Max Neumann
Mitglied
Als Dustin vier Jahre alt war, brach sein Vater ihm das Jochbein. Das tat der Mann durch einen gezielten Faustschlag; Jahre später erzählte Dustin davon jemandem. Ich belauschte ihr Gespräch und erfuhr, dass Dustins Vater mit so einer Wucht zugeschlagen haben muss, dass man es bis in die Wohnung einer Nachbarin hörte.
Dustins heroinabhängige Mutter war oft tagelang in Junkie-Buden unterwegs; solchen, zu denen alle möglichen User einen Schlüssel hatten. Sie bekam vom Jochbeinbruch nicht viel mit. Und was sie davon erfahren hatte, war ihr weniger wichtig, als das Konsumieren.
Seit dem Jochbeinbruch lebte Dustin in einem Kinder- und Jugendheim. Dort wohnte ich in einer Etage mit ihm und hatte oft Gelegenheit, Dustin zu beobachten. Ins Heim kam ich mit sieben, nachdem meine Eltern bei einem Zugunglück ums Leben gekommen waren und kein Verwandter sich als gesetzlicher Vormund anbot. Dieses Heim befand sich in der hessischen Provinz.
Ich war neun, Dustin zwölf. Und er kam er mir unerreichbar vor. Sah zu ihm auf, denn er verkörperte alles, was ich damals nicht war: Groß, kräftig und – durchsetzungsfähig.
Dustins Markenzeichen war es, ausnahmslos weiße Turnschuhe zu tragen, auf denen sich, abgesehen von einem kleinen Markenlogo, kein weiterer Farbton fand. Die makellose Sauberkeit der Turnschuhe spielte in Dustins Leben eine zentrale Rolle. Ich habe nie herausgefunden, warum. Und ich wollte es auch nicht.
Abends, wenn die Zimmerbeleuchtungen automatisch ausgeschaltet worden waren, sah ich Dustin manchmal im Treppenflur sitzen. Dort brannte ein Notlicht, das einen silbernen Glanz warf. Darunter Dustin, dem Schuhputzen gewidmet, ausgerüstet mit verschiedenen Bürsten und Cremes, von denen er für die Seitenteile der Schuhe die eine Creme, für die Laschen eine spezielle Bürste und für die Sohlen ein Pflegemittel einsetzte, auf dessen Packung mir unbekannte Buchstaben einer fremden Sprache standen. Wenn Dustin diese Arbeiten erledigt hatte, imprägnierte er die Turnschuhe noch mit einem Spray; es roch stark nach Minze.
Im Heim gab es eine Art Anführer, der hieß Hafid. Angeblich war er siebzehn, doch alle wussten, dass er vor ein paar Jahren mit gefälschten Papieren aus Marokko eingereist war und wesentlich älter sein musste, denn über sein Gesicht verliefen kleine Falten.
Ab und an ließ Hamid einen provokanten Spruch vom Stapel, um Dustin zu ärgern; der ignorierte das aber. Dustin befolgte eine simple Lebensphilosophie: Morgens und abends beten, das Essen vor dem Essen segnen. Offenbar hatte er eine stabile Verbindung zu Gott und ließ sich nicht leicht aus der Ruhe bringen. Von einer Ausnahme abgesehen: Der Unversehrtheit seiner leuchtend weißen Turnschuhe.
Eines Tages war ich gezwungen, mitzuerleben, wozu Dustin fähig sein konnte. Ich verfluche diesen Tag heute noch, denn regelmäßig träume ich von ihm, erwache schweißgebadet. Die verdammten Bilder verfolgen mich... Ich muss sie aufschreiben.
Es war der letzte Schultag vor den großen Ferien: Der 8. Juli. Dustin schien gut aufgelegt, weil er von einer Lehrerin gelobt worden war. In Mathe, seinem stärksten Fach, hatte er die beste Klassenarbeit geschrieben. (Davon erzählte er auf dem Weg vom Schulgebäude zu den Wohnsilos einem Kumpel und ich hatte, hinter den beiden herlaufend, heimlich zugehört.)
Nach der Schule stand Chillen an, Gott einen guten Mann sein lassen. Und zum Mittagessen gab es zur Feier des Tages sogar Hamburger, als Nachtisch Vanilleeis mit Schokosoße. (Ansonsten bekamen wir im Heim meistens irgendwelche Öko-Mahlzeiten vorgesetzt.)
Ich stand in der Schlange und konnte es kaum erwarten, endlich in einen saftigen Burger zu beißen. Auf dem Weg zur Essensausgabe fiel mir auf, wie peinlich genau Dustin darauf achtete, dass vorbeihuschende Kinder seine Turnschuhe nicht beschmutzten. Er unterhielt sich zwar mit jemandem, aber sah immer wieder prüfend auf seine Füße hinab.
Ein paar Minuten später waren alle versorgt und aßen genüsslich. Dustin schmatzte laut.
Da kam Hafid herein: Brust nach vorne ausgestreckt, gefälschtes Louis-Vuitton-Kappie, Umhängetasche von Gucci, die zwischen Amis als homo rüberkommen würde, aber Hafid und seinen Jungs als wertvolles Statussymbol galt.
Als Hafid Dustin erblickte, sagte er in dominantem Ton: Schmatz nich' so, Junge!
Dustin verzog keine Miene. Er wirkte gutgelaunt.
Nach dem Essen ging Hafid an Dustin vorbei, in den Händen eine Glasschüssel mit Eiscreme. Er hatte sich soviel Schokosoße drauf geknallt, dass sie überzulaufen drohte. Aber irgendwie balancierte der Habibi sie graziös durch den Saal: Fast alles blieb in der Schüssel. Fast. Auf Dustins Höhe schwappte ein kleiner, brauner Soßenfleck über den Schüsselrand und tropfte zu Boden.
Dann klingelte Hafids Handy. Als Klingelton verwendete er einen Arab-Popsong: Die hohe Stimme eines leidenden Mannes, im Hintergrund schnelle Streicher, von einem Beat unterlegt. Hafid, das muss ich noch hinzufügen, war nicht der Hellste: Denn obwohl er die schwere Glasschüssel schleppte, griff er beim Klingeln seines Handys reflexartig in sein Täschchen, um das Handy herauszunehmen. Die Folge: Hafid ließ die Schüssel fallen. Mit einem lauten Klirren zerstob sie in zahllose Glassplitter; das Vanilleeis und die Schokosoße spritzen in alle Richtungen. Von einer Sekunde auf die andere waren Dustins Schuhe damit bespritzt.
Der Anruf muss für Hafid wichtig gewesen sein, da er sich um den Schaden nicht kümmerte, sondern abgehackte Sätze auf Arabisch ins Handy fluchte und dabei Richtung Ausgang marschierte.
Jetzt ging alles ganz schnell: Dustin griff sich ein großes Scherbenstück und schoss Hafid hinterher. Er brüllte seinen Namen. Einmal, während des Rennens.
Hafid drehte sich um, mit siegesgewissem Schafsgesicht, in das Dustin sofort mit der Scherbe hineinsprang. Zuerst schnitt er ihm die linke Wange auf, dass eine breite Blutspur die Haut öffnete; Dustin setzte ab und stach gleich nach: Nun spritzte das Blut in alle Richtungen, vor allem in Dustins Gesicht. Umherstehende Kinder gerieten in eine Schockstarre und starrten Dustin und sein Opfer wie angewurzelt an.
Hafid schrie wie am Spieß und wehrte sich aus Leibeskräften. Aber Dustin klebte an ihm fest und ließ sich nicht abwerfen.
Nach den Wangen nahm Dustin sich Hafids Stirn vor. Er ritzte die Zahl 150 hinein, weil, wie er später zum Besten gab, seine beschmutzten Schuhe ursprünglich so teuer gewesen seien. Danach war Dustin drauf und dran, die Scherbe in Hafids Halsschlagader zu rammen, als die Köche von der Essensausgabe dazwischen sprangen und zuallererst Dustin die Scherbe entrissen. (Nur darum ist Hafid heute noch am Leben und betreibt mittlerweile einen gut gehenden Autohandel sowie mehrere Shishabars in Frankfurt. Tiefe Narben zeichnen bis heute sein Gesicht. Und die Zahl. Hafid hat das nicht weglasern lassen, weiß der Teufel warum.)
Die Köche waren keine kleinen Männer, doch konnten Dustin, der besinnungslos in Richtung Hafid spuckte, trat und schlug, bloß in Schach halten. Es waren noch drei Betreuer nötig, um Hafid endgültig von Dustin zu befreien.
Nach der Aktion kam Dustin für ein paar Monate in die geschlossene Psychiatrie, aber aus Gründen, die ich als Heimkind nicht erfuhr, wurde er ein halbes Jahr später zurück ins Heim transferiert, (Interessehalber rief ich als Erwachsener in meinem ehemaligen Heim an, um mich zu erkundigen, warum Dustin seinerzeit zurück durfte. Erst wollte man mir nichts sagen. Ich redete solange auf eine Verwaltungsangestellte ein, bis sie damit rausrückte, die „Wiedereingliederung von Dustin Z.“ hätte „abrechnungstechnische Gründe“ gehabt.)
* * *
In der Nähe unserer Heims befand sich ein Restaurant, das in einem alten Fachwerkhaus lag. Es wurde betrieben von einem älteren Russen, dem Vladislav. Alle nannten ihn bloß Vladi. Offenbar ging er kriminellen Geschäften nach. Im Dorf tratschten manche über die fetten Gestalten mit den Gesichtstattoos, die in schweren Maybach-Limousinen bei Vladi vorfuhren.
Als Dustin vier Jahre alt war, brach sein Vater ihm das Jochbein, das tat er durch einen gezielten Faustschlag; Jahre später erzählte Dustin davon jemandem. Ich belauschte ihr Gespräch und erfuhr, dass Dustins Vater mit so einer Wucht zugeschlagen haben muss, dass man es bis in die Wohnung einer Nachbarin hörte.
Dustins heroinabhängige Mutter war oft tagelang in Junkie-Buden unterwegs; solchen, zu denen alle möglichen User einen Schlüssel hatten. Sie bekam vom Jochbeinbruch nicht viel mit. Und was sie davon erfahren hatte, war ihr weniger wichtig, als das Konsumieren.
Seit dem Jochbeinbruch lebte Dustin in einem Kinder- und Jugendheim. Dort wohnte ich in einer Etage mit ihm und hatte oft Gelegenheit, Dustin zu beobachten. Ins Heim kam ich mit sieben, nachdem meine Eltern bei einem Zugunglück ums Leben gekommen waren und kein Verwandter sich als gesetzlicher Vormund anbot. Dieses Heim befand sich in der hessischen Provinz.
Ich war neun, Dustin zwölf. Und er kam er mir unerreichbar vor. Sah zu ihm auf, denn er verkörperte alles, was ich damals nicht war: Groß, kräftig und – durchsetzungsfähig.
Dustins Markenzeichen war es, ausnahmslos weiße Turnschuhe zu tragen, auf denen sich, abgesehen von einem kleinen Markenlogo, kein weiterer Farbton fand. Die makellose Sauberkeit der Turnschuhe spielte in Dustins Leben eine zentrale Rolle. Ich habe nie herausgefunden, warum. Und ich wollte es auch nicht.
Abends, wenn die Zimmerbeleuchtungen automatisch ausgeschaltet worden waren, sah ich Dustin manchmal im Treppenflur sitzen. Dort brannte ein Notlicht, das einen silbernen Glanz warf. Darunter Dustin, dem Schuhputzen gewidmet, ausgerüstet mit verschiedenen Bürsten und Cremes, von denen er für die Seitenteile der Schuhe die eine Creme, für die Laschen eine spezielle Bürste und für die Sohlen ein Pflegemittel einsetzte, auf dessen Packung mir unbekannte Buchstaben einer fremden Sprache standen. Wenn Dustin diese Arbeiten erledigt hatte, imprägnierte er die Turnschuhe noch mit einem Spray; es roch stark nach Minze.
Im Heim gab es eine Art Anführer, der hieß Hafid. Angeblich war er siebzehn, doch alle wussten, dass er vor ein paar Jahren mit gefälschten Papieren aus Marokko eingereist war und wesentlich älter sein musste, denn über sein Gesicht verliefen kleine Falten.
Ab und an ließ Hamid einen provokanten Spruch vom Stapel, um Dustin zu ärgern; der ignorierte das aber. Dustin befolgte eine simple Lebensphilosophie: Morgens und abends beten, das Essen vor dem Essen segnen. Offenbar hatte er eine stabile Verbindung zu Gott und ließ sich nicht leicht aus der Ruhe bringen. Von einer Ausnahme abgesehen: Der Unversehrtheit seiner leuchtend weißen Turnschuhe.
Eines Tages war ich gezwungen, mitzuerleben, wozu Dustin fähig sein konnte. Ich verfluche diesen Tag heute noch, denn regelmäßig träume ich von ihm, erwache schweißgebadet. Die verdammten Bilder verfolgen mich... Ich muss sie aufschreiben.
Es war der letzte Schultag vor den großen Ferien: Der 8. Juli. Dustin schien gut aufgelegt, weil er von einer Lehrerin gelobt worden war. In Mathe, seinem stärksten Fach, hatte er die beste Klassenarbeit geschrieben. (Davon erzählte er auf dem Weg vom Schulgebäude zu den Wohnsilos einem Kumpel und ich hatte, hinter den beiden herlaufend, heimlich zugehört.)
Nach der Schule stand Chillen an, Gott einen guten Mann sein lassen. Und zum Mittagessen gab es zur Feier des Tages sogar Hamburger, als Nachtisch Vanilleeis mit Schokosoße. (Ansonsten bekamen wir im Heim meistens irgendwelche Öko-Mahlzeiten vorgesetzt.)
Ich stand in der Schlange und konnte es kaum erwarten, endlich in einen saftigen Burger zu beißen. Auf dem Weg zur Essensausgabe fiel mir auf, wie peinlich genau Dustin darauf achtete, dass vorbeihuschende Kinder seine Turnschuhe nicht beschmutzten. Er unterhielt sich zwar mit jemandem, aber sah immer wieder prüfend auf seine Füße hinab.
Ein paar Minuten später waren alle versorgt und aßen genüsslich. Dustin schmatzte laut.
Da kam Hafid herein: Brust nach vorne ausgestreckt, gefälschtes Louis-Vuitton-Kappie, Umhängetasche von Gucci, die zwischen Amis als homo rüberkommen würde, aber Hafid und seinen Jungs als wertvolles Statussymbol galt.
Als Hafid Dustin erblickte, sagte er in dominantem Ton: Schmatz nich' so, Junge!
Dustin verzog keine Miene. Er wirkte gutgelaunt.
Nach dem Essen ging Hafid an Dustin vorbei, in den Händen eine Glasschüssel mit Eiscreme. Er hatte sich soviel Schokosoße drauf geknallt, dass sie überzulaufen drohte. Aber irgendwie balancierte der Habibi sie graziös durch den Saal: Fast alles blieb in der Schüssel. Fast. Auf Dustins Höhe schwappte ein kleiner, brauner Soßenfleck über den Schüsselrand und tropfte zu Boden.
Dann klingelte Hafids Handy. Als Klingelton verwendete er einen Arab-Popsong: Die hohe Stimme eines leidenden Mannes, im Hintergrund schnelle Streicher, von einem Beat unterlegt. Hafid, das muss ich noch hinzufügen, war nicht der Hellste: Denn obwohl er die schwere Glasschüssel schleppte, griff er beim Klingeln seines Handys reflexartig in sein Täschchen, um das Handy herauszunehmen. Die Folge: Hafid ließ die Schüssel fallen. Mit einem lauten Klirren zerstob sie in zahllose Glassplitter; das Vanilleeis und die Schokosoße spritzen in alle Richtungen. Von einer Sekunde auf die andere waren Dustins Schuhe damit bespritzt.
Der Anruf muss für Hafid wichtig gewesen sein, da er sich um den Schaden nicht kümmerte, sondern abgehackte Sätze auf Arabisch ins Handy fluchte und dabei Richtung Ausgang marschierte.
Jetzt ging alles ganz schnell: Dustin griff sich ein großes Scherbenstück und schoss Hafid hinterher. Er brüllte seinen Namen. Einmal, während des Rennens.
Hafid drehte sich um, mit siegesgewissem Schafsgesicht, in das Dustin sofort mit der Scherbe hineinsprang. Zuerst schnitt er ihm die linke Wange auf, dass eine breite Blutspur die Haut öffnete; Dustin setzte ab und stach gleich nach: Nun spritzte das Blut in alle Richtungen, vor allem in Dustins Gesicht. Umherstehende Kinder gerieten in eine Schockstarre und starrten Dustin und sein Opfer wie angewurzelt an.
Hafid schrie wie am Spieß und wehrte sich aus Leibeskräften. Aber Dustin klebte an ihm fest und ließ sich nicht abwerfen.
Nach den Wangen nahm Dustin sich Hafids Stirn vor. Er ritzte die Zahl 150 hinein, weil, wie er später zum Besten gab, seine beschmutzten Schuhe ursprünglich so teuer gewesen seien. Danach war Dustin drauf und dran, die Scherbe in Hafids Halsschlagader zu rammen, als die Köche von der Essensausgabe dazwischen sprangen und zuallererst Dustin die Scherbe entrissen. (Nur darum ist Hafid heute noch am Leben und betreibt mittlerweile einen gut gehenden Autohandel sowie mehrere Shishabars in Frankfurt. Tiefe Narben zeichnen bis heute sein Gesicht. Und die Zahl. Hafid hat das nicht weglasern lassen, weiß der Teufel warum.)
Die Köche waren keine kleinen Männer, doch konnten Dustin, der besinnungslos in Richtung Hafid spuckte, trat und schlug, bloß in Schach halten. Es waren noch drei Betreuer nötig, um Hafid endgültig von Dustin zu befreien.
Nach der Aktion kam Dustin für ein paar Monate in die geschlossene Psychiatrie, aber aus Gründen, die ich als Heimkind nicht erfuhr, wurde er ein halbes Jahr später zurück ins Heim transferiert, (Interessehalber rief ich als Erwachsener in meinem ehemaligen Heim an, um mich zu erkundigen, warum Dustin seinerzeit zurück durfte. Erst wollte man mir nichts sagen. Ich redete solange auf eine Verwaltungsangestellte ein, bis sie damit rausrückte, die „Wiedereingliederung von Dustin Z.“ hätte „abrechnungstechnische Gründe“ gehabt.)
* * *
In der Nähe unserer Heims befand sich ein Restaurant, das in einem alten Fachwerkhaus lag. Es wurde betrieben von einem älteren Russen, dem Vladislav. Alle nannten ihn bloß Vladi. Offenbar ging er kriminellen Geschäften nach. Im Dorf tratschten manche über die fetten Gestalten mit den Gesichtstattoos, die in schweren Maybach-Limousinen bei Vladi vorfuhren.
Hin und wieder steckte Vladi mir einen Geldschein zu, nachdem ich für ihn beim örtlichen Tante-Emma-Laden Einkäufe erledigt hatte. Darüber ging es bei mir nicht hinaus.
Aber lass mich dir weiter von Dustin erzählen. Der geriet mit der Zeit nämlich immer näher an Vladi heran. Die Aktion mit Hafid hatte sich herumgesprochen und Dustin einen Ruf verschafft: Viele fürchteten oder verabscheuten ihn, aber kaum einer wagte es noch, sich mit ihm anzulegen.
Für solche Jungs hatte Vladi ein Gespür und wusste sie für seine Zwecke zu benutzen. Das war bei Dustin auch deshalb so, da er in einem Kampfsportverein wie ein Besessener an Kickboxtechniken trainierte.
Drogenhandel hatte Vladi reich gemacht, er ging nach altbewährtem Prinzip vor: Große Mengen sauberes Material kaufen, strecken und abpacken, dann die Jungs zum Dealen losschicken, vor allem ins Frankfurter Bahnhofsviertel.
Allerdings wollten auch andere ein Stück vom Kuchen. Immer wieder schickten rivalisierende Gangster ihre Jungs mit Material an die Straßenecken, um den Etablierten die Einnahmen streitig zu machen.
Hier kam Dustin ins Spiel. Vladi wollte sich das Geschäft nämlich von niemandem zerstören lassen; er hasste es, Geld zu verlieren. Der Vladi war so geizig, dass er im Winter die Heizung nur maximal bis 1,5 aufdrehte.
An solch kleinbürgerlichem Gehabe störte Dustin sich nicht, denn er arbeitete gerne für Vladi und konnte es kaum erwarten, wie ein scharf gemachter Pitbull, auf eine Straßenecke losgelassen zu werden.
Beim Kämpfen vergaß Dustin alles um sich herum. Egal, welchen Gegner er vor sich hatte: Jeder trug das Gesicht seines Vaters. Jeder. Und darum verdienten es alle, gegen ihn zu verlieren. Lowkicks, Schwinger, Drehkicks und Knockouts – gib ihm. Ob Kurden, Tschetschenen, Albaner, Araber, Italiener, Türken: Dustin wusste nicht, was Angst ist.
Es dauerte nicht lange, bis Dustin den Ruf eines Straßenkämpfers erlangt hatte. Mit vierzehn fuhr er ohne Führerschein im neusten CLS durch die Gegend. Immer ein dickes Bündel in der Tasche...
* * *
Später kam Dustin auf den Geschmack von LSD. Und fühlte dadurch kein Bedürfnis mehr, zu kämpfen. Spürte eine Erleichterung. Stand sich selbst gegenüber und führte eine verdammt lange Unterhaltung über sein bisheriges Leben. Bis der Flash abnahm. Bis Dustin von schizophrenen Schüben heimgesucht wurde. Bald stand Dustin jeden Tag vorm Spiegel und kämmte sich die Haare. Stundenlang. Dabei leise kichernd.
Als er mal hungrig war, legte er ein Aufbackbrötchen in die Mikrowelle. Der harte, schwarze Klumpen, welcher zwei Minuten später rauskam, brachte Dustin nicht aus der Ruhe.
Im Gegenteil. Dustin rammte ein langes Küchenmesser hinein, grinste mich an und sagte: Lass uns gehen, Mikey.
Das erhobene Messer in den Himmel gereckt, schritt Dustin wichtigtuerisch über das Heimgelände. Die anderen hatten schon Wind von seiner Veränderung bekommen und nahmen das aufgespießte Brötchen nicht so ernst. Sie konnten sich nicht denken, dass Dustin den Kohleklumpen kurz darauf an den Nachbarhund verfütterte.
Drei Stunden später klingelte es an der Tür unseres Jugendheimes. Erzürnte Nachbarn beschwerten sich lautstark über den Keuchhusten ihres Golden-Retrievers.
Habe Dustin seit über einem Jahrzehnt nicht gesehen. Das letzte, was ich von ihm hörte: Er wurde in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert. Seit Jahren spiele ich mit dem Gedanken, ihn mal zu besuchen. Zu schauen, was aus ihm geworden ist. Doch so schnell wie dieses Vorhaben in mir entsteht, verschwindet es auch wieder.
Vielleicht werde ich es noch tun. Aber das wäre eine neue Geschichte.
Dustins heroinabhängige Mutter war oft tagelang in Junkie-Buden unterwegs; solchen, zu denen alle möglichen User einen Schlüssel hatten. Sie bekam vom Jochbeinbruch nicht viel mit. Und was sie davon erfahren hatte, war ihr weniger wichtig, als das Konsumieren.
Seit dem Jochbeinbruch lebte Dustin in einem Kinder- und Jugendheim. Dort wohnte ich in einer Etage mit ihm und hatte oft Gelegenheit, Dustin zu beobachten. Ins Heim kam ich mit sieben, nachdem meine Eltern bei einem Zugunglück ums Leben gekommen waren und kein Verwandter sich als gesetzlicher Vormund anbot. Dieses Heim befand sich in der hessischen Provinz.
Ich war neun, Dustin zwölf. Und er kam er mir unerreichbar vor. Sah zu ihm auf, denn er verkörperte alles, was ich damals nicht war: Groß, kräftig und – durchsetzungsfähig.
Dustins Markenzeichen war es, ausnahmslos weiße Turnschuhe zu tragen, auf denen sich, abgesehen von einem kleinen Markenlogo, kein weiterer Farbton fand. Die makellose Sauberkeit der Turnschuhe spielte in Dustins Leben eine zentrale Rolle. Ich habe nie herausgefunden, warum. Und ich wollte es auch nicht.
Abends, wenn die Zimmerbeleuchtungen automatisch ausgeschaltet worden waren, sah ich Dustin manchmal im Treppenflur sitzen. Dort brannte ein Notlicht, das einen silbernen Glanz warf. Darunter Dustin, dem Schuhputzen gewidmet, ausgerüstet mit verschiedenen Bürsten und Cremes, von denen er für die Seitenteile der Schuhe die eine Creme, für die Laschen eine spezielle Bürste und für die Sohlen ein Pflegemittel einsetzte, auf dessen Packung mir unbekannte Buchstaben einer fremden Sprache standen. Wenn Dustin diese Arbeiten erledigt hatte, imprägnierte er die Turnschuhe noch mit einem Spray; es roch stark nach Minze.
Im Heim gab es eine Art Anführer, der hieß Hafid. Angeblich war er siebzehn, doch alle wussten, dass er vor ein paar Jahren mit gefälschten Papieren aus Marokko eingereist war und wesentlich älter sein musste, denn über sein Gesicht verliefen kleine Falten.
Ab und an ließ Hamid einen provokanten Spruch vom Stapel, um Dustin zu ärgern; der ignorierte das aber. Dustin befolgte eine simple Lebensphilosophie: Morgens und abends beten, das Essen vor dem Essen segnen. Offenbar hatte er eine stabile Verbindung zu Gott und ließ sich nicht leicht aus der Ruhe bringen. Von einer Ausnahme abgesehen: Der Unversehrtheit seiner leuchtend weißen Turnschuhe.
Eines Tages war ich gezwungen, mitzuerleben, wozu Dustin fähig sein konnte. Ich verfluche diesen Tag heute noch, denn regelmäßig träume ich von ihm, erwache schweißgebadet. Die verdammten Bilder verfolgen mich... Ich muss sie aufschreiben.
Es war der letzte Schultag vor den großen Ferien: Der 8. Juli. Dustin schien gut aufgelegt, weil er von einer Lehrerin gelobt worden war. In Mathe, seinem stärksten Fach, hatte er die beste Klassenarbeit geschrieben. (Davon erzählte er auf dem Weg vom Schulgebäude zu den Wohnsilos einem Kumpel und ich hatte, hinter den beiden herlaufend, heimlich zugehört.)
Nach der Schule stand Chillen an, Gott einen guten Mann sein lassen. Und zum Mittagessen gab es zur Feier des Tages sogar Hamburger, als Nachtisch Vanilleeis mit Schokosoße. (Ansonsten bekamen wir im Heim meistens irgendwelche Öko-Mahlzeiten vorgesetzt.)
Ich stand in der Schlange und konnte es kaum erwarten, endlich in einen saftigen Burger zu beißen. Auf dem Weg zur Essensausgabe fiel mir auf, wie peinlich genau Dustin darauf achtete, dass vorbeihuschende Kinder seine Turnschuhe nicht beschmutzten. Er unterhielt sich zwar mit jemandem, aber sah immer wieder prüfend auf seine Füße hinab.
Ein paar Minuten später waren alle versorgt und aßen genüsslich. Dustin schmatzte laut.
Da kam Hafid herein: Brust nach vorne ausgestreckt, gefälschtes Louis-Vuitton-Kappie, Umhängetasche von Gucci, die zwischen Amis als homo rüberkommen würde, aber Hafid und seinen Jungs als wertvolles Statussymbol galt.
Als Hafid Dustin erblickte, sagte er in dominantem Ton: Schmatz nich' so, Junge!
Dustin verzog keine Miene. Er wirkte gutgelaunt.
Nach dem Essen ging Hafid an Dustin vorbei, in den Händen eine Glasschüssel mit Eiscreme. Er hatte sich soviel Schokosoße drauf geknallt, dass sie überzulaufen drohte. Aber irgendwie balancierte der Habibi sie graziös durch den Saal: Fast alles blieb in der Schüssel. Fast. Auf Dustins Höhe schwappte ein kleiner, brauner Soßenfleck über den Schüsselrand und tropfte zu Boden.
Dann klingelte Hafids Handy. Als Klingelton verwendete er einen Arab-Popsong: Die hohe Stimme eines leidenden Mannes, im Hintergrund schnelle Streicher, von einem Beat unterlegt. Hafid, das muss ich noch hinzufügen, war nicht der Hellste: Denn obwohl er die schwere Glasschüssel schleppte, griff er beim Klingeln seines Handys reflexartig in sein Täschchen, um das Handy herauszunehmen. Die Folge: Hafid ließ die Schüssel fallen. Mit einem lauten Klirren zerstob sie in zahllose Glassplitter; das Vanilleeis und die Schokosoße spritzen in alle Richtungen. Von einer Sekunde auf die andere waren Dustins Schuhe damit bespritzt.
Der Anruf muss für Hafid wichtig gewesen sein, da er sich um den Schaden nicht kümmerte, sondern abgehackte Sätze auf Arabisch ins Handy fluchte und dabei Richtung Ausgang marschierte.
Jetzt ging alles ganz schnell: Dustin griff sich ein großes Scherbenstück und schoss Hafid hinterher. Er brüllte seinen Namen. Einmal, während des Rennens.
Hafid drehte sich um, mit siegesgewissem Schafsgesicht, in das Dustin sofort mit der Scherbe hineinsprang. Zuerst schnitt er ihm die linke Wange auf, dass eine breite Blutspur die Haut öffnete; Dustin setzte ab und stach gleich nach: Nun spritzte das Blut in alle Richtungen, vor allem in Dustins Gesicht. Umherstehende Kinder gerieten in eine Schockstarre und starrten Dustin und sein Opfer wie angewurzelt an.
Hafid schrie wie am Spieß und wehrte sich aus Leibeskräften. Aber Dustin klebte an ihm fest und ließ sich nicht abwerfen.
Nach den Wangen nahm Dustin sich Hafids Stirn vor. Er ritzte die Zahl 150 hinein, weil, wie er später zum Besten gab, seine beschmutzten Schuhe ursprünglich so teuer gewesen seien. Danach war Dustin drauf und dran, die Scherbe in Hafids Halsschlagader zu rammen, als die Köche von der Essensausgabe dazwischen sprangen und zuallererst Dustin die Scherbe entrissen. (Nur darum ist Hafid heute noch am Leben und betreibt mittlerweile einen gut gehenden Autohandel sowie mehrere Shishabars in Frankfurt. Tiefe Narben zeichnen bis heute sein Gesicht. Und die Zahl. Hafid hat das nicht weglasern lassen, weiß der Teufel warum.)
Die Köche waren keine kleinen Männer, doch konnten Dustin, der besinnungslos in Richtung Hafid spuckte, trat und schlug, bloß in Schach halten. Es waren noch drei Betreuer nötig, um Hafid endgültig von Dustin zu befreien.
Nach der Aktion kam Dustin für ein paar Monate in die geschlossene Psychiatrie, aber aus Gründen, die ich als Heimkind nicht erfuhr, wurde er ein halbes Jahr später zurück ins Heim transferiert, (Interessehalber rief ich als Erwachsener in meinem ehemaligen Heim an, um mich zu erkundigen, warum Dustin seinerzeit zurück durfte. Erst wollte man mir nichts sagen. Ich redete solange auf eine Verwaltungsangestellte ein, bis sie damit rausrückte, die „Wiedereingliederung von Dustin Z.“ hätte „abrechnungstechnische Gründe“ gehabt.)
* * *
In der Nähe unserer Heims befand sich ein Restaurant, das in einem alten Fachwerkhaus lag. Es wurde betrieben von einem älteren Russen, dem Vladislav. Alle nannten ihn bloß Vladi. Offenbar ging er kriminellen Geschäften nach. Im Dorf tratschten manche über die fetten Gestalten mit den Gesichtstattoos, die in schweren Maybach-Limousinen bei Vladi vorfuhren.
Als Dustin vier Jahre alt war, brach sein Vater ihm das Jochbein, das tat er durch einen gezielten Faustschlag; Jahre später erzählte Dustin davon jemandem. Ich belauschte ihr Gespräch und erfuhr, dass Dustins Vater mit so einer Wucht zugeschlagen haben muss, dass man es bis in die Wohnung einer Nachbarin hörte.
Dustins heroinabhängige Mutter war oft tagelang in Junkie-Buden unterwegs; solchen, zu denen alle möglichen User einen Schlüssel hatten. Sie bekam vom Jochbeinbruch nicht viel mit. Und was sie davon erfahren hatte, war ihr weniger wichtig, als das Konsumieren.
Seit dem Jochbeinbruch lebte Dustin in einem Kinder- und Jugendheim. Dort wohnte ich in einer Etage mit ihm und hatte oft Gelegenheit, Dustin zu beobachten. Ins Heim kam ich mit sieben, nachdem meine Eltern bei einem Zugunglück ums Leben gekommen waren und kein Verwandter sich als gesetzlicher Vormund anbot. Dieses Heim befand sich in der hessischen Provinz.
Ich war neun, Dustin zwölf. Und er kam er mir unerreichbar vor. Sah zu ihm auf, denn er verkörperte alles, was ich damals nicht war: Groß, kräftig und – durchsetzungsfähig.
Dustins Markenzeichen war es, ausnahmslos weiße Turnschuhe zu tragen, auf denen sich, abgesehen von einem kleinen Markenlogo, kein weiterer Farbton fand. Die makellose Sauberkeit der Turnschuhe spielte in Dustins Leben eine zentrale Rolle. Ich habe nie herausgefunden, warum. Und ich wollte es auch nicht.
Abends, wenn die Zimmerbeleuchtungen automatisch ausgeschaltet worden waren, sah ich Dustin manchmal im Treppenflur sitzen. Dort brannte ein Notlicht, das einen silbernen Glanz warf. Darunter Dustin, dem Schuhputzen gewidmet, ausgerüstet mit verschiedenen Bürsten und Cremes, von denen er für die Seitenteile der Schuhe die eine Creme, für die Laschen eine spezielle Bürste und für die Sohlen ein Pflegemittel einsetzte, auf dessen Packung mir unbekannte Buchstaben einer fremden Sprache standen. Wenn Dustin diese Arbeiten erledigt hatte, imprägnierte er die Turnschuhe noch mit einem Spray; es roch stark nach Minze.
Im Heim gab es eine Art Anführer, der hieß Hafid. Angeblich war er siebzehn, doch alle wussten, dass er vor ein paar Jahren mit gefälschten Papieren aus Marokko eingereist war und wesentlich älter sein musste, denn über sein Gesicht verliefen kleine Falten.
Ab und an ließ Hamid einen provokanten Spruch vom Stapel, um Dustin zu ärgern; der ignorierte das aber. Dustin befolgte eine simple Lebensphilosophie: Morgens und abends beten, das Essen vor dem Essen segnen. Offenbar hatte er eine stabile Verbindung zu Gott und ließ sich nicht leicht aus der Ruhe bringen. Von einer Ausnahme abgesehen: Der Unversehrtheit seiner leuchtend weißen Turnschuhe.
Eines Tages war ich gezwungen, mitzuerleben, wozu Dustin fähig sein konnte. Ich verfluche diesen Tag heute noch, denn regelmäßig träume ich von ihm, erwache schweißgebadet. Die verdammten Bilder verfolgen mich... Ich muss sie aufschreiben.
Es war der letzte Schultag vor den großen Ferien: Der 8. Juli. Dustin schien gut aufgelegt, weil er von einer Lehrerin gelobt worden war. In Mathe, seinem stärksten Fach, hatte er die beste Klassenarbeit geschrieben. (Davon erzählte er auf dem Weg vom Schulgebäude zu den Wohnsilos einem Kumpel und ich hatte, hinter den beiden herlaufend, heimlich zugehört.)
Nach der Schule stand Chillen an, Gott einen guten Mann sein lassen. Und zum Mittagessen gab es zur Feier des Tages sogar Hamburger, als Nachtisch Vanilleeis mit Schokosoße. (Ansonsten bekamen wir im Heim meistens irgendwelche Öko-Mahlzeiten vorgesetzt.)
Ich stand in der Schlange und konnte es kaum erwarten, endlich in einen saftigen Burger zu beißen. Auf dem Weg zur Essensausgabe fiel mir auf, wie peinlich genau Dustin darauf achtete, dass vorbeihuschende Kinder seine Turnschuhe nicht beschmutzten. Er unterhielt sich zwar mit jemandem, aber sah immer wieder prüfend auf seine Füße hinab.
Ein paar Minuten später waren alle versorgt und aßen genüsslich. Dustin schmatzte laut.
Da kam Hafid herein: Brust nach vorne ausgestreckt, gefälschtes Louis-Vuitton-Kappie, Umhängetasche von Gucci, die zwischen Amis als homo rüberkommen würde, aber Hafid und seinen Jungs als wertvolles Statussymbol galt.
Als Hafid Dustin erblickte, sagte er in dominantem Ton: Schmatz nich' so, Junge!
Dustin verzog keine Miene. Er wirkte gutgelaunt.
Nach dem Essen ging Hafid an Dustin vorbei, in den Händen eine Glasschüssel mit Eiscreme. Er hatte sich soviel Schokosoße drauf geknallt, dass sie überzulaufen drohte. Aber irgendwie balancierte der Habibi sie graziös durch den Saal: Fast alles blieb in der Schüssel. Fast. Auf Dustins Höhe schwappte ein kleiner, brauner Soßenfleck über den Schüsselrand und tropfte zu Boden.
Dann klingelte Hafids Handy. Als Klingelton verwendete er einen Arab-Popsong: Die hohe Stimme eines leidenden Mannes, im Hintergrund schnelle Streicher, von einem Beat unterlegt. Hafid, das muss ich noch hinzufügen, war nicht der Hellste: Denn obwohl er die schwere Glasschüssel schleppte, griff er beim Klingeln seines Handys reflexartig in sein Täschchen, um das Handy herauszunehmen. Die Folge: Hafid ließ die Schüssel fallen. Mit einem lauten Klirren zerstob sie in zahllose Glassplitter; das Vanilleeis und die Schokosoße spritzen in alle Richtungen. Von einer Sekunde auf die andere waren Dustins Schuhe damit bespritzt.
Der Anruf muss für Hafid wichtig gewesen sein, da er sich um den Schaden nicht kümmerte, sondern abgehackte Sätze auf Arabisch ins Handy fluchte und dabei Richtung Ausgang marschierte.
Jetzt ging alles ganz schnell: Dustin griff sich ein großes Scherbenstück und schoss Hafid hinterher. Er brüllte seinen Namen. Einmal, während des Rennens.
Hafid drehte sich um, mit siegesgewissem Schafsgesicht, in das Dustin sofort mit der Scherbe hineinsprang. Zuerst schnitt er ihm die linke Wange auf, dass eine breite Blutspur die Haut öffnete; Dustin setzte ab und stach gleich nach: Nun spritzte das Blut in alle Richtungen, vor allem in Dustins Gesicht. Umherstehende Kinder gerieten in eine Schockstarre und starrten Dustin und sein Opfer wie angewurzelt an.
Hafid schrie wie am Spieß und wehrte sich aus Leibeskräften. Aber Dustin klebte an ihm fest und ließ sich nicht abwerfen.
Nach den Wangen nahm Dustin sich Hafids Stirn vor. Er ritzte die Zahl 150 hinein, weil, wie er später zum Besten gab, seine beschmutzten Schuhe ursprünglich so teuer gewesen seien. Danach war Dustin drauf und dran, die Scherbe in Hafids Halsschlagader zu rammen, als die Köche von der Essensausgabe dazwischen sprangen und zuallererst Dustin die Scherbe entrissen. (Nur darum ist Hafid heute noch am Leben und betreibt mittlerweile einen gut gehenden Autohandel sowie mehrere Shishabars in Frankfurt. Tiefe Narben zeichnen bis heute sein Gesicht. Und die Zahl. Hafid hat das nicht weglasern lassen, weiß der Teufel warum.)
Die Köche waren keine kleinen Männer, doch konnten Dustin, der besinnungslos in Richtung Hafid spuckte, trat und schlug, bloß in Schach halten. Es waren noch drei Betreuer nötig, um Hafid endgültig von Dustin zu befreien.
Nach der Aktion kam Dustin für ein paar Monate in die geschlossene Psychiatrie, aber aus Gründen, die ich als Heimkind nicht erfuhr, wurde er ein halbes Jahr später zurück ins Heim transferiert, (Interessehalber rief ich als Erwachsener in meinem ehemaligen Heim an, um mich zu erkundigen, warum Dustin seinerzeit zurück durfte. Erst wollte man mir nichts sagen. Ich redete solange auf eine Verwaltungsangestellte ein, bis sie damit rausrückte, die „Wiedereingliederung von Dustin Z.“ hätte „abrechnungstechnische Gründe“ gehabt.)
* * *
In der Nähe unserer Heims befand sich ein Restaurant, das in einem alten Fachwerkhaus lag. Es wurde betrieben von einem älteren Russen, dem Vladislav. Alle nannten ihn bloß Vladi. Offenbar ging er kriminellen Geschäften nach. Im Dorf tratschten manche über die fetten Gestalten mit den Gesichtstattoos, die in schweren Maybach-Limousinen bei Vladi vorfuhren.
Hin und wieder steckte Vladi mir einen Geldschein zu, nachdem ich für ihn beim örtlichen Tante-Emma-Laden Einkäufe erledigt hatte. Darüber ging es bei mir nicht hinaus.
Aber lass mich dir weiter von Dustin erzählen. Der geriet mit der Zeit nämlich immer näher an Vladi heran. Die Aktion mit Hafid hatte sich herumgesprochen und Dustin einen Ruf verschafft: Viele fürchteten oder verabscheuten ihn, aber kaum einer wagte es noch, sich mit ihm anzulegen.
Für solche Jungs hatte Vladi ein Gespür und wusste sie für seine Zwecke zu benutzen. Das war bei Dustin auch deshalb so, da er in einem Kampfsportverein wie ein Besessener an Kickboxtechniken trainierte.
Drogenhandel hatte Vladi reich gemacht, er ging nach altbewährtem Prinzip vor: Große Mengen sauberes Material kaufen, strecken und abpacken, dann die Jungs zum Dealen losschicken, vor allem ins Frankfurter Bahnhofsviertel.
Allerdings wollten auch andere ein Stück vom Kuchen. Immer wieder schickten rivalisierende Gangster ihre Jungs mit Material an die Straßenecken, um den Etablierten die Einnahmen streitig zu machen.
Hier kam Dustin ins Spiel. Vladi wollte sich das Geschäft nämlich von niemandem zerstören lassen; er hasste es, Geld zu verlieren. Der Vladi war so geizig, dass er im Winter die Heizung nur maximal bis 1,5 aufdrehte.
An solch kleinbürgerlichem Gehabe störte Dustin sich nicht, denn er arbeitete gerne für Vladi und konnte es kaum erwarten, wie ein scharf gemachter Pitbull, auf eine Straßenecke losgelassen zu werden.
Beim Kämpfen vergaß Dustin alles um sich herum. Egal, welchen Gegner er vor sich hatte: Jeder trug das Gesicht seines Vaters. Jeder. Und darum verdienten es alle, gegen ihn zu verlieren. Lowkicks, Schwinger, Drehkicks und Knockouts – gib ihm. Ob Kurden, Tschetschenen, Albaner, Araber, Italiener, Türken: Dustin wusste nicht, was Angst ist.
Es dauerte nicht lange, bis Dustin den Ruf eines Straßenkämpfers erlangt hatte. Mit vierzehn fuhr er ohne Führerschein im neusten CLS durch die Gegend. Immer ein dickes Bündel in der Tasche...
* * *
Später kam Dustin auf den Geschmack von LSD. Und fühlte dadurch kein Bedürfnis mehr, zu kämpfen. Spürte eine Erleichterung. Stand sich selbst gegenüber und führte eine verdammt lange Unterhaltung über sein bisheriges Leben. Bis der Flash abnahm. Bis Dustin von schizophrenen Schüben heimgesucht wurde. Bald stand Dustin jeden Tag vorm Spiegel und kämmte sich die Haare. Stundenlang. Dabei leise kichernd.
Als er mal hungrig war, legte er ein Aufbackbrötchen in die Mikrowelle. Der harte, schwarze Klumpen, welcher zwei Minuten später rauskam, brachte Dustin nicht aus der Ruhe.
Im Gegenteil. Dustin rammte ein langes Küchenmesser hinein, grinste mich an und sagte: Lass uns gehen, Mikey.
Das erhobene Messer in den Himmel gereckt, schritt Dustin wichtigtuerisch über das Heimgelände. Die anderen hatten schon Wind von seiner Veränderung bekommen und nahmen das aufgespießte Brötchen nicht so ernst. Sie konnten sich nicht denken, dass Dustin den Kohleklumpen kurz darauf an den Nachbarhund verfütterte.
Drei Stunden später klingelte es an der Tür unseres Jugendheimes. Erzürnte Nachbarn beschwerten sich lautstark über den Keuchhusten ihres Golden-Retrievers.
Habe Dustin seit über einem Jahrzehnt nicht gesehen. Das letzte, was ich von ihm hörte: Er wurde in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert. Seit Jahren spiele ich mit dem Gedanken, ihn mal zu besuchen. Zu schauen, was aus ihm geworden ist. Doch so schnell wie dieses Vorhaben in mir entsteht, verschwindet es auch wieder.
Vielleicht werde ich es noch tun. Aber das wäre eine neue Geschichte.