Der Himmel ist noch unbeschrieben

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Winterling

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Der Himmel ist noch unbeschrieben

Der Himmel ist noch unbeschrieben
im nächsten Morgen zukunftsleicht
und heute ist sie hiergeblieben,
der Tag verneigt sich, Ziel erreicht.

Die Menschen sind so unvollkommen
am Abend, der sich nicht erklärt
ein Tag durch Wimpern und verschwommen
die Nacht beginnend und bewährt.

Im Dunkel hat der Himmel Frieden
und draußen wird nun langsam klar:
Wie reduziert und abgeschieden
ist auf der Welt die Menschenschar.

Der Morgen wird erneut begonnen,
als Mensch der viele Farben mag -
die Wissbegier hat nun gewonnen
für den Moment und jeden Tag.
 

sufnus

Mitglied
Hey liebe Winterling!

Das ist wieder ein - wie ich finde - sehr schönes Gedicht und noch dazu wegen eines inhaltlichen und eines formalen Punktes ein interessanter Fall (jedes für sich - Schönheit und Interessanz - liefern dabei genug Argumente für eine vertiefte Beschäftigung :) ).

Warum ist das Gedicht also schön - um mal mit dem ersten Punkt anzufangen?
…. und gleich wieder beinahe aufzuhören: Ich weiß es nicht.
Warum finden wir manche Erscheinungen dieser unvollkommenen Welt schön und warum finden wir dabei ganz unterschiedliche Dinge schön oder unterscheiden uns untereinander im Schön- oder Nichtschönfinden der gleichen Dinge? (Ich finde Schnirkelschnecken schön. Das fängt schon mit dem wunderbaren Namen an. Wir brauchen unbedingt Schnirkelschneckengedichte! Doch andere mögen das ganz anders sehen)
Ich kann aber wenigstens eine Stelle benennen, an der ich beim Lesen gedacht habe "Wie schön!" - und mit dem Aufrufen dieser Stelle kommt gleich das nächste Fragezeichen daher: Mein Schönempfinden wurde nämlich von der ersten Zeile der zweiten Strophe wachgekitzelt und das ist doch ein gar wunderlicher Befund, denn eigentlich liefert diese Zeile in gewisser Weise bloß einen ziemlichen Allgemeinplatz ab. So ganz kann ich mir meine Lesefreude an dieser Stelle auch noch nicht erklären, aber ich glaube es hängt mit den Zeilen davor und danach zusammen.
Zunächst ist nämlich, so allgemeinplätzlich die Rekognsozierung menschlicher Unvollkommenheit sein mag, ist dieses Statement in dem konkreten Gedicht ein sehr clever gesetzter "Themenwechsel" im Vergleich zu dem zu gleichen Teilen ernsten wie vorsichtig-optimistischen Ton der ersten Strophe. Außerdem ist der Satz ja durch den Zeilenwechsel nur unterbrochen aber nicht beendet worden: Die Menschen sind ja nicht im ganz Grundsätzlichen unvollkommen, sondern sie sind es im Zusammenhang mit (nächste Zeile) einem "Abend, der sich nicht erklärt" und - kann das Zufall sein?! - ab dieser Zeile verweigert sich das Gedicht auf so sanfte wie nachdrückliche Weise einer völligen sprachlichen Durchschaubarkeit. Schon unter einem nicht "selbsterklärenden" Abend kann man sich nicht so recht etwas vorstellen und in den Zeilen 3 und 4 der zweiten Strophe löst sich auch die Grammatik beinahe auf - mit höchster Not kann man sich hier noch durchfinden, aber die Satzbezüge sind hier, nicht zuletzt durch den Wegfall einer Zeichensetzung, geradezu "verschwommen" wie durch "Wimpern betrachtet". Das ist in seiner Gesamtheit schon sehr spannend - aber damit käme ich eigentlich eher zu dem obigen Zweitunkt der Interessanz. Ich denke den habe ich hiermit tatsächlich schonmal vertiefend angetippt. Bei der Schönheitsfrage erklärt sich der Kommentator für weitgehend gescheitert. :)

Danke also für diese anregenden Zeilen!

LG!

S.

P.S.
Zu dem "Interessant-Punkt" nur noch ganz kurz nachgetragen: Da springt ja eigentlich das Ausrufezeichen schon in der ersten Strophe senkrecht in die Höhe, weil listigerweise offengelassen wird, wer mit dem "sie" in der dritten Zeile gemeint ist und was das "hiergeblieben" meinen könnte. Bei letztgenanntem Stichwort weht mich sogar kurz die Frage an, ob hier ganz existentiell das "am Leben bleiben" gemeint ist und dann bekommt der Text plötzlich ein Erschütterungspotential, das hinter den formal so kundig gefügten Zeilen leicht verborgen bleiben könnte. Es bleibt dann auch letztlich ein uneindeutiger Fall. Offen für viele Auslegungen. Kein Wunder, dass ich mich so freue. :)
 

Winterling

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Lieber sufnus, klausKuckcuck, Ubertas und Aniella:)

Hier ein Gedicht, etwas Nachdenkliches. Manchmal mag ich die Menschen nicht, doch ich weiß, ICH bin auch ein Mensch mit all seinen Fehlern und Unvollkommenheiten. Dennoch genieße ich den Tag, und freue mich im Alter mehr denn je, über Kleinigkeiten.

@sufnus, Ich danke Dir für die ausführliche Analyse, für Deine Gedanken und Ideen.:)
Was in der Zukunft passiert wissen wir alle nicht. Der Morgen könnte ein Tagesbeginn sein oder die Zukunft.
Du fragst nach "sie". Ebenso hätte die Person Grit oder Britt heißen können. Ein wenig steckt auch die Dichterin mit im Text, weil man ja nie von sich weit in der Ferne schreiben kann. Ein Gedicht gibt immer etwas vom Dichter preis.

Das Schöne ist dann schön, wenn man es schön findet, einfach, aber so sehe ich es. Und jeder Blickwinkel ist verschieden.
Bei diesem Gedicht habe ich nicht lange nachgedacht, und ich habe viele erste Worte aufgeschrieben. Es ist in einer nachdenklichen Stimmung entstanden.
"Hiergeblieben" meint auf einen bestimmten Platz, ein Ort eine Gegend, vielleicht ein Bank.
Da ich eine Optimistin bin ist mir der Freitod, der Gedanke fremd,
Jedoch wo du es mir sagst, könnte man auch dieses Gedicht so interpretieren.

Aber es soll ja ein hoffnungsmachendes Gedicht sein.:)

Es ist ein Stimmungsbild!

@Ubertas, danke für Deinen Kommentar!

@Aniella, Ich freu mich, weil Du mir hier schreibst, danke für deine Gedanken.

Ich bedanke mich bei Euch, und bin froh, dass sich jeder seine Gedanken dazu machen kann.
Danke für die Sternchen:)
sufnus, klausKuckuck, Ubertas, Aniella



PS: Ich lese auch gerne Schnirkelschneckengedichte :)
 
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