Der Kampfhund

Wittelsbach

Mitglied
Wir begleiten Onkel Klaus (16 Jahre alt) auf seiner Zettel-Tour. An jede Haustür kommt ein Hinweis auf die Altkleidersammlung.
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
05.10.1973
Heute habe ich Bemerode gezettelt.
In der Siedlung zwischen Brabeckstrasse und dem Flachsrottenweg stehen hauptsächlich Einfamilienhäuser mit Rasenfläche vor dem Haus und kleinen Gärten dahinter. Natürlich alles solide umzäunt.
Wie ich da so entlang schlenderte, spulte sich plötzlich ein schwarzer Gartenschlauch ab, knallte gegen den Maschendraht-Zaun und entpuppte sich als zähnefletschender Riesenhund, oder vielmehr als Kampfmaschine. Die Art von Hunden, wie man sie eigentlich nur in Comicfilmen sieht: vorne eine weit aufgerissene Schnauze, aus der die Zunge hechelt, muskulöse Schultern und kräftige Vorderbeine. Dann fällt der Körper beinahe im 45Grad-Winkel zum Schwänzchen hin ab, und die Hinterbeine sind klitzeklein. Dieser Hund, der im Comic dem netten, kleinen Küken den Knochen abjagt, gleich darauf aber kräftig von eben diesem netten, kleinen Küken gemaßregelt wird. In den meisten Fällen plättet eine Dampfwalze den Köter. Oder ein Tresor, der vom Himmel herab fällt! Was den Köter aber nicht daran hindert, nach den Mainzelmännchen wieder kräftig mitzumischen. Um dann noch mal einen vor dem Latz zu bekommen. So ein Monstrum warf sich hier und jetzt, und nicht im Comic, keuchend gegen den Zaun. Auf der anderen Seite.
Ich hatte mich sehr erschrocken.
„Will nur ein bisschen spielen!“ rief eine Frau vom Nachbargrundstück herüber. Während ich den Bürgersteig weiter hinunter ging, zog ich einige Grimassen, bellte zurück und brachte mit einem authentischen Katzengeheul das Vieh um den letzten Verstand. Hübsches Spiel!
Waldi überschlug sich vor Freude über seinen neuen Spielgefährten, dabei entwurzelte er mühelos zwei, drei kleinere Bäume, und geiferte literweise gelblichen Schleim.
Dann kam das Gartentor mit dem Briefkasten, Vorsicht, bissiger Hund! Lächelnd schob ich meine Ankündigung vom Verein Deutscher Hirngeschädigter in den Schlitz und dann –, dann kam das Tor mit der Garageneinfahrt. Ein Schrecken durchfuhr meine Glieder. Das Tor stand ein Stück weit offen!
Wir sahen es gleichzeitig.
Während ich eine winzige Sekunde zögerte, da ich im Gegensatz zu der Kampfmaschine zwei Optionen hatte, – sollte ich das Tor noch schnell zuziehen, oder sollte ich gleich meine Beine unter den Arm nehmen, (eine saublöde Redewendung, die ich mir nicht verkneifen kann) – hatte sich der Mistköter längst für die zweite Möglichkeit entschieden.
Davon hatte er all die Wochen, Monate, Jahre geträumt, hinterm Zaun eingesperrt, von Schulkindern gehänselt, von der Nachbarin falsch verstanden und von Herrchen auf Diät gesetzt! Und schon war er durch das Tor.
Und es gab keinen Banktresor von oben! Keine Dampfwalze! Kein Ölfass, keine Lokomotive!
Es ist bezeichnend für diese Welt, dass es bei wahren Wundern und Leistungen keine relevanten Zeugen gibt. Denn mein Sprint von 0-auf-100 Stundenkilometer ist einmalig in der Geschichte des Rennsportes. Nicht nur unter Athleten, sondern auch unter Rennpferden! Auch bei einem Motorradrennen hätte man mich im vordersten Feld gefunden!
Wie ein Blitz zischten wir vorbei an der netten Nachbarin, die sich nun mit einem recht blöden Gesichtsausdruck von ihrer Gartenarbeit aufrichtete, und schon waren wir um den Block. Den Stapel Verein Deutscher Hirngeschädigter hatte ich dem Monster an den Kopf geklatscht, ebenso meine Umhängetasche. Das spornte ihn aber nur noch mehr an!
Und immer noch weit und breit keine Dampfwalze! Kein Banktresor, kein Ölfass und keine Dampflokomotive!
Dafür aber, – und das in der allerletzten Sekunde vor der Zerfleischung, stand ein großer Bauschutt-Container am Straßenrand.
Ich könnte jetzt nicht sagen, wie ich dahinauf gekommen war, jedenfalls stand ich oben und der Hund rannte wie irre unten gegen die Eisenwand. Immer wieder knallte er klatschend dagegen.
Ich warf ein solides Brett hinunter. Doch sein Haifischgebiss zersplitterte es wie eine Schokoladen-Praline.
Und sein grollendes Kläffen hörte man bestimmt noch in Kirchrode!
Mit einem Mauerstein hatte ich endlich etwas mehr Erfolg, der Hund torkelte einen Augenblick. Dann entdeckte er endlich die tiefer stehende Schmalseite des Behälters!
Er nahm Anlauf, sprang und – mitten im Flug wendete er und lief, ohne sich zu verabschieden, nach Hause!
Einfach so?!
Hatte er einen Pfiff gehört?
Niemand war zu sehen. Die Straße war leer. Die Gardinenfenster abweisend wie eh und je.
Da hatte ich etwas mehr erwartet!
Hinter sicheren Gartenzäunen hatten es sich Zuschauer bequem gemacht. Männer sitzen hinter einem Tisch für Wettannahmen, ein geschäftstüchtiger Hausmann rollt gerade ein Fass Bier aus dem Hobby-Keller, und die Würstchen auf dem Grill sind gleich gar. Rentner mit Ferngläsern kommentieren das Geschehen, und ein Hundefänger mit Polizeibegleitung wartet auf einen günstigen Augenblick. Ich hatte eigentlich Reporter mit Übertragungswagen erwartet, Fernsehteams auf schwenkbaren Plattformen, gepanzerte Busse vom Krisenstab, Ärzte mit mobilem OP und Militärs mit scharfgezogenen Luft-Wasser-Bodenraketen! Und den einen oder anderen Sherman-Panzer!
Nichts!
Nicht ein einziger Hubschrauber über mir!
Die Straßen waren einfach nur leer!
Bis auf einen kleinen Jungen mit Schulranzen, der den Bordstein zum Hinkeln benutzte. Hatte wohl nachsitzen müssen. Beguckte mit mäßigem Interesse mein blutendes Knie.
Sonst niemand, auch hinter den Gardinen nicht, – die Einwohner hier mussten wohl fleißig die Kredite für ihre Häuschen abrackern.
Ich ging die Straße zurück, hinter dem Schüler her. Er war sozusagen mein Köder. Mein Schutzschild. Überall lagen die Druckschriften Verein Deutscher Hirngeschädigter, auch in den Vorgärten. Hier war man jetzt bestens informiert.
Es muss doch eine bessere Möglichkeit geben, an Geld zu kommen. An mehr Geld für weniger Arbeit.
Richtig viel Geld macht man sowieso nur mit minimaler Arbeit! Indem man andere für sich arbeiten lässt! Aber wie bringt man die anderen dazu?
 



 
Oben Unten