der jungbrunnen (vier alkäische strophen)

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
der jungbrunnen


gewiss tut eine andere dimension
sich auf wenn dein gesicht immerfort verjüngt
von offner blüte bis zur knospe​
in die geheimnisse deines mundes​

zurück mich küsst die augen verraten nie
den schwarzen kern der wupp alles licht einsaugt
die rätsel umgekehrter zeiten​
atmen mich ein im o rigo giro​

drang ich in dich da flutscht mir der fisch nun raus
um wieder einzukehren mit grusz und kuss
ich nahm auch blumen lief zum laden​
denen das eigene grün zu schenken​

weiszt du noch wie wir sungen in zungen zart
dahin führt mich die singula rarität
in deinem ersten blick wie du mich​
an ziehst da seh ich wie du mich ansiehst​
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Alkäische Strophen

sind eigentlich selten in der Leselupe. Wir kennen sie vor allem von Horaz (carmina) und Hölderlin.
Deutschlehrer, die nichts von antiker Metrik genossen bzw. verinnerlicht haben, lesen die Zeilen wie Prosa und wundern sich über den Satzbau bei Hölderlin, aber das ist nicht mein Problem.

Eine Besonderheit der alkäischen Strophen ist die Kontrapunktik bzw. Gegenrhythmik der jeweils dritten und vierten Verszeilen gegenüber den ersten plus zweiten - es ist üblich, Verse mit "anderer" Metrik einzurücken, z.B. die Pentameterzeilen im Verhältnis zu den Hexameterzeilen beim Distichon.
In der alkäischen Strophe werden üblicherweise die vierten Zeilen unter der schon eingerückten dritten "noch einmal" nach rechts verschoben, siehe Horaz, Muster-Ode aus dem ersten Carmina-Buch:

vidés ut álta stét nive cándidúm​
Sorácte néc iam sústineánt onús​
silváe labórantés gelúque​
flúmina cónstiterínt acúto​
xXx XXX xx XxX​
xXx XXX xx XxX​
xXx XXX xXx​
Xxx Xxx Xx XX​
 
G

Gelöschtes Mitglied 20513

Gast
Gut, dass ich endlich weiß, wie man vier alkäische Strophen zu schreiben hat.

Gruß, blackout
 
G

Gelöschtes Mitglied 20370

Gast
Ich habe dieses Gedicht mit allergrößter Freude gelesen! Und es ist Hansz zu danken, dass er die alkäischen Strophen hier ins Gespräch bringt und in Form eines eigenen, leicht bekömmlichen (schlüpfrigen?) Gedichts uns belegt! Das ist doch wunderbar - was sülzt diese Person "blackout" denn schon wieder herum, zum Donnerwetter! Den kurzen, lehrreichen Text hat Hansz in bester Absicht denjenigen angeboten, die sich in dieser festen Form noch zurechtfinden müssen. Das ist Arbeit, die der Leselupe gut ansteht!
Aber ich muss, weil's so lange her ist, Hölderlin erinnern (auch für mich!). Aus Diotima (die nicht fehlen darf!) die erste Strophe:

Du schweigst und duldest, denn sie verstehn dich nicht,
Du edles Leben! siehest zur Erd' und schweigst

Am schönen Tag, denn ach! umsonst nur
Suchst du die Deinen im Sonnenlichte ...


Dyrk
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ja, Dyrk,

den Fisch sehe ich auch als ein ziemlich schlüpfriges Iterativum. Wo es schon egal ist, daß Vorwärts wie Rückwärts seiner Wiederholung (im doppelten Sinn) gleich zu sein scheinen.

Wunderbar, Hölderlin, ich schätze ihn sehr, da er wie Horaz die griechischen Metren in einer klaren Architektur so aufbaut, daß ein Gedankengefüge zum Singen kommt. Die äolischen Sprachmelodien kann man in seinen Liedern umfassend simultan auffassen, so daß sie zugleich räumlich geordnet transparent werden und die Sehnsuchtsfarben ihre Entsprechungs- und Gegenstelle in diesem simultan die Strophe umfassenden Schwung, Flug, Schmerz finden, verlieren, klären.

.nun - ek nade Geh c sinot ketih cra red :der architektonische Gedanke in dem Vierquadratlied oben ist nicht ganz rein simultan, sondern zeitgestreckt, allerdings rückwärts. Konsequenterweise hätte es auch trhekegmu geschrieben werden müssen, hciltnegie
 
G

Gelöschtes Mitglied 20370

Gast
Die äolischen Sprachmelodien kann man in seinen Liedern umfassend simultan auffassen

Hierüber brauche ich dringend Literatur! Du sprichst ein mir unbekanntes Feld an ...
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ich habe keine Literatur dazu. Aber ich vergleiche Hölderlin mit dem anderen einzigen äolischen Dichter in den schlichten klaren Silben römischer Zauberlieder ("carmina"). Diese Sprachraumgebilde von architektonischer Transparenz kann man in den sapphischen, alkäischen und asklepiadeischen Strophen von Horaz finden. Und mit peppigem Witz in den Übersetzungen und Parodien von Morgenstern und Abendmörike. Da wird die alte Sprachmelodie konkret.

Wie im Hölderlin.
 



 
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