Der Junge und die Elster

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Der Junge und die Elster
(für Kinder ab ca. sechs)

Es ist noch nicht lange her, da lebte im Dorf ein Junge, der gerne barfuß ging: auf der Straße, den Feldwegen, den Äckern und Wiesen und sogar zur Schule. Der Junge, er hieß Kevin, war acht Jahre alt. Solange es warm genug war, lief er in kurzen Hosen, aus denen die braun gebrannten Beine heraus schauten. Meistens trug er auch seine Schirmmütze verkehrt herum auf seinen kurzen braunen Haaren. Seine freie Zeit verbrachte er im Wald. Dort fing er am Bach Forellen mit den bloßen Händen. Er kannte die Stimmen der Tiere und konnte ihre Spuren lesen. So wusste er immer, wo sie zu finden waren, wenn er ihnen nahe sein wollte.

Von einem seiner Streifzüge brachte Kevin eine junge Elster mit. Sie war von hoch oben aus einem Nest im Baum direkt vor seine Füße gefallen. Ein kleines, noch flaumiges Vögelchen war sie. Das schwarze Federkleid und der weiße Brustlatz sahen noch stumpf aus. Der schwarze Schnabel war hungrig aufgesperrt. Zu Hause füllte er einen Schuhkarton zur Hälfte mit Vogelsand. Dann polsterte er ihn mit Heu aus und bettete den Vogel hinein. Von seinen Eltern ließ er sich zeigen, wie man aus Hundefutter, Zwieback, Eigelb und Vitaminen die richtige Futtermischung herstellt und fütterte den Jungvogel alle zwei Stunden mit einer Pipette. Dies machte er so lange, bis seine Elster fliegen konnte und lernte, sich ihr Futter selbst zu besorgen. Als das Gefieder glatt und glänzend war, und die Flügel sie durch die Luft trugen, waren sie schon lange zu unzertrennlichen Freunden geworden. Selten traf man einen von beiden alleine an: Wo der Junge war, war auch der Vogel, wenn man den Vogel sah, war der Junge nicht weit. Wenn der Junge zur Schule ging, langweilte sich die Elster, die mittlerweile Elsa hieß, draußen auf einem Baum und schimpfte in ihrer Vogelsprache.

Waren sie zusammen, saß Elsa auf Kevins Schulter und spielte mit seinen Haaren. Dabei zupfte sie an einzelnen Strähnen und zwitscherte ihm ins Ohr, als wollte sie ihm eine Geschichte erzählen. Der Junge konnte die Sprache der Elster nicht verstehen. Es musste sich um Geschichten handeln, dachte er, denn sie erzählte sehr lange und lebhaft. Manchmal leise und dann wieder laut. Selten machte sie eine kurze Pause, um schnell einen Vogelruf aus der Ferne nachzuahmen. Dann nahm sie ihre Erzählung wieder auf, die ihr sehr wichtig zu sein schien.

Kevin wohnte mit seinen Eltern mitten im Dorf in einem alten Fachwerkhaus. Im Haus gegenüber wohnte Griesgram. Griesgram war natürlich nicht sein richtiger Name, die Dorfkinder nannten ihn heimlich so, wenn sie von ihm sprachen. Er war ein alter, oft schlecht gelaunter Mann. Im Sommer saß er tagsüber auf einem Stuhl vor dem offenen Küchenfenster. Auf der Fensterbank hatte er ein Kissen liegen, worauf er seine Arme abstützte. Sein Gesicht hatte ganz tiefe Falten und sein volles weißes Haar hing bis zu den Augen hinab. Der alte Mann lebte ganz alleine und schimpfte immer mit den Kindern. Besonders Kevin und seine Elster konnte er nicht leiden, der Vogel hatte ihm schon mehrmals seinen Kot auf der Fensterbank hinterlassen. Beim letzten Mal hatte er Elsa dabei erwischt und ihr einen seiner Pantoffel nach geworfen. Die Elster wurde von dem Schuh gestreift, erschrak fürchterlich und flog schnell nach Hause.

Griesgram freute sich über den Treffer. Was er aber nicht wusste: Elstern sind sehr kluge Vögel und vergessen nie und nimmer was. Als Griesgram an einem Sonntagmorgen bei geöffnetem Fenster in seinem Bett schlief, landete Elsa auf dem Holzrahmen des Betts. Die Zehen von Griesgram schauten unter der Decke wie krumme Stöckchen hervor. Mit schief gelegtem Kopf betrachtete der Vogel die kleinen Stöckchen, die manchmal wackelten und sich krümmten. Elsas runde, schwarze Knopfaugen funkelten. Ein paar Mal trippelte sie auf dem Bettgestell hin und her. Dann pickte sie blitzschnell in das dickste der Stöckchen. Griesgram fuhr mit einem Schrei aus dem Schlaf und sah die Elster nur noch durch das Fenster davon fliegen.

Am späten Nachmittag saß Kevin auf der Gartenmauer und ließ seine Beine lustig baumeln. Die Elster kam angeflogen und landete nicht weit entfernt von ihm. Im Schnabel trug sie eine wilde Erdbeere. Hüpfend näherte sie sich ihrem Freund. Sie legte die Erdbeere neben ihn und dieser wusste, sie hatte wieder einmal etwas angestellt. Denn die Elster kannte die Vorliebe des Jungen für Erdbeeren, und jedes Mal, wenn sie ein schlechtes Gewissen plagte, schenkte sie ihm eine Beere. Der Junge lächelte, aß die Erdbeere und hörte zu, was der Vogel ihm erzählte.

Auf dem Weg nach Hause kam er mit Elsa am Haus von Griesgram vorbei. Der alte Mann saß wieder am offenen Fenster. Auf seiner Stirn zeigten sich schon die ersten Zornesfalten. Plötzlich erhob sich Elsa in die Luft, verschwand und kam kurz darauf mit einer Erdbeere im Schnabel zurück. Doch, statt zu Kevin zu fliegen, landete sie auf der Fensterbank und legte die Frucht neben Griesgram ab. Dann legte sie ihren Kopf noch einmal schief, zwitscherte kurz und flog weg.

„Was war das denn jetzt?“, fragte Griesgram erstaunt.
„Elsa hat sich bei Ihnen für etwas entschuldigt.“, erklärte der ebenso verblüffte Kevin.
„Entschuldigt? Ein Vogel? Nötig war das ja, aber, dass deine Elster so ein kluges Geschöpf ist, das hätte ich nicht gedacht.“, kopfschüttelnd entfernte sich der alte Mann vom Fenster und holte eine Tüte Kekse aus der Küche. „Hier, hast Du was für deine Elsa und dich. Vielleicht mögt ihr beiden ja mal zu Besuch kommen und mir zeigen, was für Trick`s dein Vogel kann.“
Jetzt war Kevin sprachlos, das konnte doch nicht der alte Griesgram sein. Elsa hatte mit ihrer Erdbeere ein Wunder vollbracht.
„Ach so, ich weiß, dass ihr mich Griesgram nennt, du kannst aber gerne Opa Holger zu mir sagen.“, mit einem Zwinkern schloss Holger das Fenster. Kevin hüpfte über die Straße nach Hause und teilte dort mit Elsa freundschaftlich die Kekse.
 
D

Donkys Freund

Gast
Eine wunderbar ruhig und plastisch erzählte Geschichte. So einfach kann die Welt sein.
Im letzten Abschnitt dreht sich diese Welt ja komplett. Das finde ich persönlich etwas fix, denke aber, dass das bei Kindergeschichten durchaus "erlaubt" ist. Es wird ja auch von "Wunder" gesprochen.
 

Lio

Mitglied
Ein Junge und eine Elster verbindet eine tiefe Freundschaft. Schön! Hoffentlich hält sie noch lange an:)!!!!!!!!

Luftige Grüße!

Lio
 



 
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