Lieber Patrick Schuler,
seit ich wieder hier im Forum bin, schleiche ich um deine Texte herum, denn ich habe mich gefragt, wie deine Lyrik sich entwickelt hat. Bisher habe ich dir aber noch keinen Kommentar hinterlassen, weil ich zwar einerseits sehr angetan bin von dem, was du geschrieben hast, andererseits habe ich aber öfter auch Schwierigkeiten bei der Interpretation deiner Texte gehabt, sodass ich immer das Gefühl hatte, nicht mehr als ein "gefällt mir" kundtun zu können.
Es ist bei diesem Text gewissermaßen ähnlich, denn ich will nicht behaupten, dass ich ganz durchschauen kann, was mir hier in verdichteter Form begegnet. Da mich dein Gedicht aber sehr anspricht, möchte ich aber dennoch einen Versuch wagen, diesen Text zu deuten.
Alles beginnt mit einer Charakterisierung von
Wasser, jenem Element, welches die Voraussetzung unseres Lebens ist. Denke ich an Wasser, kommen mir Attribute wie "klar" oder "rein" in den Sinn - in deinem Gedicht aber ist das Wasser
weiß. Auf den ersten Blick scheint sich diese farbliche Zuschreibung nahtlos in die Wortreihe von "klar" und "rein" einzuordnen, denn mit
weiß verbindet man ebenfalls Reinheit und Unbeflecktheit. Doch wenn Wasser weiß ist, dann spricht das eher dafür, dass es seine Reinheit verloren hat, es ist milchig, undurchsichtig, unsauber. Verliert das Wasser als Element des Lebens aber seine Reinheit, dann ist das Leben selbst gefährdet.
In diesem Zusammenhang begreife ich das
Wasser in deinem Gedicht als Symbol der unberührten Natur, jene verschwundene Sphäre, die in den Naturgedichten gerade auch der romantischen Epoche zum idyllischen Gegenüber eines Lyrischen Betrachters wurde, der sich in der gesellschaftsfreien Gegenwelt spiegeln konnte wie ein Gläubiger im feuerbachischen Sinne in Gott. Doch in deinem Gedicht ist eine solche Spiegelung nicht mehr möglich. Hier würde es nicht einmal mehr dem Narzißten gelingen, sich in sein eigenes Abbild im Wasser zu verlieben. Das Wasser ist weiß, ist unrein, und hat damit seine Eigenschaft als naturgegebener Spiegel verloren. Durch das Enjambement in Zeile 1 geht das Gedicht sogar so weit, das Wasser in seiner ursprünglichen Form ganz zu nivellieren - der Vers schließt mit der Feststellung
Wie bei einem Palimpsest ist es nun eine neue Form, die auf der nicht mehr sichtbaren Basis der früheren zur neuen Realität geworden ist. Eine erschaffene Wirklichkeit, die, um im Bild zu bleiben, das "klare Wasser", was einst naturgegeben vorhanden war, nicht mehr kennt.
Meiner Interpretation folgend beginnt das Gedicht also mit der Schilderung eines Entfremdungserlebnisses, unwiderruflich eingeschrieben in den Plan des Lebens. Solche Entfremdungsszenarien bilden in der Regel die Rahmenbedingungen für existenzielle innere Konflikte literarischer Figuren. Eine innere Zerrissenheit, die uns im weiteren Verlauf auch in diesem Gedicht begegnet.
So schon in Strophe 2. Nun ist sogar explizit von einem
Fremden die Rede. Und dieser Fremde hat keine Wahl: Denn wenn wir der Deutung folgen, dass das
Wasser hier die Bedingung irdischen Lebens symbolisiert, dann ist jedes lebende Wesen unweigerlich darauf angewiesen. Es mag nun jeder selbst überlegen, was dies auf den Menschen bezogen bedeutet. Für manche ist es die Entfremdung von der Natur, die zunehmende Urbanisierung und die Digitalisierung unseres Alltags, die zu Fremdheitsempfindungen führt. Für andere wiederum ist es ein Mangel an sozialem Miteinander, vielleicht auch an Liebe, der sinnbildlich gesprochen das
Wasser weiß werden lässt. Was den
Fremden hier im Gedicht betrifft, bleibt das sein Geheimnis, aber immerhin verrät uns die Syntax etwas über ihn: Er versucht nämlich, auf dem entfremdeten Gefilde Halt zu finden - allein, es gelingt ihm nicht. Ich finde es sprachlich herausragend, wie du, lieber Patrick, diesen verzweifelten und zum Scheitern verurteilten Versuch des Protagonisten durch die Ellipse
zum Ausdruck bringst. Man spürt förmlich die Zerrissenheit zwischen der Sehnsucht, zu bleiben (dann hieße es: "Er sitzt") und der Notwendigkeit, ein neues Ufer aufsuchen zu müssen. Und tatsächlich schafft der
Fremde es letztlich, er hat das
weiße Wasser überquert.
Aber: Die dritte Strophe verrät - er hat einen hohen Preis bezahlt. Entwurzelt steht er da, nicht in der Lage, die schlimme Überfahrt zu vergessen. Im Grunde fährt er noch immer, obwohl er längst trockenen Boden unter den Füßen hat. Es ist ein unglaublich tragisches Bild, welches dann in der vierten Strophe gezeichnet wird (gleichwohl es meiner Meinung nach auch wunderbar lyrisch ist), denn trotz all seiner Bemühungen, eine Welt zu entdecken, die ihm nicht fremd und feindlich ist, gelingt es dem Protagonisten nicht, diese auch zu erkennen, obwohl er diese Welt doch nun erreicht hat! Und er hat sogar eine Rolle in dieser Welt gefunden, er heißt nun nicht mehr
Fremder, sondern
Dichter.
Aber die Vergangenheit verfolgt ihn wie ein unauflösbares Trauma. Der Protagonist in seiner neuen Rolle als Dichter begegnet uns als selbstlose Person im wahrsten und traurigsten Sinne des Wortes.
Buchstabenpuppe und
Metaphernmarionette sind eindringliche Neologismen für die Tragödie dieses "armen Poeten". Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Protagonist im ganzen Gedicht nur einmal einer weiteren Person begegnet:
Ein Andrer. Doch diese Person ist kein Verbündeter, kein Freund, eher ist sie wie eine unerbittliche und gehässige Autorität, der sich der Protagonist ohnmächtig ausgeliefert fühlt. Wie Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel ringt der Protagonist aber noch um seine Selbstbehauptung:
Und in diesem Licht kann er sich zum ersten Mal wieder wirklich erkennen:
Im Spiegel vergisst er sein Bild.
- es ist das Bild der Vergangenheit, welches ihn immer wieder
kentern lässt, obwohl doch die Vergangenheit mit ihren
Wildwasserstürmen und
Wildwasserwogen längst vorbei ist. Bei einer positiven Lesart liegt an dieser Stelle etwas Erlösendes, denn obwohl er nun noch immer die alten Probleme in sich trägt und auch immer wieder daran scheitert, hat er einen Umgang damit gefunden (er kann nun sogar darüber
lachen - Strophe 7). Die Kunst des Dichtens wird demnach im Gedicht zur Kunst, das eigene Selbst wieder zu finden. Bei einer negativen Lesart scheitert diese Kunst allerdings und der Dichter scheitert (
kentert) weiter und ist machtlos seinem Über-Ich ausgeliefert, welches ihn letztlich für sein Versagen auslacht (ebenfalls Strophe 7). Ich möchte hier anfügen, dass ich die ersten Variante weitaus erquicklicher finde.
Die letzte Strophe verstehe ich vor dem Hintergrund meiner Deutung nicht so negativ, wie sie vielleicht auf den ersten Blick erscheint. In gewisser Weise kann man sie auch als eine Strophe lesen, welche ausrückt, dass der Protagonist sein Schicksal akzeptiert hat - eine Sachlichkeit, die etwas Leid zu lindern im Stande ist.
Liebe Grüße
Frodomir