagierter Qualitätsmanager zu sein, überhaupt aufrechterhalten konnte.

Im Grunde war es mir egal, denn am Tag führte ich meine Nebenexistenz und nachts am PC meine Hauptexistenz, in der ich ich sein konnte.

Über meine Lebensumstände schrieb ich meinem Schweizer Herrn nichts, wir hatten besseres auszutauschen.

Er fiel bei mir wahrlich nicht mit der Tür ins Haus, aber irgendwann wünschte er sich dann doch ein Bild meiner Pomuschi.

Ich weiß heute noch, wie ich vor Aufregung zitterte, als ich das Bild für ihn machte. Es sollte ja gut werden, ich wollte ihn nicht enttäuschen. Nicht auszudenken, wenn ich ihn verloren hätte. Das Bild sollte auch eher romantisch wirken, als pornografisch, denn wir liebten uns doch.

Mein Glück war perfekt, nachdem er mir schrieb, das Bild gefiele ihm über die Maßen und es hätte ihn sehr erregt. Er hätte sich sofort vorgestellt, sanft in mich einzudringen und mit mir intensiv Liebe zu machen. Als Beweis, fügte er ein Bild seines erigierten Penis bei.

Der war imposant, reif und er wirkte fordernd, aber trotz aller durchschimmernden Dominanz doch irgendwie auch sanft und geduldig. Geduld wünschte ich mir freilich, denn ich war doch noch völlig unberührt.

Sehnsucht, gepaart mit etwas Furcht, bestimmte von da an mein Gefühl, wenn ich mit ihm schrieb. Ich war hier der passive Teil der Beziehung, der empfangende, der sich hingebende, ich musste auf etwas Respekt und eine gute Behandlung hoffen.

Alles Gefühle, die ich bisher nicht ansatzweise gehabt hatte, aber ich fühlte, das sind die Gefühle, die ich von nun an überwiegend haben wollte.

Wir stellten mehr und mehr Überlegungen an, wie es möglich werden könnte, uns zu treffen. Er war Single, von seiner Seite gab es im Prinzip keinerlei Hürden.

Bei mir um so mehr. Ich war verheiratet und ich war in einem unseligen Job eingespannt. All das schrieb ich ihm dann doch einmal kurz. Ich wollte nicht, dass Lügen zwischen uns stehen.

Er zeigte Verständnis und er erklärte warten zu können. So gingen Monate ins Land.
Meine Frau ahnte nichts, nur meine ständige Unausgeschlafenheit störte sie schon.

Doch dann kam der Tag, an dem schrieb mir mein schweizer Herr, er müsse ins Spital und könne sich erst, nachdem er wieder zu Hause sei, bei mir melden.

Ich hörte bis zum heutigen Tag nichts mehr von ihm. Sein Profil blieb wie eingefroren zurück. Nachts betrachtete ich sein Bild. Es blieb stumm.

Bald war ich wieder ausgeschlafener auf der Arbeit. Auf Travesta schrieben mir manche jungen Männer, ich antwortete ihnen nicht und ich hatte auch keine Lust etwas Neues anzufangen mit irgendwem, deswegen schaute ich nur kurz tagsüber mal ins Profil.

Nachts lag ich neben meiner Frau und schlief. Ich liebte sie natürlich, nach wie vor.

Eines Tages bekam meine Frau eine schlimme Diagnose. Sie musste operiert werden.

Ich nahm mir viel Urlaub, auch unbezahlten, verbrachte ganze Tage im Krankenhaus, um an ihrem Bett zu sitzen und ich wollte sie nach besten Kräften in ihrer schweren Zeit unterstützen. Im Grunde war sie ja auch der einzige Mensch, den ich hatte, unsere Tochter rief kaum an.

Nach der Operation erklärte mir ihr Arzt, ich müsse mit ihr viel hin und her gehen auf dem Flur, sie mit Rollator, ich sie stützend, um den Heilungsprozess zu beschleunigen.

Ich tat mein Möglichstes. In der Firma warteten sie auf ihren Qualitätsmanager, mein Stuhl wackelte schon, aber meine Frau war mir jetzt wichtiger.

Bald fühlte ich mich sehr ausgelaugt, manchmal hatte ich so eine Art Gallenkolik mit stechenden Schmerzen in der rechten Bauchseite. Dann musste ich auf die Knie gehen und die Zähne zusammenbeißen. Ich habe deswegen nie einen Arzt konsultiert, heute sind diese Schmerzen selten.

Einmal stand ich im neunten Stock des Krankenhaushochhauses, auf dem meine Frau lag und schaute in den sonnengetränkten Weinberg hinüber, in dem auch eine romantische Hütte mit einer einladenden Ruhebank daneben zu sehen war.

Plötzlich stand jemand Links ziemlich nahe hinter mir und ich hörte eine tiefe, sanfte Stimme in mein Ohr sagen:

„Ja, auf dieser Bank sitze ich oft und gerne.“ Die Worte kamen von einem älteren Herrn, der mich mit freundlichen Augen ansah, als ich herumschaute. Vom ersten Augenblick fand ich ihn sympathisch und er erinnerte mich an meinen schweizer Herrn. Natürlich war er es nicht, aber ich hätte es zu gerne geglaubt. Am liebsten hätte ich mich nach hinten in seine Arme fallen lassen. Aber das konnte ich ja nicht riskieren.

In den nächsten Tagen trafen wir uns noch öfter an diesem Fenster und meist redeten wir nur über die schöne Aussicht auf den Weinberg, die Hütte und die Bank und über das tolle Sommerwetter.

Manchmal legte er eine Hand auf meine Schulter, wenn er mit mir redete und da durchlief es mich vom Scheitel bis zur Sohle. Dann dachte ich einfach, ja, das ist mein Schweizer, genauso sah er aus, genauso einfühlsam war er. Dieser Mann schien irgendwas an mir zu finden, das war offensichtlich.

Einmal sagte er: „Ich bin morgen Mittag wieder auf der Bank, vielleicht kommst du mal und besuchst mich, ich würde mich freuen.“ Er sagte du und das ging mir ziemlich tief rein. Diese kleine Respektlosigkeit zeigte mir, dass er bereit war, die Führung zu übernehmen.

Nachts, alleine im Ehebett, versuchte ich mir auszureden ein Mädel zu sein, um das geworben wird. Unsinn, das konnte doch nicht sein. Ich musste wohl verrückt sein.
Außerdem brauchte meine Frau mich jetzt.

Deswegen mied ich künftig das Fenster im neunten Stock und die Bank im Weinberg suchte ich schon gar nicht auf.

Heute bin ich verwitwet und ich denke oft an den Herrn auf dem neunten Stock, obwohl rein gar nichts passiert ist. Wie kindisch ich doch bin.
 

Heinrich VII

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Hallo Hera Klit,

ich habe deine Geschichte mit Spannung gelesen. Sie hat echt etwas Anrühriges.
Man kann sich sehr gut in den Protagonisten und seine einsame Position hinein versetzen. Du nimmst beim Schreiben anscheinend kein Blatt vor den Mund - was ich nicht als negativ empfinde. Musste stellenweise über die Unverblümtheit deiner Ausdrucksweise lachen.

Ich hatte niemanden zum Reden und ich spürte mehr und mehr, dass ich nervliche Schlagseiten bekam. Meine Augen zuckten, wenn ich es am wenigsten wollte und ich musste ständig aufs Klo. Dauernd machte ich mir Sorgen, ich könnte mir den Hintern nicht richtig abgewischt haben, also ging ich wieder zur Toilette und wischte, bis es blutete.
Dieser Absatz ist köstlich, da musste ich lachen. :)

Wie auch immer: Gern gelesen. ;)

Gruß Heinrich
 

Hera Klit

Mitglied
Hallo Heinrich, vielen Dank.

Versuche dich mal in die Situation hineinzuversetzen, dann wirst du feststellen, das ist gar nicht lustig.

Liebe Grüße
Hera
 

Heinrich VII

Mitglied
Hallo Hera Klit,

Versuche dich mal in die Situation hineinzuversetzen, dann wirst du feststellen, das ist gar nicht lustig.
Ich habe nicht über das Schicksal des Protagonisten gelacht, ich kann mich da druchaus rein versetzen. Gelacht habe ich an manchen Stellen des Textes über deine Ausdrucksweise. ;)

Gruß, Heinrich
 

trivial

Mitglied
Was mich irritiert, ist weniger das Explizite als die Art, wie das Subjekt zur Welt gestellt wird. Es scheint mir ein zeitgeistliches Muster zu sein: Nicht die Welt geht aus dem Subjekt hervor, durch Erkenntnis und Erfahrung, sondern die Welt – als äußere Ordnung – macht das Subjekt. Vielleicht bin ich darin anachronistisch, aber diese "spätmoderne" Perspektive erscheint mir strukturell bemerkenswert puritanisch.


Ich bin mir nicht sicher, ob hier eine bewusste Spannung des Textes angelegt ist – oder ob sich darin eine unbewusste normative Setzung zeigt, vielleicht sogar bei mir selbst

Liebe Grüße
Rufus
 

Anders Tell

Mitglied
Diese Geschichte erinnert mich doch sehr an »ABBA und Schubert« derselben Autorin. Der Held kommt über das Crossdressing nicht hinaus und versagt sich in beiden Fällen seine Fantasie mit dem älteren Mann auszuleben. Die erste habe ich noch mit Sternen gelobt, aber weitere Neuauflagen wie im Heftchen Roman brauche ich jetzt nicht mehr.
 

Hera Klit

Mitglied
Wohin soll denn ein Crossdresser deiner Meinung nach kommen?

In ABBA trifft Schubert, lernt er einen Herrn kennen und sie beginnen eine Beziehung. Mehr geht wohl nicht.

In diesem Stück stirbt sein Angebeteter, bevor sie Erfüllung finden.

Also, vollkommen unterschiedliche Geschichten.

Ja, meine Helden sind meist Transgender. Im Tatort ist der Held gewöhnlich ein Kommissar, trotzdem schauen Woche für Woche Millionen, obwohl das Thema zudem immer Mord ist. Ich schaue mir das seit zwanzig Jahren nicht mehr an. Ich könnte jetzt hunderte Beispiele aus der Literatur- und Filmgeschichte aufzählen, in denen es vom Prinzip her genauso ist.

In Lovestorys sind die Helden gewöhnlich Männer und Frauen und fast immer kriegen sie sich.

Also, will sagen: Was ist das für ein schwaches Argument? Da scheint einer Transgender rundweg abzulehnen. Das passt nicht in die Zeit. Vorsicht!
 
Zuletzt bearbeitet:

Tula

Mitglied
Hallo Hera
Dass die Verantwortung als Qualitätsmanager schwere seelische Schäden hinterlässt, daran habe ich nie gezweifelt ;)

Aber ganz ernsthaft: deine Geschichte ist sehr menschlich und ließe sich etwas ausführlicher als spannende Erzählung gestalten.

Die beschriebene Firma ist wahrscheinlich bzw. hoffentlich längst krachen gegangen. Es sei denn, die haben dort verstanden, worum es bei QM eigentlich geht. Was nicht in Frage stellt, dass auch ich für diesen Job keinerlei berufliche Hingabe hätte.

LG Tula
 

Hera Klit

Mitglied
Hallo, Tula, vielen Dank.

Ja, die Verantwortung als Qualitätsmanager hinterlässt schwere Schäden.

Solche Jobs können nur Poser machen, wer wirklich dran glaubt, wird dran glauben müssen.

Liebe Grüße
Hera
 
Hallo Hera,

mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen. Was in den Kommentaren bis jetzt gar nicht zur Sprache kam, ist die Ehefrau des Protagonisten. Auch wegen ihr kann er seine Neigung nicht so ausleben, wie er es gerne möchte, denn erstens ist sie nun mal einfach da und stört dabei - alles muss heimlich gemacht werden, damit sie nichts ahnt - und zweitens liebt er sie ja, weshalb sie verlassen nicht in Frage kommt. Verständnis für seine Schwierigkeiten im Job hat sie auch nicht, Hauptsache, sie kann sich mehr Kleider kaufen. Trotzdem kommt das in der Geschichte nicht anklagend rüber.
Der Protagonist kann sich drehen und wenden, wie er will, er wird nicht das bekommen, nach dem er sich sehnt. Und dann ist es irgendwann zu spät.

LG SilberneDelfine
 



 
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