Der Hut und die Schuhe

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Matula

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Am unteren Ende des Marktes, wo Bauern Brot und Geräuchertes und Hausfrauen selbst gestickte Bilder verkaufen, stand ein gebeugter schwarzvermummter Mann, der nichts weiter als einen grauen Hut und ein Paar alte braune Schuhe feilbot. Beides zusammen, auf einem samtbezogenen Tischchen säuberlich platziert, glich einem Kunstobjekt von allegorischer Bedeutung, was von manchen Passanten erkannt, kommentiert und belächelt wurde.

Georg stand in einiger Entfernung und betrachtete den Hut, der ihn an einen ganz ähnlichen erinnerte, den er in seiner Jugend tagein-tagaus getragen, ja eigentlich nur vor den Zubettgehen abgelegt hatte. Der Hut war sein Markenzeichen gewesen in einer Zeit, in der junge Leute großen Wert auf ihre Frisuren legten und schon aus diesem Grund alle Kopfbedeckungen verabscheuten. Georg trug den Hut auch im Schulunterricht und lüftete ihn nur, in Verbindung mit einer outrierten Verbeugung, wenn ihm ein hübsches Mädchen im Schulhof oder auf den Gängen entgegenkam. Man lachte über ihn, verglich ihn mit Humphrey Bogart, nannte ihn einen Fetischisten, bewunderte ihn aber auch für seinen Mut zur Auffälligkeit. Es gab kaum jemanden, der nicht auf den Hut reagierte.

Später schämte sich Georg ein wenig, wenn er an seine Hut-Zeit dachte, wie ein Exhibitionist, der sich nach erfolgreicher Therapie an seine Streifzüge erinnerte. Andererseits war er alt genug, über den Jugendlichen, der er war, lächeln zu können, soweit es ihm gelang, ihn als Opfer körperchemischer Gesetzmäßigkeiten zu betrachten. Schließlich hatte der Hut zu stinken begonnen und durch Regen und Schnee seine Form eingebüßt. Traurig, aber erleichtert, ließ er ihn an seinem zwanzigsten Geburtstag von einer Brücke in den Fluss fallen.

Jetzt trat er an den Händler heran und fragte ihn, was der Hut kosten sollte. Der Alte musterte ihn aus schwarzen wissenden Augen, lüftete ein wenig den Schal, den er bis zur Nasenspitze hochgezogen hatte, und murmelte: Der Hut ist zu teuer. Er sprach mit slawischem Akzent, sodass Georg meinte, nicht richtig gehört zu haben und seine Frage wiederholte. Der Hut ist zu teuer, sagte der Händler diesmal deutlicher, nehmen Sie die Schuhe. - Ich will aber keine Schuhe, sondern den Hut. Was verlangen Sie dafür ? - Es sind gute Schuhe, beharrte der Alte, Sie werden es merken, wenn Sie eine Weile damit unterwegs sind. - Sie wollen also, dass ich beides nehme, nicht wahr ? - Der Andere schüttelte eigensinnig den Kopf: Nein, nein. Sie werden sich schon entscheiden müssen, das eine oder das andere ! - Meine Antwort kennen Sie, sagte Georg und griff nach dem Hut. Er war sich bei näherer Betrachtung sicher, dass er aus derselben Werkstatt stammte wie der, der er vor Jahren besessen hatte. Da packte ihn der Händle am Handgelenk und blickte ihn zornig unter den buschigen weißen Augenbrauen an: Der Hut passt Ihnen nicht. Er ist zu klein. Probieren Sie die Schuhe ! - Sie sind ja verrückt, zischte Georg und befreite sich aus der Umklammerung. Wenn Sie nichts verkaufen wollen, sollten Sie hier nicht herumstehen und die Kunden foppen. Haben Sie eigentlich eine Genehmigung ? Der Alte seufzte und senkte den Blick: Sie können den Hut umsonst haben, geschenkt, aber unter einer Bedingung. - Georg war halb und halb auf den Vorschlag gefasst, dem Alten dafür seine Seele verschreiben zu müssen. - Sie ziehen die Schuhe an und gehen damit, wohin Sie wollen. Am Abend kommen Sie zurück und geben sie mir wieder oder Sie behalten Sie und bezahlen dafür. Der Hut ist dann gratis.

Ich weiß wirklich nicht, was Sie mit diesem Experiment bezwecken wollen, murrte Georg und begann ungeduldig die Riemen der alten braunen Schuhe zu lockern. Woher wollen Sie wissen, dass sie mir passen ? Der Händler schwieg. Zwei junge Mädchen blieben stehen und beobachteten, wie Georg, auf einem Bein balancierend, in den Schuh zu schlüpfen versuchte. Das starre Leder reichte ihm über die Fußknöchel. Dort würde es bei jedem Schritt schaben und schmerzhafte Blasen erzeugen. Die Mädchen flüsterten und lachten hinter seinem Rücken. Er steckte die eigenen Schuhe in die Manteltaschen. - Ich werde auf Sie warten, sagte der Alte und ließ zum Zeichen seiner Vertragstreue den Hut in einem Plastiksack verschwinden. Sein Tischchen war nun leer.

Georg schlenderte weiter, diesmal an das obere Ende des Marktes. Als er außer Sichtweite des Händlers war, wollte er wieder die eigenen Schuhe anziehen. Eine elegante rothaarige Frau beobachtete ihn und sagte: Falls Du Dich abstützen musst, stehe ich zur Verfügung, Sie hielt ihm ihre Hand entgegen. Er wusste, dass er sie vor langer Zeit gekannt hatte. - Astrid, aus der dritten Reihe, erläuterte sie, und Du bist der Georg, stimmt's ? Er nickte und tat, als erinnerte er sich jetzt. Um seinen merkwürdigen Schuhwechsel zu erklären, erzählte er ihr von dem Händler und seinem Angebot. Sie lachte, griff in die Manteltaschen und holte zwei Fäustlinge hervor, Schau ! Die haben mir die zwei Kroatinnen dort verkauft. Auf den Innenseiten sind Kindergesichter gestickt, auf dem einen ein Mädchen, auf dem anderen ein Bub. Ich wollte eigentlich nur einen Gürtel, aber sie haben darauf bestanden, dass ich auch die Fäustlinge nehme. Scheußlicher Kitsch, nicht wahr ? Er nickte: Volkskunst eben, frei von Hintergedanken und Ironie.

Sie standen ein wenig ratlos herum, dann setzten sie sich in Bewegung. Er wollte nicht, dass sie ihn begleitete, ließ es aber zu. Allmählich begann er sich zu erinnern. Nie hatte er den Hut vor ihr gezogen. Sie war ein mageres humorloses Mädchen der Marke Blaustrumpf gewesen. Begehrt, wenn es ums Abschreiben ging, immer von Freundinnen umgeben und daher als "Lesbe" verschrien. - Erinnerst Du Dich noch an meinen Hut, fragte er unvermittelt. - Ja, sicher, so ein grauer Filzhut, von Deinem Großvater, glaub ich. Hat Dir gut gepasst. Hast Du ihn noch ? - Nein, ich habe ihn in der Donau versenkt. - Und was hältst Du von dem ? Sie hatte einen braunen Herrenhut an einem Stand entdeckt, wo auch selbst gestrickte Mützen, Schals und Ohrenwärmer angeboten wurden. Er probierte den Hut an und betrachtete sich in einem Handspiegel, den sie ihm entgegen hielt. - Ich weiß nicht, sagte er zweifelnd, ich fürchte, ich habe mein Hutgesicht verloren.

Wie hältst Du es eigentlich mit Deiner Einrichtung, wollte sie wissen, kaufst Du Deine Möbel auch am Flohmarkt oder gehst Du ins Einrichtungshaus ? - Komm mit und schau selbst, wollte er sagen, ließ es aber. Sie war ihm irgendwie vertraut, aber ihre Zugewandtheit irritierte ihn. - Schau Dir diese Lampe an, rief sie und eilte auf einen Stand zu. Ich liebe solche alten Lampen ! Sie hielt ein Lämpchen mit Bakelit-Sockel und Pergamentschirm hoch und strahlte übers ganze Gesicht. - Das ist eine Nachttischlampe, informierte der Händler und schaltete sie an. Sie müssen die zweite dazunehmen. Sehen Sie nur, wie warm das Licht ist, das sie abstrahlt. Kein Leselicht, aber, er zwinkerte Georg vertraulich zu, man muss im Bett ja nicht immer lesen. - Hast Du zwei Nachttischlampen daheim, fragte sie. - Nein, ich habe einen Deckenfluter mit Dimmer, wenn's recht ist, antwortete er. Sie entschuldigte sich übertrieben zerknirscht für die intime Frage. Bei jungen Leuten wie Ihnen, mischte sich der Händler ein, geht das mitunter sehr schnell. Heute noch allein mit Deckenfluter, morgen schon zu zweit mit Nachttischlampen. Ich würde Ihnen einen guten Preis machen. Sie könnten es bereuen, nicht zugegriffen zu haben. - Georg trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Danke für das Angebot, aber ich muss mich jetzt verabschieden. Vielleicht können Sie noch mit der Dame ins Geschäft kommen. Ich habe ein Paar Schuhe zurückzugeben.
 
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Matula

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Ja, ja die Weggabelungen. Lange denkt man, könne entweder links oder rechts abbiegen, aber dann stellt sich heraus, dass der andere Weg längst versperrt ist. Darf ich Dich bei dieser Gelegenheit fragen, was ein "Holosheet" ist ? Vielleicht habe ich eine anfängliche Erläuterung überlesen, aber nun wüsste ich doch gern, ob es sich dabei um ein holographiertes Dokument oder um die 2D-Oberfläche handelt, die das holographierte Dokument erzeugt.

Danke und schönen Gruß aus Wien,
Matula
 

Aufschreiber

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Hallo Matula,

Du hast nichts überlesen. Ein Holosheet ist tatsächlich eine Art Folie, die der holographischen Darstellung von Daten dient. Meiner Idee nach lädt das sheet die Daten und bereitet die auf. Das Ergebnis wird dann in geeigneter Darstellungsweise präsentiert. Das kann als Text, Sound, Video oder Hologramm erfolgen, je nach Präferenz und Effektivität. Wie man es kennt, hat sich natürlich die fortschrittlichste (werbeträchtigste) Funktion in der Bezeichnung durchgesetzt.

Beste Grüße,
Steffen.
 

Matula

Mitglied
Guten Abend !
Das sheet ist also das Speichermedium. Danke für die Klarstellung. Man muss sich mit diesen Dingen beschäftigen ... falls das Universum tatsächlich ein Hologramm ist ...

Herzliche Grüße,
Matula
 

Ofterdingen

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Hübsch geheimnisvoll dargebotene Geschichte.
Diesen Satz würde ich ändern: "Heute schämte sich Georg ein wenig, wenn er an seine Hut-Zeit dachte,"
Entweder Präsens: Heute schämt sich Georg ein wenig, wenn er an seine Hut-Zeit denkt,
oder statt "heute" ein anderes Wort: Später schämte sich Georg ein wenig, wenn er an seine Hut-Zeit dachte,
 
Hallo Matula,
eine interessante Geschichte, die eigentlich nach eine Fortsetzung verlangt. Ich frage mich, warum der Händler so überzeugt war, dass Georg die Schuhe anziehen sollte. Warum hat er ihm nicht den Hut verkauft? Jetzt, am Ende der Geschichte sieht es fast so aus, als würde er die Schuhe zurückbekommen und den Hut nicht loswerden. Alles sehr geheimnisvoll. Gut geschrieben.
Gruß
Et contra nubes
 

Matula

Mitglied
Hallo Et contra nubes,
danke für die Anerkennung ! Auch Kollege Aufschreiber war mit dem Ausgang nicht recht glücklich, aber Georg muss leider erkennen, dass er für den Hut zu alt und für die Schuhe zu jung ist. Der Händler muss, wie Du es voraussiehst, beides behalten. Zum Trost darf ich anzufügen, dass der Markt an jedem Samstag von 8 bis 18 Uhr geöffnet hat.

Herzliche Grüße,
Matula
 



 
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