Der Kindheit entwachsen

Ruedipferd

Mitglied
3.Teil

Fortsetzung des Romans "Im falschen Geschlecht" nach dem vorigen Kapitel: Endlich ein Junge

Der Kindheit entwachsen



Unser Hotel lag in Hamburgs City an der Alster. Wir konnten von unserem Zimmer aufs Wasser sehen.Ich war begeistert. Wenn man, wie ich, aus einem kleinen bayerischen Dorf kam, ist eine Großstadt wie Hamburg der absolute Wahnsinn. Rene lebte in Norderstedt, einem Vorort, und kannte sich dementsprechend gut aus. Wir waren am Freitagnachmittag angereist. Mein Flieger nach Hause sollte am Sonntagnachmittag starten.

Und Samstag spielte der HSV gegen Dortmund. Rene war Fußballfan wie ich. Das erste, was wir taten, war, Dr. Reimers zu fragen, ob wir das Spiel sehen durften. Er hatte schließlich die Aufsicht und organisierte unsere Freizeit an diesem Wochenende. Darüber hinaus waren wir minderjährig. Er lachte verständnisvoll. Es war sechs Uhr abends und wir saßen im Essensraum des Hotels. Er bat uns auf seine Ansprache zu warten.

„Einen schönen guten Abend, meine jungen Damen und Herren.“ Freudig schaute der Doc von einem zum anderen. „Ich freue mich, dass ihr alle es geschafft habt, heute an unserem ersten Treffen teilzunehmen. Ich sehe diesen Kontakt als sehr wichtig und bedeutsam für euch an, denn ihr lernt auf diese Weise das erste Mal andere Kinder und Jugendliche kennen, denen es genauso geht wie euch. Nutzt die Zeit für private Gespräche. Tauscht eure Handynummern aus und versucht später in Kontakt zu bleiben, wenn ihr erwachsen seid. Nicht alle von euch werden den eingeschlagenen Weg zu Ende gehen. Aber gerade für diejenigen, die es tun, ist es wichtig, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, um von den Erfahrungen der anderen zu profitieren.“ Eines der Mädchen meldete sich. „Ja, Caro, was gibt es?“

„Warum sind nur zwei Jungen dabei, hatten die anderen keine Lust?“ „Nein, das sind im Augenblick die einzigen Herren, die wir in dieser Altersklasse haben. Es kommen sehr viel mehr Mädchen zu mir in die Sprechstunde als Jungen. Ich rätsle selbst über die Gründe. Bei Rene und Max trat die transsexuelle Prägung schon sehr früh im Kleinkindalter auf. Beide wussten, dass sie keine Mädchen, sondern Jungen waren. Ich denke, es liegt an der Gesellschaft und an den Eltern. Wenn sich ein Mädchen wie ein Junge verhält, hat es weniger Probleme mit der Umwelt, als umgekehrt. Es wird toleriert, wenn ein Mädchen keine Kleider tragen will. Für die Eltern läuten zunächst keine Alarmglocken. An ihrer Tochter ist nur ein Junge verloren gegangen und sie denken, sie wird sicher eine emanzipierte Frau werden, was den Eltern in der Regel recht ist. Das war eine sehr gute Frage. Wir sind deshalb hier zusammen gekommen, damit ihr Fragen stellen könnt. Transsexualität ist kein Kinderspiel. Ihr habt es etwas besser als eure erwachsenen ‚Kollegen‘, weil ihr frühzeitig die Gelegenheit erhalten habt, euch zu dem Geschlecht zu bekennen, dass ihr in euch fühlt.“ Ich meldete mich.

„Meine Mutter hat mal unserem Pfarrer den Marsch geblasen und gesagt, dass unser Gehirn bestimmt, wer oder was wir sind.“

„Ja, das ist richtig. Davon gehe ich auch aus. Ohne die Leistung unserer Gehirne ist der menschliche Körper nur ein Klumpen Fleisch. Wenn das Gehirn nicht richtig funktioniert, benötigen wir Hilfe bei den einfachsten Aufgaben. So wie es bei geistig Behinderten der Fall ist. Ein schwer behinderter Mensch kann nur in der Gemeinschaft mit Gesunden überleben und wäre allein nicht in der Lage, sich gegen wilde Tiere zu wehren oder sich Nahrung zu suchen. Das Gehirn ist somit unser Motor. Und es entscheidet, wenn wir vor der Frage stehen, ob wir Junge oder Mädchen sind.“

Wir waren bereits mitten in der Diskussion. Alle sprachen durcheinander.

„Bitte nehmt die Namensschildchen, die ich euch vorhin gegeben habe, und befestigt sie an euch. So könnt ihr einander schneller kennen lernen. Ich habe mein Zimmer hier im Hotel und bleibe bei euch, damit wir uns gegenseitig Löcher in den Bauch fragen können. Allerdings soll der Spaß nicht zu kurz kommen und Hamburg bietet Einiges. Ich wurde schon auf das Fußballspiel morgen angesprochen. Wer hat außer Rene und Max Interesse am Volksparkstadion? Es besteht die Möglichkeit im Nebengebäude Schlittschuhe auszuleihen, während eine Gruppe Fußball schaut. Es gibt dort nämlich eine Sommereisbahn.“

Drei Mädchen wollten spontan zum Fußball, der Rest entschied sich für die Eishalle. Rene und ich schauten uns an. Arschkarte. Beides ging wohl nicht. Der Doc telefonierte mit einer seiner Sprechstundenhilfen. Sie wollte kommen und die Eisgruppe begleiten. Am nächsten Morgen sollte eine Psychologin einen Vortrag bei uns halten und hinterher mit uns diskutieren.

„Schreibt euch in die Liste ein, die ich jetzt rumgebe. Für Sonntagvormittag habe ich eine Hafenrundfahrt geplant. Zu Planten un Blomen oder Hagenbeck reicht leider die Zeit nicht aus. Aber wenn euch das Seminar gefallen hat, versuchen wir es im nächsten Jahr zu wiederholen und dann steht Hagenbeck auf dem Programm.“

Alicia, die jüngste mit dreizehn Jahren, hob ihren Arm. „Dürfen wir nicht morgen Abend zum König der Löwen? Ich freue mich schon so sehr darauf.“

„Dafür habe ich dreizehn Karten bestellt, elf Kids und zwei erwachsene Begleitpersonen. Wir fahren gemeinsam mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und ich bitte euch auf jeden Fall bei der Gruppe zu bleiben. Bitte auch die beiden siebzehn- bzw. achtzehnjährigen Damen. Ich trage während dieser drei Tage die Verantwortung für euch und möchte alle wieder heil und gesund bei den Eltern abliefern. So wie ich sehe, gibt es Abendbrot. Wir treffen uns um halb acht Uhr im Seminarraum zum weiteren Kennenlernen und Quatschen. Da versuchen wir eine gemütliche Sofarunde aufzubauen.“

Ich spürte Hunger. Das Essen war reichlich und schmeckte gut. Es gab Würstchen, Kartoffelsalat und Brot mit Aufschnitt. Rene und ich langten ordentlich zu. Die Mädchen an unserem Tisch staunten Bauklötze, was wir in uns hinein futterten. Aber Rene spielte Tennis im Verein und manchmal Eishockey. Er traf sich mit ein paar Kumpels jeden Tag zum Skateboarden. Wir brauchten beide viele Kalorien für unsere sportlichen Aktivitäten.

„Ich warte schon sehnsüchtig auf meine Hormone“, sagte ich zu ihm und nahm mir das sechste Würstchen.

„Ich auch. Meine Kumpels haben alle mit dem Stimmbruch angefangen.“ Ich nickte traurig.

„Ja, mein bester Freund Andy hat mir gezeigt, was für Kunststücke sein bestes Stück kann und ich saß wie Pik Sieben daneben. Es ist schon ein Kreuz. Die Mädels haben, was wir so gerne hätten.“ Melanie und Kerrin hörten uns aufmerksam zu. Kerrin schüttelte genervt den Kopf.

„Ich hatte schon befürchtet, dieses Gespräch würde nie enden. Wie appetitanregend, mit euch zweien am Tisch zu sitzen. Wir können gerne tauschen.“ Melanie gab ihr Recht.

„Mein komisches Teil da unten könnt ihr liebend gern bekommen. Es gehört da nicht hin und ist total umsonst. Schade, eigentlich bräuchten die Chirurgen doch nur unsere Teile abnehmen und bei euch anbauen. Das würde die Operation sehr vereinfachen.“

Keine schlechte Idee, dachte ich bei mir.

„Das will ich aber erst sehen. Nicht, dass ich etwas zu Kleines kriege.“ Melanie schüttelte den Kopf. „Wenn du dich als Frau fühlen und so wie ich aussehen würdest, wärst du garantiert nicht zufrieden. Wir können froh sein, dass es den Doc und sein Team gibt.“ Oh, das hörte sich nicht gut an. Ich spürte ein schlechtes Gewissen.

„Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Bist ‘n sehr nettes Mädel.“ Sie verzog ihren Mund. Kerrin brachte es geschickt und diplomatisch auf den von beiden beabsichtigten Punkt.

„Deine Freundin kann sich glücklich schätzen. Ein junger Graf, mit Schloss und Manieren. Das gibt es heute nicht oft.“ Hach, das ging runter wie Öl. Ich überlegte, bevor ich die Katze aus dem Sack ließ, ob ich das letzte Würstchen noch essen sollte und drehte mich zu Rene. Der hatte es bereits selbst in Augenschein genommen. „

Wollen wir teilen?“, meinte er. Im nächsten Moment stachen unsere beiden Gabeln zu und machten der Wurst erst mal den Garaus. Melanies Blicke ruhten auf mir. Ja, Süße, ich muss dich leider enttäuschen. Du willst wissen, ob ich noch frei bin. Nein, bin ich nicht. Jenny hat gewisse Vorrechte. Erst einmal war sie vor dir da, zweitens ritt sie gut und… ihr Vater trug einen Titel. Zwar nur ein einfacher Freiherr von Regitz, aber immerhin. Ich begann wie meine Eltern standesgemäß zu denken. Es gab so wenige von uns, dass wir versuchen mussten, ein paar Adelsgeschlechter zu erhalten.

„Ich habe eine Freundin, sie heißt Jenny von Regitz und reitet im Landeskader von Schleswig-Holstein. Wir haben uns in Warendorf beim Sichtungslehrgang kennengelernt. Aber ich denke, sie hat nichts dagegen, wenn ich nett zu euch bin, solange es nicht in zu wilde Knutschereien ausartet und sie sich Sorgen machen muss. Sie weiß von mir und findet nichts dabei. Wenn ich erst Hormone bekomme, werde ich männlicher aussehen und nach der OP besteht die Möglichkeit eine Pumpe in den Penis einzusetzen, so dass ich mit einem Mädchen schlafen kann.“

Melanie sah mich mit verklärtem Blick an. „Verloben heißt: Festhalten und Weitersuchen.“

„Also, unsere OP ist ebenfalls nicht ohne. Der Schniedel wird weggeschnitten und nach innen gestülpt, so dass eine Vagina daraus wird. Wichtig ist die Harnröhrenverkürzung. Da darf nichts schief gehen, sonst trägt Frau Windeln. Aber es gibt inzwischen sehr gute Ärzte und Kliniken, die das machen. Ich weiß nur noch nicht, ob ich mir Silikon in die Brust einsetzen lassen will“, meinte Kerrin und machte ihrem Herzen ungeniert Luft.

„Was sagt denn der Doc dazu?“, meldete sich Rene. „Ich hab dank ihm keine Regel mehr gekriegt, sonst wäre ich wohl total durch geknallt. Die erste Blutung war so schrecklich, dass ich dachte, mein letztes Stündlein hat geschlagen und ich war erst knapp Zwölf gewesen.“

„Ja“, antwortete ich. „Mir ging es genauso. Und was das Silikon angeht, da wäre ich vorsichtig. Nicht auszudenken, wenn das ausläuft! Das gibt doch bestimmt genug Sachen für euch zum Unterstopfen. Meine Klassenkameradinnen tragen alle so besondere BH‘s, wo es mehr scheint, als tatsächlich da ist.“

Rene grinste und meinte: „Stell dir vor, du bist so weit, das du ihr in die Oberweite greifen darfst und da ist nur Stoff. So’n Shit, das wird die totale Verarsche für dich.“

Die Mädchen kicherten. Unser Doc löste den Abendbrottisch auf, wir durften auf unsere Zimmer gehen. Melanie nahm mich besitzergreifend in den Arm. Geiles Gefühl, als Junge so angebaggert zu werden.

Rene zog die Gardinen vor und knipste seine Nachttischlampe an. Es wurde gemütlich. Ich schaltete meinen Laptop ein.

„Sind da auch Lesben dabei?“, fragte Melanie, als ich den anderen meine Lieblingsseiten zeigte.

Die Bilder lösten spontane Erregung bei mir aus. Inzwischen wusste ich, dass die Klitoris für meinen Lustgewinn verantwortlich war und es immer bleiben musste. Einen richtigen Penis mit Schwellkörper, so wie ihn Andy besaß, werde ich nie haben können und somit war mir ein Orgasmus als Mann verwehrt. Ich schluckte traurig, als ich daran dachte. Da werde ich endlich irgendwann ein Mann sein und das Wichtigste, den Orgasmus, kann ich nur wie eine Frau erleben. Irre. Und irgendwie ungerecht. Es war fies, gemein, was mit uns geschah. Wir hatten doch niemandem etwas getan. Warum mussten wir so leiden? Missgeburt, da war es wieder. Das Wort, das mir eine leise Stimme in meinen ersten jungen Kinderjahren immer zuflüsterte, wenn ich über mich nachdachte und mich damit oft bis an den Rand des Wahnsinns brachte.

„Ich glaube, wir werden alle bisexuell“, erklärte ich den anderen und versuchte mich damit aus der Lethargie zu holen. „Das ist irgendwie logisch. Allerdings ein Vorteil bei der Partnersuche. Man hat mehr Möglichkeiten, den oder die Richtige zu finden.“ Melanie schmiegte sich wie ein Kätzchen an mich.

„Wenn deine Jenny keine Lust mehr auf dich hat, ziehe ich gerne zu dir aufs Schloss und werde Gräfin. Ansonsten werde ich nach der OP Lesbe.“

Rene platzte heraus: „Vielleicht eine lesbische Gräfin.“

Ich sah auf die Zeit. Es war gleich halb acht Uhr und wir sollten in den Seminarraum kommen. Ich wollte mir noch etwas zu trinken besorgen. Wobei, ein paar Bier hatte ich schon im Rucksack. Die gehörten Rene und mir heute am späten Abend. Der Gutenachttrunk für echte Männer!

Die Mädchen wollten sich frisch machen. Mit Cola, Schokolade und Gummibärchen betraten wir Jungen den Gruppenraum. Dort lernten wir die anderen Mädels kennen. Wir waren beide heißbegehrt. Alle wollten neben uns sitzen und sich an uns kuscheln. Ich legte meinen Arm mal um die eine und mal um eine andere.

„Was ist bei uns eigentlich normal, Doc. Werden wir hetero oder schwul-lesbisch oder alles davon?“, fragte ich Herrn Reimers.

„Wieder so eine gute Frage. Max, wenn ich das wüsste, wäre ich vielleicht schon reich. Ich denke, dass ihr bereits viel weiter seid und eure ersten Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt habt, stimmt’s?“

Ich grinste. „Ich habe eine Freundin, mit der ich aber außer Knutschen noch nicht viel anfangen kann. Auch mit meinem Freund war es schön.“

„Und jetzt kommt meine Gretchenfrage: Max, als was hast du dich dabei gefühlt und gesehen? Als Mädchen oder als Junge?“

Ich sah den Doktor an, trank einen Schluck Cola und antwortete selbstsicher: „Als Junge. Ausschließlich. Ich bin wahrhaftig kein Mädchen.“

„Ist es denn normal, wenn ich mich als Mädchen fühle und mit Mädchen schmusen will, obwohl ich biologisch ein Junge bin?“, fragte Meike und schien sehr verunsichert und ängstlich zu sein.

„Es ist alles normal, Meike. Wichtig ist dein Gefühl. Wenn es dir dabei gut geht, kannst du jeden Partner wählen. Deine sexuelle Ausrichtung und deine transsexuelle Prägung haben nichts miteinander zu tun. Du musst dir nur sicher sein, dass du wirklich als Mädchen leben willst und kannst. Wenn du nur leichte Zweifel spürst, warte mit der gegengeschlechtlichen Hormoneinnahme. Dein Gehirn entwickelt sich noch und es kann dir plötzlich signalisieren, dass du doch ein Junge bist. Ihr reift alle in einem unterschiedlichen Tempo. Niemand kann vorhersehen, was in ein, zwei oder drei Jahren sein wird. Deshalb sind wir Ärzte so vorsichtig. Kollegen von mir gehen noch viel weiter und sagen, dass unsere Methode falsch ist, weil laut ihrer Studien ein großer Teil Jugendlicher sich mit seinem Geschlecht aussöhnt und schwul oder lesbisch wird“, erklärte Herr Reimers.

Katharina war bereits achtzehn Jahre alt und hatte die ersten weiblichen Hormone eingenommen. Sie empörte sich heftig.

„Hört bloß auf mit diesem Idiotenverein. Die nennen das standards of care und sind Ärzte ohne eigene persönliche transsexuelle Erfahrung. Man muss selbst betroffen sein, um das verstehen zu können. Die Behandlung, die wir hier erhalten, ist die einzig Vernünftige. Bei Herrn Reimers steht der Mensch, der einzelne Mensch im Vordergrund. Nicht das Profilierungsdenken von Ärzten, die vielleicht nur auf eine Professur hoffen und bereit sind, dafür über unsere Leichen zu gehen. Ich konnte nur deshalb anständig meine Schule weitermachen, weil ich wusste, dass mir der Doc mit spätestens Achtzehn helfen würde. Meine Eltern erlaubten mir mit sieben Jahren als Mädchen zur Schule zu gehen. Sie halfen mir, wo sie nur konnten. Ich verdanke ihnen und Doktor Reimers mein Leben. Und das tut ihr in gewisser Hinsicht alle.“

Das waren ehrliche Worte. Ich hatte schon viele Lebensgeschichten von Transsexuellen im Internet und in Büchern gelesen. Mein Bücherschrank glich fast der Schlossbibliothek meines Vaters. Die meisten bekamen die Unterstützung erst als Erwachsene und so lange gab es das Transsexuellengesetz noch nicht. Die Medizin machte in den letzten Jahren große Fortschritte, die an uns nicht spurlos vorüber gingen. Gerade die OP Frau zu Mann war sehr schwierig, weil ein Penis aufgebaut werden musste. Es gab einige Ärzte in Deutschland, die das in unterschiedlichen Zeiten konnten. Die Angleichung bestand aus mehreren Eingriffen, die jeder für sich recht umfangreich waren. Oder es gab eine einzige große OP, die allerdings sehr viel kostete und nicht immer von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen wurde.

Für mich konnte ich mir diese Lösung vorstellen. Das Ganze fand in einer Privatklinik statt. Es gab dabei kaum Komplikationen und darauf kam es doch an. Man musste an den Menschen denken und das Beste für jeden Einzelnen tun. Ich hatte Glück, denn meine Eltern konnten die Kosten bezahlen, wobei mein Vater einen großen Teil von unserer privaten Krankenversicherung zurückbekam. Das war inzwischen wohl von jemandem gerichtlich durchgesetzt worden. Die bezahlten auch die Behandlung bei Doktor Reimers vollständig. Ich erzählte den anderen, was ich wusste.

„Du bist sehr weit für dein Alter, Max. Aber das liegt sicher an deiner besonderen Erziehung“, meinte Herr Reimers.

Ich lachte. „Wir liegen in Bayern in Pisa nicht umsonst so weit vorn. Es wird am Gymnasium bei uns viel verlangt und ohne freiwilliges Lernen und Büffeln ist das nicht zu schaffen. Aber ich bin in gewisser Weise sehr streng, beziehungsweise standesbewusst erzogen worden. Mein Vater meint immer: Adel verpflichtet. Das hörte ich mitunter täglich und es prägte sich irgendwann ein. Die Religion ist bei uns ebenso nachhaltig. Bei unserem alten Pfarrer hatte ich es sehr schwer gehabt, aber meine Mutter hat dem ordentlich die Meinung gesagt. Der Neue ist da toleranter. Und ich hab ihm übel mitgespielt, aber das gehört hier nicht her.“

Erschrocken schwieg ich. Das Erlebnis mit dreizehn Jahren belastete meine Seele, trotz fleißiger Gartenarbeit. Es schlich sich immer in meine Gedanken und meine momentane Erlebenswelt, wenn ich das Gefühl hatte richtig glücklich zu sein.

Ich spürte plötzlich Müdigkeit und musste gähnen. Einige andere reagierten darauf und wollten ins Bett. Dr. Reimers löste die Gruppe auf.

„Ich wünsche euch allen eine gute Nacht. Wir treffen uns morgen früh um acht Uhr im Frühstücksraum.“

Rene und ich putzten nach dem Duschen die Zähne und schlüpften zusammen mit meinem Laptop unter seine Bettdecke.

Nach dem Frühstück am anderen Morgen trafen wir uns wieder im Seminarraum. Die Psychologin war gekommen und stellte sich vor. Sie hieß Irmtraud Wagner und arbeitete schon lange mit jugendlichen und erwachsenen Transsexuellen. Wir erfuhren einiges über Gerichtsgutachten und Kostenübernahmeerklärungen der Krankenkassen.

„Das soll erst mal genügen. Das meiste ist nur für eure Eltern wichtig, doch ihr müsst über diese rechtlichen Sachen Bescheid wissen. Mit dem Gerichtsbeschluss über die Vornamen- und Personenstandänderung dürft ihr euch an euer Geburtsstandesamt wenden. Die Geburtsurkunde wird auf Antrag auf den neuen Namen umgeschrieben und das Geschlecht wird geändert. Wenn ihr später dazu etwas wissen wollt, hilft euch Herr Reimers gerne und ich bin ebenfalls hier ortsansässig. Nun, habt ihr Fragen an mich? Vor allem menschliche? Wie kommt ihr mit eurer Umgebung klar? Eltern, Geschwister, Freunde, Schulkameraden? Gibt es irgendwo Mobbing wegen eurer Andersartigkeit?“

Ich überlegte einen Moment. „Wir haben uns gestern über die sogenannten standards of care unterhalten, in denen Regeln aufgestellt werden, wie man uns ärztlich behandeln soll. Wie denken Sie darüber?“

Katharina richtete sich auf. „Gute Frage, ich habe nämlich von anderen gehört, die dadurch sehr schlechte Erfahrungen bei Ärzten gemacht haben“, sagte sie. Ich hatte wohl ihr Lieblingsthema getroffen. Wir saßen wieder in unserer Sofarunde zusammen. Dr. Reimers war jetzt nicht anwesend.

„Ja, in der Tat, ich sehe schon, ihr seid bestens informiert. Das ist wichtig, denn ihr allein bestimmt über euer Leben. Nun, ich stehe diesen standards sehr verhalten gegenüber, um es mal vorsichtig auszudrücken. Die meisten Leute, die sie aufstellten, waren Ärzte und keine Patienten. Man kann sich zwar in andere Menschen hinein fühlen und das gelingt vielen Zeitgenossen sogar sehr gut, aber letzten Endes ist der Mensch selbst ausschlaggebend. Kleine Kinder wissen schon sehr früh, ob sie Junge oder Mädchen sind. Ich gehe davon aus, dass es ihnen eine Stimme im Kopf mitteilt, sobald sie die Welt bewusst wahrnehmen können. Einem Kind die Fähigkeit abzusprechen, sein eigenes Geschlecht benennen zu können, bedeutet schlicht eine Respektlosigkeit vor dem kleinen Wesen und die Nichtbeachtung seiner Persönlichkeit. Mit all den negativen Folgen, die so etwas für die kindliche Seele und ihre Entwicklung hat. Wir müssen einander zunächst ernst nehmen. Warum soll ein Mädchen, das sich als Junge fühlt, keine Hosen tragen und mit Jungenspielzeug spielen dürfen? Und wenn es lieber mit einem Jungennamen gerufen werden will, was spricht dagegen? Kinder verkleiden sich gerne und spielen. Irgendwann beginnt er/sie ein neues Spiel, das da heißt, ich will ab sofort wieder ein Mädchen/Junge sein. So, und das ist der springende Punkt. Wenn dies nicht kommt, muss man das Kind genau beobachten und fragen, was anders läuft. Bleibt ein Kind bis zum Beginn der Pubertät in der gewünschten geschlechtlichen Rolle, ist davon auszugehen, dass möglicherweise eine transsexuelle Prägung vorliegen könnte. Und es ist Fingerspitzengefühl gefragt. Der Körper wird sich dem biologischen Geschlecht gemäß entwickeln und die Unterdrückung der Pubertät ist eine Möglichkeit, diesem Kind alle Optionen offenzuhalten. Ich halte es für besser, die körperliche geschlechtliche Entwicklung auszusetzen, denn der Patient will gerade diese Entwicklung verhindern, als darauf zu vertrauen, dass die meisten sich mit ihrem Geschlecht aussöhnen und homosexuell werden. Die sexuelle Ausrichtung hat mit dem selbst empfundenen Geschlecht nichts zu tun und die weiblichen oder männlichen Körperteile werden von Kindern abgelehnt, die sich dem Gegengeschlecht angehörig fühlen. Warum muss man sie zwingen, diese Organe zur vollen Funktion zu bringen? Die Kinder sind ohnehin schon gestresst genug und leiden unter ihrem Geschlechtsfehler. Das ist dem Gedanken von Hilfe und helfen wollen völlig abtrünnig. Wann hast du festgestellt, dass du kein Mädchen bist?“ Sie sah mich fragend an.

„So mit dem dritten oder vierten Lebensjahr. Ich wusste es einfach. Da waren mein Vater und unser Chauffeur Gerhard, Hartmut Berger, der Förster, und mein Reitlehrer Robert. Frauen gab es auf dem Schloss auch, aber ich war wie mein gleichaltriger Freund Jacob und die erwachsenen Männer. Ich brauchte das nicht zu hinterfragen. Was sollte ein Mädchen eigentlich sein? Ich war jedenfalls keines. Es gab jedes Mal einen riesen Aufstand, wenn meine Mutter mich als Mädchen herausputzen wollte. Meine Eltern ignorierten in dieser Hinsicht meine Wünsche und meinen Willen und ich musste tun, was sie bestimmten. Das war sehr schwer, denn ich wollte sie nicht verlieren oder dass sie böse mit mir sind. Wobei ich irgendwann mein eigenes Ding durchgezogen hab. Und mir war es egal, ob ich ihnen Scherereien mit meinem Geschlechtsproblem machte. Als ich meine erste Regel bekam, wäre ich am liebsten gestorben. Das Gespräch mit meiner Mutter fiel an dem Tag sehr heftig aus und setzte wohl ein Umdenken bei ihr in Gang. Gottseidank ist sie mit einer Psychologin befreundet, die ihr die Telefonnummern von Herrn Reimers und Frau Michelsen gab. Das war die Kehrtwende in meinem Leben.“

Die Mädchen begannen sich zu unterhalten. Sie erzählten ihre eigenen Geschichten. Den meisten war es ähnlich ergangen. Frau Wagner lächelte.

„Das hatte ich mir gedacht. Es wäre wichtig gewesen, dich mit deiner Aussage ernst zu nehmen, um dir auf diese Weise nicht nur geschlechtliche Sicherheit zu geben, sondern auch Selbstwertgefühl. Aber deine Eltern haben noch rechtzeitig die Kurve bekommen und dafür kannst du ihnen dankbar sein. Wie gesagt sehe ich nicht ein, warum man Kinder quälen soll, damit sie eine geschlechtliche Entwicklung durchmachen, die sie auf das Tiefste ablehnen. Jeder Mensch wird sein Leben so einrichten, wie er es gut findet. Und wer sich als junger Erwachsener mit seinem biologischen Geschlecht aussöhnt und in der Ausrichtung schwul oder lesbisch leben will, wird das auch durchsetzen. Meine Aufgabe als Psychologin ist es, auf den Menschen zu achten. Ich respektiere die Wünsche und dadurch entwickelt sich Selbstvertrauen und Selbstsicherheit beim Patienten. Davon können wir gar nicht genug haben. Natürlich dürft ihr nicht alles. Ein paar Regeln, vor allem die Strafgesetze und den Straßenverkehr, müsst ihr beachten. Aber das tut jeder vernünftige Mensch. Ihr könnt das umso besser, je sicherer ihr euch selbst erlebt.“

Bis auf Bärbel erzählten alle der Reihe nach von sich und den eigenen Erfahrungen. Bärbel saß still neben uns. Ich tauschte mit Rene den Platz und stupste sie an. Sie war sehr zart und machte den Eindruck, als würde sie jeden Moment zerbrechen.

„Hey, was ist mit dir. Du warst gestern Abend schon so traurig, gefällt es dir nicht bei uns?“, fragte ich sie. Melanie horchte auf und Kerrin blickte sofort zu uns.

„Doch, es, es ist schön bei euch zu sein. Ich habe Schwierigkeiten mit meinen Eltern und den Geschwistern. Zwei meiner drei Brüder sind älter und sie drohen mir immer Prügel an. Ich bin eine Schwuchtel und kein normaler Mensch wegen meiner Sache, sagen sie. Wenn es nach meinen Eltern ginge, wäre ich nicht hier. Sie wollten, dass ich in die Psychiatrie komme, weil bei mir eine Schraube locker ist.“

Frau Wagner beendete sofort ihr Gespräch mit Rene. „Bärbel, wie alt bist du?“, fragte sie. „Ich bin jetzt Fünfzehn.“

„Gut, damit bist du alt genug, um dein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich werde mit Herrn Reimers sprechen, damit er versucht, an deine Eltern heranzukommen. Sie sind der Schlüssel zu deinen Brüdern. Andererseits müssen wir möglicherweise sehen, ob wir dich woanders unterbringen können, damit du frei von Zwang und Gewalt deine Entwicklung abwarten kannst. Du bist nicht geisteskrank und du bist kein Fall für die Psychiatrie. Das muss deinen Eltern erklärt werden. Meistens machen die sich Gedanken und glauben, sie haben bei ihrer Erziehung etwas falsch gemacht. Oder ihre eigenen Gene sind schuld an deiner Ausprägung. Das ist alles Quatsch und ich hoffe, Herr Reimers kann deinen Eltern helfen.“

Bärbel kuschelte sich an mich. „Danke, ich bin nicht so stark und manchmal habe ich schon daran gedacht, dass es besser wäre, tot zu sein.“

Nein, um Gottes Willen. Der Schreck traf mich sehr. Melanie, Kerrin und Katharina standen spontan auf und knieten sich vor sie hin. Melanie nahm sie in den Arm, Kerrin umschloss ihre Hände.

„Liebes, daran darfst du nicht einmal im Traum denken. Du bekommst jetzt alle Hilfe der Welt. Ich verstehe, was der Doc gestern gemeint hat. Wir müssen zusammenhalten und uns gegenseitig helfen. Wir sind für dich da. Und wenn du nicht mehr zu Hause wohnen willst, finden wir eine Lösung. Wir können zusammen eine WG gründen“, sagte Katharina.

Frau Wagner atmete laut aus und machte sich zufrieden Notizen.

„Das müsst ihr auch. Ihr braucht den Kontakt zu anderen Transsexuellen. Später rate ich euch, die Erwachsenen in ihrer Gruppe zu besuchen. Natürlich erst, wenn ihr selbst erwachsen seid. Jetzt reichen eure Beziehungen völlig aus und Herr Reimers koordiniert euch. Er konnte euch nur so zusammenbringen, denn er muss das Arztgeheimnis wahren. Wir haben lange überlegt, wie wir es am besten anstellen, damit ihr einander kennenlernt. Manchmal klappt es im Wartezimmer, wenn die Spritzen- und Behandlungstermine gleich liegen, aber es erschien uns besser, ein solches Seminar ins Leben zu rufen.“

Ich fühlte eine innere Wärme in mir aufsteigen und kämpfte kurzzeitig vor Rührung mit den Tränen. Diesen Moment der Anteilnahme und des Geborgenseins im Kreise meiner neuen Freunde, aufgefangen durch Ärzte wie Frau Wagner und Herrn Reimers, würde ich niemals vergessen. An diese Gefühle konnte ich mich später erinnern, wenn es Schwierigkeiten geben würde. Ich dachte daran, anderen Transsexuellen zu helfen, sobald ich erwachsen war. Ich wollte etwas von diesen schönen Augenblicken an jene weitergeben, die es vielleicht noch mehr brauchten als ich.

Es war Mittag geworden. Frau Wagner gab jedem von uns ihre Karte. Wir sollten sie anrufen, wenn es Probleme gab. Sie würde dafür nichts nehmen, solange sie nicht von unseren Eltern einen entsprechenden Auftrag bekam und über die Krankenkasse abrechnen konnte. Sie verabschiedete sich.

„Wenn also irgendjemand Dummheiten plant, ruft bitte erst an. Blödsinn könnt ihr danach immer noch machen, aber wir sollten vorher drüber reden.“

Wir brachten sie mit viel Beifall zur Tür.

Zeit fürs Mittagessen. Herr Reimers war anwesend und führte während der Mittagspause einige persönliche Gespräche. Rene und ich machten uns Fußballfertig. Wir schwelgten in Vorfreude auf unser Spiel und wollten uns auf jeden Fall einen HSV Schal besorgen. Kerrin neckte uns. Sie stand auf Dortmund.

Ein gelungener Nachmittag schloss sich an, den am Abend der König der Löwen toppte. Ich hatte ihn somit zum zweiten Mal gesehen. Die Baronin hielt damals nämlich Wort und schickte meiner Mutter drei Eintrittskarten für die Ehrenloge. Aber die Aufführung jetzt inmitten von ‚Leidensgenossen‘ sehen zu dürfen, war einfach toll. Wie selbstverständlich besuchten Rene und ich die Herren- und die Mädchen die Damentoilette. Wir fielen nicht auf. Niemand nahm Notiz von uns. Wir gehörten in unserer selbst erlebten Geschlechterrolle zur normalen Gesellschaft dazu. Nach der Hafenrundfahrt am nächsten Tag saßen wir zum Abschlussgespräch bei Kakao und Kuchen im Seminarraum zusammen. Alle wollten ein weiteres Treffen und baten Herrn Reimers, im nächsten Jahr wieder etwas zu organisieren. Rene und ich versprachen, einander zu besuchen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen Andy gegenüber und überlegte, wie ich ihm meine Gefühle für Rene am besten beibringen konnte. Auf dem Rückflug grübelte ich. Mir war nicht gut, aber da musste ich wohl durch.

Zuhause überraschte mich mein Vater damit, dass er mich zum nächsten Termin in Hamburg begleiten wollte, der Mitte März anstand. Er sollte Geschäftspartner treffen. In etwas mehr als drei Monaten würde er mit mir fliegen und sich ein Männerwochenende mit mir gönnen, wie er augenzwinkernd meinte. Mum sollte nicht allzu viel erfahren. Ich dachte mir meinen Teil. Ich war in bestimmter Hinsicht wesentlich weiter als mein Vater ahnte.

Trotzdem kam Vorfreude auf.

Die Zeit verging. Andy erschien eines Nachmittags bei mir auf dem Schloss. Er musste dringend mit mir reden. Oh je. Mein Mut rutschte in die Hose. Wir hatten uns seit meiner Rückkehr verhalten wie immer und ich brachte es nicht übers Herz ihm von Rene zu erzählen, dem ich in der Zwischenzeit fleißig Mails schickte. Auch Jenny schrieb. Ich hatte also drei Beziehungen am Laufen.

Andy trat etwas zusammengesunken zu mir ins Zimmer. Sonst rannte er immer die Stufen hinauf, aber heute war es anders. Er sah nicht gut aus. Wir küssten uns wie sonst.

„Max, ich muss dir etwas sagen. Bitte, du darfst mir nicht böse sein. Ich liebe dich, aber es ist wie verhext. Max, ich hab da jemand kennengelernt, beim Fußballlehrgang. Und, ich,…oh Shit.“ Er druckste.

„Ein anderer Junge?“, fragte ich. „Und du hast mit ihm…?“

Mein bester Freund nickte blass mit dem Kopf. Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich schrie erleichtert auf.

„Freut dich das etwa? Ist dir unsere Freundschaft so wenig wert?“, empörte er sich. Ich nahm ihn in die Arme. Meinen Mund presste ich auf seinen und unsere Zungen verschmolzen miteinander.

„Einen Augenblick“, sagte ich und stand auf, um meine Zimmertür abzuschließen. Normalerweise klopften alle an, die zu mir wollten, aber man konnte nie wissen. Ich zeigte ihm Rene auf dem Handy. „Er heißt Rene und weiß über dich Bescheid. Wir waren die einzigen Jungen. Als wir uns zusammen auf meinem Laptop entsprechende Seiten ansahen, passierte es einfach. Männer reagieren auf Bilder. Er wird mich im Sommer besuchen kommen und möchte dich kennen lernen. Er will mich nicht heiraten, das überlässt er gerne dir.“

Andy warf sich gespielt wütend auf mich. Wir rauften und rangelten auf meinem Bett. „Weißt du, wie viel Blut und Wasser ich geschwitzt habe, weil ich nicht wusste, wie du meinen Ausrutscher mit Thorsten aufnimmst?“

„Ich habe nächtelang nicht geschlafen, weil ich Angst vor dir hatte und nicht wollte, dass es wegen Rene aus zwischen uns ist“, konterte ich.

„Oh, wie sind wir doch bescheuert!“ Andy sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Ja, wir sind schon dämliche Schwuchteln, wobei: Bist du noch mit Jenny zusammen?“

Ich bejahte. „Aber an uns wird sich nie etwas ändern, Andy. Du bist mein Freund und wenn ich zweimal heiraten könnte, wärst du mein Mann. Aber ich brauche irgendwann eine Frau, damit wir Kinder kriegen können.“

„Wir können auch als schwules Paar Kinder bekommen. Wir suchen uns ein lesbisches Mädchenpaar.“ „Ach, Andy, woher nimmst du deine überragende Intelligenz. Ich weiß nur nicht, ob meine Eltern dich gerne als Gräfin Wildenstein haben wollen.“ Andy starrte mich an.

„Andere Version. Ich lass mich zur Frau operieren, mein Sperma wird vorher eingefroren und du lässt deine Eizellen einfrieren. Wir ziehen mit einer geburtswilligen Lesbe zusammen und leben glücklich zufrieden bis an unser Lebensende hier auf dem Schloss.“

„Und wenn wir nicht gestorben sind, leben wir noch heute!“ Ich konnte nicht mehr vor Lachen. Andy meinte es tatsächlich ernst. Wir waren beide Siebzehn und die Welt lag uns zu Füßen. Was eines Tages aus uns werden würde, wusste ich nicht.

„Du, ich fahre nächsten Monat mit meinem Dad nach Hamburg zur Spritze. Er will Geschäftspartner treffen und hat so komische Andeutungen gemacht, von wegen Männerweekend und so. Ich glaub, der will mich aufklären. Hihi. Ich weiß doch dank Hubis Website seit langem bestens Bescheid und mit Jenny probiere ich nach der OP meine Pumpe aus. Sie hat mich durch die Blume wissen lassen, dass sie es will. Ich erzählte ihr von Melanie und von unserem Treffen. Die Mädels mailen inzwischen, aber ich hab manchmal das Gefühl, die machen sich einen Spaß mit mir und wollen mich nur verarschen.“

Andy lachte sarkastisch auf. „Warum, glaubst du, fange ich mit dem Weibervolk nichts mehr an? Ich will mich doch nicht dauernd zum Affen machen lassen. Die sind alle gleich und wollen von uns nur das eine. Ne, ein Junge ist da viel unkomplizierter. Der macht keinen Beziehungsstress und so.“

Ich gab ihm einen Kuss.

Gottseidank hatte mein Fehltritt unserer Beziehung keinen Abbruch getan. Erschrocken sah ich auf die Uhr. Ich musste in den Stall. Die tägliche Reitstunde stand auf dem Programm. Mein Freund lachte.

„Die hast du doch gerade mit mir gehabt, mein Guter.“

Wir zogen uns an. Ich rannte in Reithosen die Treppe zum Stall hinunter. Andy sah mir noch einige Augenblicke beim Training zu und lächelte, als er ging. Auch er schien erleichtert zu sein.

Am Abend erfuhr Rene von mir alles. Er erhielt Andys Mailadresse. Die zwei verabredeten sich tatsächlich im Sommer und schickten sich sogar anzügliche Angebote. Das Leben ist doch schön, dachte ich bei mir.

Die Wochen vergingen schnell. Im März startete unser Flieger nach Hamburg. Vater wusste von Rene und lud ihn zu Samstag ein. Wir wollten zum Fußball und am Sonntag zum Eishockey.

Am Freitag früh um halb zehn Uhr sollte ich zum Termin in der Praxis sein. Doktor Reimers verhielt sich abwartend. Das kam mir irgendwie komisch vor. So war er sonst nie. Womöglich war dies die letzte Spritze, die meine weibliche Pubertät heraus zögerte. Würde er Wort halten und mir das erste Testosteron geben? Er sprach zunächst lange mit meinem Vater, welcher sehr ernst aus dem Sprechzimmer kam. Ich ging hinein.

„Doc, kann ich was fragen?“

„Aber immer, Max. Was gibt’s?“ „Ich hab im April Geburtstag.“

„Oh, das ist schön für dich. Aber vorher gratulieren, bringt Unglück.“

„Doc, wir kennen uns schon so lange und bitte, das ist keine Verarschung. Wann darf ich mit der Hormonbehandlung anfangen?“

„Max, wenn ich dich jetzt verarschen wollte, würde ich sagen, du bekommst seit deinem dreizehnten Lebensjahr bereits Hormone, aber das ist es nicht. Es ist auch für mich immer ein besonderer Moment, wenn ihr das Erwachsenenalter erreicht habt. Ein banger Moment. Die erste Testosteronspritze ist nicht schlimm, aber nach der zweiten und dritten treten meistens irreversible Veränderungen an der Stimme auf. Ich denke dann immer an euch und ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben. Ich fühle mich bei euch wie ein Vater, dessen Tochter das erste Mal ein Date mit einem Jungen hat und bei dir ist es so, als ob mein eigener Sohn vor mir sitzt. Ich fühle und leide mit jedem von euch mit und ich will das Richtige tun, verstehst du?“

Ja, ich verstand ihn nur zu gut. Ich war mir der Bedeutung des Augenblicks bewusst. Das gehörte zu einem Weg, der mich unabänderlich in die Welt der Erwachsenen führte. Wie ich mich auch entschied, ich musste für immer damit leben. Aber ich war mir sicher. All die Gefühle aus frühen Kindertagen und meine Erlebnisse als Jugendlicher konnten mich nicht getäuscht haben, es konnte kein Irrtum sein. Ich war ein Mann und würde in meinem weiblichen Körper, wenn er entwickelt wäre, als Frau nicht leben können.

Ich sagte es dem Doc, der mich seit fünf Jahren wirklich wie ein Vater durch die Höhen und Tiefen der Jugendzeit begleitet hatte. Ich war mir sicher, ganz sicher. Er drückte auf die Gegensprechanlage und bat die Sprechstundenhilfe, meinen Vater aufzurufen. Der kam erwartungsvoll ins Zimmer und setzte sich auf den Stuhl, der neben mir stand.

„Max! Wiederhole bitte, was Du mir eben gesagt hast“, forderte mich der Doc auf.

„Ich würde mich freuen, wenn wir mit der Hormonbehandlung beginnen könnten. Ich bin mir ganz sicher, dass ich ein Junge bin und als Mann leben möchte. Genauso sicher bin ich mir, dass ich nicht als Frau leben kann und will.“

„Gut, ich respektiere deine Entscheidung und bin einverstanden“, hörte ich meinen Vater sagen. Doktor Reimers erhob sich und zeigte mir den Weg zur Liege, auf der ich sonst meine Spritze bekam. Er ging an seinen Medikamentenschrank, zog eine Kanüle auf. Ich sah aus dem Augenwinkel, dass es eine andere Schachtel war. Ich ließ die Hosen ein Stück runter, so dass er die Spritze in den Po setzen konnte.

„Es wird intramuskulär gespritzt, tief in den Muskel und dazu ist am besten der Hintern geeignet. Die Spritze wird jetzt alle drei Wochen gegeben. Nach der Operation alle sechs bis zehn Wochen, je nachdem, wie sich der Patient damit fühlt. Lebenslang, Max. Es wird dir schlecht gehen, wenn dein Testosteronwert zu niedrig ist und vor allem, du kannst Osteoporose bekommen. Es ist wichtig für dich, endokrinologisch gut eingestellt zu bleiben. Ich hatte deine Werte letztes Mal bereits kontrolliert und wir werden uns schon in zwei Monaten wiedersehen. Die Spritzen schreibe ich dir auf und telefoniere mit deinem Hausarzt. Er wird sie dir in Zukunft geben. Du musst dir selbst den Turnus auf dem Kalender notieren. Das ist ab sofort deine Aufgabe. Aber du bist sehr Pflicht- und Verantwortungsbewusst und es geht um deine eigene Gesundheit. Wenn ausreichende Vermännlichung eingetreten ist und alle Werte nach der Operation im Normbereich liegen, können wir auf ein Gel umsteigen. Das wird angenehmer für dich sein, weil du damit dein Leben flexibler gestalten kannst und nicht vom Spritzentermin abhängig bist. Im Auslandsurlaub ist das Gel sehr hilfreich.“

Ich hörte nur halb zu. Den Einstich spürte ich nicht. Es war ein so bedeutungsvoller Moment und ich konnte an nichts mehr richtig denken. Ich hatte doch seit der Kindheit von dieser Spritze geträumt und nun? Was fühlte ich? Im Augenblick nichts. Leere. Vielleicht gehörte dieses Nichts, dieses tiefschwarze Loch, dazu? War es der Anfang, der gleichzeitig das Ende markierte? Ich sagte kein Wort, konnte es nicht, denn es fiel mir nichts ein.

Vater sprach mit der Sprechstundenhilfe, verabredete den nächsten Termin und ich gab Doktor Reimers die Hand.

„Danke, ich werde das hier nie vergessen.“ Wir sahen uns an. Ich spürte den kräftigen Druck seiner Finger.

„Max, wir sehen uns. Ich wünsche dir alles Glück der Erde.“ Es war die richtige Entscheidung, wir wussten es beide. Vater ging mit mir in die nächste Apotheke und gab mir die Tüte mit den fünf Ampullen darin in die Hand. Ich passte gut darauf auf. Das Päckchen war meine Lebensversicherung und ich musste immer einen Vorrat davon bei mir haben.

Im Hotel simste ich Rene. Er rief auf dem Handy zurück.

„Ich gratuliere dir. Ich hatte meine vorgestern. Doch es bringt noch nichts. Erst die zweite oder dritte macht den Stimmbruch. Aber wir sollten morgen schon mal vorfeiern.“

Er musste zu einer schulischen Veranstaltung und hatte erst Morgen Zeit. Wir verabredeten uns im Hotel. Mein Vater wollte die Führung übernehmen, hatte drei Fußballtickets bestellt und mich in ein Doppelzimmer einquartiert, so dass Rene nicht mehr in der Nacht nach Hause fahren brauchte. Wir waren in einem Hotel abgestiegen, das sich direkt an der Reeperbahn befand.

Vater schmunzelte, als wir mit dem Taxi vom Doc kamen und an der Großen Freiheit und der Davidswache vorbeifuhren. Ich hatte die Leuchtreklame in mich aufgesogen und Ausschau nach den berühmten Mädchen von Sankt Pauli gehalten. Als Vater an meine Tür klopfte, packte ich gerade meine Sachen aus.

„Max, es ist Mittag. Bist du fertig? Ich nehme dich jetzt zum Geschäftsessen mit. Mr. Henson und Mr. Blake sind Briten, wir werden uns mit ihnen zum Lunch treffen. Du kannst deine Englischkenntnisse beweisen und hörst bitte zu, wie ich verhandle. Eines Tages wirst du für die Firma selbst unsere Auslandskunden betreuen.“

Er lächelte aufmunternd. Einem gelungenen Auftakt meiner Karriere als Geschäftsmann schloss sich ein ebenso schöner Nachmittag in Stellingen auf der Eisbahn an. Wir blieben noch etwas länger, weil es ein Eishockeyspiel für Jugendliche gab. Nach dem Spiel bekam ich mein Abendbrot an der Pommesbude. Vater musste um acht Uhr noch eine weitere geschäftliche Veranstaltung besuchen, zu der er mich aber nicht mitnehmen konnte. Er würde erst spät in der Nacht wiederkommen, sagte er. Mir war es recht. Ich wollte ausgiebig mit Andy telefonieren. Das Hotel verfügte über ein Hallenschwimmbad und einen Fitnessraum. Internet und Kabelfernsehen boten genug Abwechslung, dachte ich.

Um neun Uhr abends war mein gesamter Colavorrat leer und alle Süßigkeiten hatten ebenfalls ihren Weg in meinen Magen gefunden. Ich zappte durch die Kanäle. Langweiliges Programm. Die Fernsteuerung flog aufs zweite Bett. Ich zog mir ein frisches dunkles T-Shirt an und stellte fest, dass mir meine Jeans zu eng geworden war. Irgendwie bekam ich den Reißverschluss nur noch halb zu. Muss eben ein Stück offen bleiben. Ich hatte mir vor einiger Zeit ein künstliches Glied gekauft, welches ich in der Unterhose trug. Die Beule vorne sah geil aus. Ich griff mir meine Jacke, steckte etwas Geld in die Tasche und die mahnenden Worte meines Vaters, abends nicht ohne ihn aus dem Hotel zu gehen, waren Schall und Rauch von gestern.

Ich war Hamburg gewohnt und dachte mir nichts dabei, als ich vor dem Hotel stand und ein paar Schritte in die Richtung spazierte, aus der ich laute Musik hören konnte. Grelles Neonlicht empfing mich, hüllte mich ein und betörte meine Sinne. Gerüche von Bier, Zigarettenrauch und Schweiß drangen auf die Straße. Countrymusik, Jazz, Techno und Lieder aus dem Musikantenstadl vermischten sich. Autos hupten, eine Menschenmenge kam auf mich zu, ich wurde mitgerissen, noch ehe ich verstand, was geschah und blickte mich um. Überall ein Meer von Lichtern, noch mehr Menschen und ein Mädchen, grell geschminkt, in Moonboots und mit riesiger Oberweite, nahm mich in den Arm.

„Hey, Kleiner, wollen wir zu mir gehen, du bist aber süß“, sagte sie.

Ich ahnte, dass ich mich von ihr losmachen musste, bekam Panik und antwortete nur: „Danke, du auch. Aber ich bin noch keine Achtzehn.“

„Na, dann komm wieder, wenn du soweit bist“, lachte sie mir schallend hinterher. Es klang wie eine Ohrfeige. Puh, das war knapp gewesen und ich gerade noch einmal gerettet. Wo war ich hier gelandet? Ich taumelte ein Stück weiter in die Dunkelheit. Eine Kirche, ich las die Inschrift. Was? Auf der Reeperbahn gab es eine katholische Kirche? Wie konnte so etwas sein? Hier auf der sündigsten Meile der Welt? Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Neugierig und in der Hoffnung, dass mir dort oben nichts passieren würde, stieg ich die Stufen hoch. Die Tür war natürlich verschlossen. Klar, am Abend, das muss sicher so sein, dachte ich. Eine Gruppe japanischer Touristen zog unten auf der Straße an mir vorbei. Von hier oben hatte man einen guten Ausblick. Langsam wurde ich ruhiger und sicherer. Rechts verlief die Hauptstraße, ich musste also noch einmal durch die Menschenmenge zurück und zwischen die Bordelle entlang gehen. Dass ich fast geradezu in einen Puff hineingelaufen war, hatte ich inzwischen herausgefunden. Die Aufschrift auf der Tür war nicht zu übersehen.

Ich dachte an meinen Vater. Es schien doch etwas an den Warnungen dran zu sein, hier abends nicht allein herumzustromern. Wo lag nun das Hotel? Das war die Preisfrage und von der richtigen Antwort hing einiges für mich ab. Ich atmete durch. Langsam setzte ich mich in Bewegung und versuchte mich bewusst durch die Menschenansammlung zu manövrieren. Es klappte. Ich stand wieder an der lichtdurchfluteten, funkelnd lauten Straße und sah nach oben. Das Straßenschild gab mir den Rest. Große Freiheit, las ich und schluckte.

Da hatte ich wieder einmal meinem Vater eine Erfahrung voraus, wobei der sicher schon mal hier gewesen war. Aber halt nicht mit mir. Ich beschloss, mein Geheimnis für mich zu behalten. Langsam schlenderte ich an den Kneipen und Sexlokalen vorbei.

In einer dunklen Nische stand ein Junge, ungefähr so alt wie ich und starrte vor sich hin. Ich ging weiter. Das Bild hielt mich auf geheimnisvolle Weise fest. Abrupt machte ich wieder kehrt, ging auf den Jungen zu. Hey, den könnte ich nach dem Weg fragen, dachte ich und gab damit meinem merkwürdigen Verhalten einen vernünftigen Grund.





Hamburger Nächte



„Du, entschuldige, wo liegt das Mercator Hotel?“ Er sah müde aus.
„Hier nicht, bist du Tourist?“ Er grinste.
„Ich bin mit meinem alten Herrn da, aber der trifft Geschäftsleute und ich hab mich wohl verlaufen. Ich heiß Max.“
„Conny. Bist du aus Bayern, du klingst so anders?“
Ich musste lächeln.
„Das ist mir aber ziemlich unangenehm, eigentlich versuche ich ordentliches Hochdeutsch zu sprechen. Ich war heute Nachmittag im Eisstadion und morgen wollen wir den HSV sehen. Wenn nicht gerade Bayern spielt, steh ich auf Hamburg.“
Er lächelte nun auch.
„War lange nicht mehr dort. Ist sehr teuer und ich muss Geld verdienen.“
„Hier?“, fragte ich ihn irritiert.
„Ja, du nimmst mir gerade die Kundschaft weg. Ich warte auf Typen, die für einen Jungen bezahlen.“

Geschockt und verblüfft über seine direkte Antwort starrte ich ihn an. Gehört hatte ich davon. So wie es Frauen gab, die auf den Strich gingen, gab es auch Jungen, die das taten. In München war das keine Seltenheit, aber ich hatte noch nie Kontakt zu solchen Jungen gehabt.

„Verdienst du viel und wie läuft so etwas ab? Ich hab davon gehört, aber es noch nie gesehen, geschweige denn, selbst erlebt?“, fragte ich. Meine Neugierde siegte. Die Vorsicht flog gerade mit dem nächsten Luftzug um die Ecke. Was konnte mir schon passieren, Conny war nicht viel älter als ich.

„Ich bin Siebzehn und du?“, setzte ich nach.

„Ich auch, und ich mach das ziemlich lange. Meine Mutter hatte einen Typen nach Hause gebracht, der vermöbelte mich und da bin ich abgehauen. Aber von irgendwas musst du leben. Ein Freund hat mir den Tipp gegeben. Ich bin schwul, weißt du. Sonst kann man das nicht.“

Wow. Das war ehrlich. Ein unsichtbares Band hatte sich spontan um uns beide geschlungen.

„Wahnsinn. Das bin ich auch, obwohl ich zusätzlich eine Freundin hab. Aber ich kann mit ihr noch nichts anfangen. Ich muss erst operiert werden.“

Wir sahen einander in die Augen, er verstand nicht. Ich erzählte ihm meine Geschichte und spürte deutlich Überraschung und Anteilnahme.

„Wollen wir etwas trinken gehen?“, fragte ich und hoffte, er würde mir mehr über sein Leben erzählen. Er nickte, übernahm die Führung und schob mich zielstrebig zu einem der zahlreichen Kioske. Ich bestellte zwei Bier. Unzählige Menschen aller Nationalitäten und Hautfarben spazierten an uns vorbei. Von der Umgebung ging eine unbeschreibliche Atmosphäre aus, die jeden in ihren Bann zog. Das Sprachgemisch konnte nicht verwirrender sein. Conny kannte sich aus und er wird mir später den Weg zum Hotel zeigen, dessen war ich mir sicher. So ließ ich Leuchtreklame und Ambiente auf mich wirken, blickte mich interessiert um. Mein anfängliches Unbehagen verschwand. Neben Kiosken und einschlägigen Sexlokalen gab es Geschäfte, in denen man alles kaufen konnte, was mit Liebe zu tun hatte. Immer wieder traten grell geschminkte Frauen in engen Leggings auf vorüberziehende Männer zu. Das eine oder andere Mal hakten sie sich nach kurzem Gespräch unter und führten ihre Partner zu den Hauseingängen, wo beide verschwanden. Ich begann die Zeit mit meinem Handy zu stoppen. Nach einer halben Stunde kamen die meisten Herren wieder heraus. Kurz darauf erschienen auch die Frauen erneut. Conny grinste vielsagend, als ich ihn auf meine Beobachtungen aufmerksam machte. Er berichtete, wie es ablief, wenn er sich mit Männern traf. Eine fremde Welt wurde zum Greifen nah. Ich spürte merkwürdige Erregungen in mir. Mangel an Phantasie kannte ich nicht. Conny stand mit beiden Beinen auf der Erde und konnte mit seiner Erzählweise eine Situation herbeiführen, die einerseits in mir den begierigen Wunsch nach eigenem Erleben auslöste, mich kurz darauf jedoch mit Ekel und Ablehnung reagieren ließ. Es bildete sich eine ambivalente Spannung. Ich stellte mir ein Drahtseil vor. Ich hatte die Wahl: Von oben auf die verruchte Welt hinabzusehen und in gebührendem Abstand auf dem Seil in meiner eigenen Welt weiter zu wandern oder den Sprung nach unten zu wagen, um mit der neuen Welt zu verschmelzen. Meine Gedanken schweiften ab. Da gab es Sorgen um den Rückweg, wenn ich erst unten angekommen war. „Hörst du mir eigentlich zu?“ „Hallo, Max! Bist du noch da?“ Erschrocken zuckte ich zusammen.

Conny sah mich vorwurfsvoll an. „Ich versuche dir grad vom Elend eines Strichers zu erzählen und du scheinst zu träumen“, meinte er. „Entschuldige, ich bin hin und her gerissen. Das ist dem Augenblick geschuldet. Es hört sich so geil an. Irgendwie fällt mir der Vorhof zur Hölle ein. Verführerisch und mahnend. Auf der einen Seiten die Huren, auf der anderen der Pfarrer. Hast du schon mal dran gedacht, etwas anderes zu machen? Du kannst als Mann auf dem Kiez in Bars und Läden arbeiten. Die brauchen kräftige Kerle. Türsteher ist immer noch besser, als fremden Typen den Hintern hinzuhalten. Oh, sorry, ich rede schon wie mein Alter.“ Hups! Wann wollte der wieder im Hotel sein? Wenn er kam und mich nicht vorfand, musste ich mir eine plausible Erklärung einfallen lassen. „Das ist schon okay. Ich kenne die meisten Ladenbesitzer und wenn ich den Absprung mache, findet sich schon etwas. Aber ich muss auf Kohle verzichten. So viel wie jetzt, werde ich niemals in einer normalen Arbeitsstelle verdienen. Nicht mal als Hausmeister im Puff.“ Starkes Argument. Geld war nicht unwichtig. „Vielleicht gibt es etwas dazwischen.“ Ich überlegte. Das Internet ließ etliche Innovationen zu. „Man könnte für Männer etwas Ähnliches aufziehen, wie es die Frauen bereits machen. Also, einerseits den normalen Puff betreiben, mit allem, was dazugehört und die Mädels wie Angestellte anmelden und versichern. Daneben arbeiten diejenigen, die keinen Körperkontakt wollen, vor der Kamera. Das hat den Vorteil, dass du allein oder maximal mit einem Freund zusammen bist. Krankheiten werden damit verhindert. Du schlägst zwei Fliegen mit einer Klappe.“ Voller Stolz strafte ich meinen Oberkörper. Hatte ich etwa grad ein neues Geschäftsmodell entworfen? Überraschend zeigte sich Conny interessiert. Er nahm unsere leeren Flaschen und stand auf. Ich wehrte ab. „Stopp, für mich nur noch eine Cola. Sonst enterbt mich mein alter Herr. Wir besitzen eine Brauerei und er sagt immer, ich soll aufpassen, nicht mein bester Kunde zu werden!“ Conny brach in glucksendes Gelächter aus.

Ein knapp bekleidetes Mädchen kam an unseren Tisch und hielt mir ihre Brüste vor, die in einem roten Top steckten. „Gibst du mir ein Bier aus?, schnurrte sie, griff mit ihren Fingern in mein Haar und schlang mir ihre Arme um den Hals. Vor ein paar Stunden war ich noch in Panik vor dieser Anmache weggelaufen. „Conny! Bring ein Bier für die Dame mit!“ Er drehte sich nach mir um. „Sina ist keine Dame, sonst würde sie Sekt bestellen. Aber okay, ich denke, wir machen heute eine Ausnahme.“ Einen Moment später standen Bier und Cola bereit. Sina sah mich prüfend an. „Wie alt bist du, mein Süßer?“ Ihre Hände streichelten über mein Kinn und fuhren dann zielstrebig über den Brustkorb abwärts. Als sie begann meinen Hosenlatz öffnen zu wollen, schritt meine Hand ein und führte die ihre wieder aus der Gefahrenzone.

„Er ist siebzehn und Transmann, Sina. Wenn er achtzehn ist, kannst du ihn in die Liebe einführen. Sina macht das gut. Bei mir schlugen bisher alle Versuche fehl. Mein kleiner Freund reagiert nur auf Männer“, erzählte Conny und half mir damit aus der Verlegenheit. „Willst du dich operieren lassen?“, fragte Sina, während sie wieder ihre Hände in Richtung meines Gliedersatzes schob. Ich nickte. „Ich habe heute die erste Testosteronspritze bekommen. Im nächsten Jahr geht es gleich nach dem Abi ins Krankenhaus. Dann nehm ich dein Angebot dankend an. Ich habe eine Freundin, die über mich Bescheid weiß und du kannst mir helfen, die Grundlagen der Liebe zu lernen.“ Ich legte den Arm um sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Conny lachte. „Auch Schmusen kostet bei Sina. Du hast noch viel zu lernen. Das Leben auf dem Kiez ist kein Ponyhof!“ Oh je, er hatte recht. Im Laufe des Abends tauschten wir unsere Handynummern. Sina bestand darauf, dass ich ihre ganz oben kennzeichnete. Sie wird mir zu gegebener Zeit einen Termin und einen besonderen Preis mitteilen. Schöne Aussichten. Ich lachte und küsste sie noch einmal. Es war fast zwei Uhr geworden. Mein Gewissen meldete sich. Noch länger sollte ich den Ausflug ins Hamburger Nachtleben nicht hinaus zögern. Mein Vater war in der letzten Zeit wahnsinnig cool gewesen, das wollte ich mir nicht verscherzen. Ich sagte den beiden, dass ich gehen muss. Conny bot sich sofort an, mich zum Hotel zu bringen. Eine kleine Krise war im Anmarsch. Ich überlegte fieberhaft. Wenn ich Sina jetzt Geld gab, war ich dann schon ein Freier, der sie ausbeutete? Meine weibliche Sozialisation meldete sich zu Wort. Ich verwarf den Gedanken. Sina sah einen Mann in mir und Männer bezahlten die Frauen auf dem Kiez. Es war erniedrigend für die Frauen, aber auch selbstverständlich. Sie lieferten eine Dienstleistung ab und Sina tat dies freiwillig und ohne Zwang, wie mir schien. Als Frau würde ich auch bezahlen müssen, wenn ich eine andere Frau um diese Leistung bitte. Mein Rollenwechsel war mit der ersten Hormonspritze heute Morgen endgültig besiegelt worden. Die Realität hatte mich eingeholt. Ich lächelte tief in mich hinein, zog einen fünfzig Euro Schein aus meinem Portemonnaie und steckte ihn dem so verführerisch duftenden Mädchen, das es sich auf meinem Schoß bequem gemacht hatte, in den Ausschnitt. „Hier, ein kleines Geschenk für das netteste Mädchen der Welt.“ Ich dachte kurz an Jenny und stellte fest, dass Männer hervorragend lügen konnten. Sina nahm den Schein, ließ ihn rasch in ihrer knallgelben Lackledertasche, die sie um den Bauch trug, verschwinden. „Du hast meine Nummer“. Sie hauchte mir die Botschaft zum Abschied ins Ohr.

Conny legte seinen Arm um meine Schulter als wir uns in Richtung Hotel aufmachten. „Das war der erste Schritt zum Mann. Ich möchte irgendwann testen, ob mein Transmannfreund auch etwas für Männer empfindet“, flüsterte er leise. Als ob ich darauf gewartet hätte! Wie in Trance drehte ich meinen Kopf, blickte ihm in die Augen. Wir standen auf dem Bürgersteig, nur wenige Meter vom Eingang in die Große Freiheit entfernt. Um uns blinkte und blitzte bunte Neonreklame, ein Martinshorn heulte in der Ferne. Die Menschen gingen im Bogen um uns herum, niemand beschwerte sich über das unerwartete Hindernis. Mein Kopf fiel leicht zur Seite. Ich bot Conny unbewusst meinen Hals an. Es war eine typisch weibliche Unterlegenheitsgeste. Aber ich fühlte mich nicht als Frau, als seine Lippen das Angebot annahmen. Ein wohliger Schauer ließ mich erzittern, rann durch meinen Körper. Eben war ich noch ein Mann, der zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau für Zärtlichkeiten bezahlt hatte. Jetzt wurde ich wieder zum Jungen, der sich mit ganzer Seele seinem Freund hingeben wollte. Wie von selbst legten sich meine Arme um Connys Hals, meine Hände streichelten seinen Haaransatz.

Wir küssten uns, versanken in einem Meer von Glückseligkeit.

Mein Vater war noch nicht ins Hotel zurückgekehrt. Nach dem Duschen kroch ich aufgewühlt ins Bett. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. In der Ferne klopfte es an meiner Zimmertür. „Max, es ist neun Uhr durch, du Schlafmütze. Ich will mit dir auf die Eisbahn.“ Renes Fäuste pochten energischer. Verschlafen und noch immer von den Eindrücken des gestrigen Abends überwältigt, wühlte ich mich aus den Kissen. Rene schlüpfte herein. Er trug einen Sportanzug und warf seine Schlittschuhtasche auf den Boden. Als er mich ansah, stutzte er. „Was ist passiert? Du siehst so anders aus! Als ob du von einem anderen Stern kommst!“

Ich setzte mich auf. „Ich komme nicht von einem anderen Stern, ich habe einen gesehen“, erklärte ich und schraubte damit die Verwirrung meines Kumpels ins Unermessliche.

„Erzähl! Aber wehe du verschweigst etwas.“ Ich wollte grad ansetzen, als es erneut klopfte. „Max, ich hab gleich noch einen Termin. Wir treffen uns um 12 Uhr hier im Hotel.“ Rene öffnete meinem Vater. „Hallo, ich bin Rene und wollte jetzt mit Max auf die Eisbahn.“

Mein Vater sah verdutzt aus, fing sich aber sofort. „Prima, dann hole ich euch gegen 12 Uhr dort in Stellingen ab. Wir gehen Essen und danach zum Fußball.“ Er nahm sein Portemonnaie und gab jedem von uns fünfzig Euro. „Hier, für den Eintritt. Viel Spaß, meine Herren.“ Wir bedankten uns überschwänglich. Vater ging aus der Tür. Während ich mich anzog, erzählte ich Rene vom gestrigen Abend. Seine Augen wurden immer größer, als ich von Sina berichtete. „Whow! Ich lebe schon seit meiner Geburt hier und habe noch nie einen Stricher kennengelernt und mit einer Hure hab ich auch noch nie gesprochen. Weißt du, dass ich grad neidisch werde?“ Ich lachte. Nach einem ausgiebigen Frühstück im Hotel fuhren wir mit der U-Bahn zur Eishalle. Ein wunderschöner Nachmittag im Stadion ließ mich in höchstem Glück schwelgen. Der Frühjahrsdom hatte einen Tag zuvor seine Pforten geöffnet. Um acht Uhr standen wir mit meinem Vater in einer Getränkebude und prosteten uns zu. Ich bekam mein erstes offizielles Bier von ihm und genoss es. Danach spazierten wir über die Reeperbahn, besuchten einen Sexshop und Vater spendierte uns jeder ein Video, damit wir wussten, wie es praktisch mit den Frauen ablief, meinte er und grinste dabei.

Rene und ich sahen uns entgeistert an. Mein Gott, Dad, wir waren siebzehn Jahre alt und keine Babys mehr. Aber wir bedankten uns artig und spielten die Unschuldslämmer vom Lande. Vater zeigte auf den Eingang zur berühmten Herbertstraße und erlaubte uns einen kurzen Blick hinein.

In der Freiheit stellten wir uns für die Travestieshow an. Vater lachte über die Witze der Damen, die eigentlich Herren waren. Rene und ich fanden sie lustig, aber wir bemerkten mehr. Wir und diese Frauen hatten etwas gemeinsam, obwohl sie als Transvestiten auftraten und ihr männliches Körperteil behalten wollten. Wir fühlten wie sie und achteten sie mit Wärme und Menschlichkeit. Für die Zuschauer war das Ganze ein Jux und Geblödel. Nicht für uns. Genauso wenig für die Frauen. Ein Teil ihrer Seele verschmolz mit der Weiblichkeit, die sie darstellten. Die Meisten spielten keine Rolle bei ihrem Auftritt, sondern wurden dabei sie selbst. Dessen waren wir uns bewusst. Wir hätten ihnen gerne erzählt, dass wir genauso waren wie sie. Lediglich eine kleine Nuance unterschied uns. Den letzten Schritt nämlich, den Wechsel ins andere Geschlecht im täglichen Leben vollziehen zu wollen und nicht nur abends auf der Bühne zu leben. Vater gab nach der Vorstellung noch ein letztes Getränk aus und spazierte mit uns zurück zum Hotel. Ich dachte an Conny. Seine dunkle Nische lag nur einen Wimpernschlag entfernt in die andere Richtung. Ich hätte ihn gerne noch einmal getroffen. Aber das musste warten. Im Hotel verabschiedeten wir uns von meinem Vater. Wir wollten die DVD’s anschauen, die er uns geschenkt hatte. Rene schüttelte später im Zimmer, als wir die Filme geladen hatten, den Kopf. Auf unseren websites ging es wesentlich spannender zu.

„Dein Alter ist ein lustiger Typ. Schau dir mal diesen Quatsch an! Und dafür nehmen die auch noch Geld“, meinte er.

„Wir können Conny beim nächsten Arzttermin anrufen. Er kennt sich auf dem Kiez aus. Ich kann doch sicher bei euch schlafen, oder?“ „Ja, klar kannst du das. Mein Zimmer ist zwar kein Schloss und wir leben in einer Mietwohnung, aber meine Mutter wird dir gefallen und der Doc bleibt uns bis nach der OP auf jeden Fall erhalten. Der will wissen, wie wir uns weiter entwickeln und was aus uns wird.“

„Ich bin am 5. Juni wieder hier und werde fragen, ob ich bei dir übernachten darf, wenn deine Mutter nichts dagegen hat.

Es gab in Hamburg viele Schwulenclubs und ich dachte daran, einen mit Rene und Conny zu besuchen. Am nächsten Morgen fuhren wir mit meinem Vater noch einmal in die Eishalle nach Stellingen. Das Eishockeyspiel war nicht so hochklassig, aber schön. Danach aßen wir mit Rene zu Mittag. Mein Vater mochte ihn auf Anhieb und drückte ihn zum Abschied.

„Rene, ich freu mich auf die Sommerferien, du kannst die kompletten sechs Wochen bei uns bleiben. Max muss anfangs zwar noch zur Schule, aber dir kann es nicht schaden, wenn du mal ein bayerisches Gymnasium kennen lernst. Das bespreche ich alles mit dem Direktor vorher. Ich bin gespannt, wie es dir bei uns gefällt.“

„Danke, ich freu mich auch. Max, altes Haus, grüß Andy unbekannterweise.

Die Schule hatte mich am nächsten Tag wieder. Wie schnell verging die Zeit. Ende März bekam ich die zweite Spritze. Gespannt wartete ich auf den Beginn des Stimmbruchs. Mist! Nichts geschah. Am 21. April folgte die dritte. Keine Reaktion. Ich bekam Angst, dass die Spritzen vielleicht bei mir nicht wirkten. So etwas hatte ich nämlich gelesen. Beunruhigt schlief ich dem nächsten Termin beim Doc entgegen. Ablenkung erlebte ich kurzzeitig an meinem Geburtstag.

Am 28. April wurde ich siebzehn Jahre alt. Es gab einen alten Schlager, der hieß: Mit Siebzehn hat man noch Träume. Meine Mutter sang das Lied Beatrix vor und die lernte es auswendig. Am frühen Morgen hörte ich Klaviertöne aus dem Musikzimmer und Beatrix stand vor meiner Tür und trällerte das Lied dazu. Sie war inzwischen zwölf Jahre alt geworden, bekam professionellen Gesangsunterricht und hörte sich super an. Ich rannte raus, umarmte überglücklich meine kleine Cousine.

„Happy Birthday, du Lümmel, bald hast du auch einen Pimmel. Ob er groß wird oder klein, das wird eine Überraschung für dich sein. Ich wünsch dir vorab schon mal Glück mit deinem guten Stück!“

Beatrix flüsterte mir leise ihr Geburtstagsgedicht ins Ohr. Ich fing spontan an zu lachen. Das war die Rache für die Vogelscheuche von damals.

„Danke, du bist die beste Cousine der Welt“, sagte ich und gab ihr einen dicken Kuss.

Nach und nach kamen meine Eltern und alle anderen aus dem Schloss, um mir zu gratulieren. Abends schenkten sie mir eine große Party. Ich hätte gerne schon Rene dabei gehabt, aber er bekam kein Schulfrei. Wir telefonierten lange in der Mittagszeit. Ich versprach ihm eine zweite Party im Sommer, vielleicht Grillen am Bootshaus, damit er meine ganzen Freunde auf einmal kennen lernen konnte.

Nach dem Fest lief das Leben weiter. Ich spürte zwei Tage später etwas Kribbeln im Hals und dachte, ich hätte mich erkältet. Hatte ich wohl auch. Am nächsten Morgen bekam ich keinen Ton mehr heraus. Ich sagte nichts beim Frühstück. Als mein Vater mich ansprach, quiekte meine Stimme nur noch. In der Schule brauchte ich nicht mehr zu reden. Das ging bis zum 4. Mai so. Das Kribbeln im Hals ließ wieder nach. Wie üblich begrüßte ich meine Eltern zum Frühstück. Meine Mutter starrte mich überrascht an. Ich wähnte mich in einer Stimmlage wie nach einer durchzechten Nacht.

„Herzlichen Glückwunsch, mein Sohn. Ich habe endlich Verstärkung im Haus als Hausherr bekommen“, meinte mein Vater und schmunzelte zufrieden.

Der Stimmbruch hatte eingesetzt. Es würde noch lange dauern, bis sich eine stabile Stimmlage einstellte. Die Stimme veränderte sich bei biologischen Männern beständig im Laufe ihres Alters. Die Stimmbänder dehnten sich unter dem Einfluss des Testosterons, aber weil sich nicht alle auf einmal an die ‚Regeln‘ hielten, kam es zum plötzlichen Kieksen und Überschlagen. Ich hatte mir vieles aus dem Internet dazu durchgelesen. Hier galt wie überhaupt bei der Transsexuellen Prägung, dass sich jeder individuell mit seinen Wünschen hinsichtlich der Körperlichkeit auseinandersetzen musste. Ich dachte stets nur daran, untenrum ein Mann zu werden. Ich wollte im Stehen pinkeln. Das war das Wichtigste für mich. Ebenso für Rene, der ganz auf meiner Wellenlänge lag.

Auf dem Schulweg telefonierte ich mit ihm. Auch er hörte sich schon tiefer an. Glaubte ich zumindest. Wir freuten uns und flachsten. Im Juni werden wir uns in Hamburg sehen. Ich durfte tatsächlich bei ihm übernachten. Unsere Mütter hatten sich per Telefon kurzgeschlossen. Die beiden meinten, wir wären alt genug, um auf uns selbst aufpassen zu können. Die Maschine landete pünktlich am Freitagmorgen in Fuhlsbüttel. Ich fuhr direkt mit der S-Bahn in die Praxis zu Doktor Reimers. Im Wartezimmer traf ich auf Melanie. War das eine Begrüßung! Wir drückten und küssten uns minutenlang. Sie hatte ihre Hormone schon bekommen und als ich sie in den Armen hielt, konnte ich kleine Brüste im Dekolleté betrachten. Sie merkte, wie gebannt ich darauf starrte.

„Hey, du kleines Ferkel, das ist mein Busen. Schaff dir selbst einen an, wenn du so scharf darauf bist“, meinte sie.

„Die kleinen Möpse stehen dir viel besser. Du siehst gut aus, junge Frau!“

„Danke, das Kompliment gebe ich gerne zurück.“

„Na, ihr zwei, so geht das aber nicht. Etwas mehr Selbstbeherrschung, Max!“ Der Doktor stand unerwartet im Zimmer. Ich ließ Melanie los und ging gleich auf ihn zu.

„Hi, Doc. Ich stehe nicht mehr als Kind vor Ihnen. Ich bin jetzt ein Mann“, rief ich aus. Melanie tat, als ob sie husten musste.

Doktor Reimers lachte. „Der Stimmbruch hat begonnen, aber das ist nur der Anfang, Max. Wie geht es dir mit deiner Spritze?“

Wir betraten das Sprechzimmer.

„Gut. Aber ich bin gewaltig drauf, sexuell, meine ich. Die Spritze macht ordentlich Druck. Meine Klitoris sieht aus wie ein kleiner Penis, so dick ist sie. Und ich hab ein paar Pickel auf dem Rücken bekommen. Dr. Steiner hat mir Salbe aufgeschrieben.“

Wir unterhielten uns über die Nebenwirkungen des Testosterons. Ich erzählte aus meinem Leben. Die Ausrichtung war bisexuell. Da war ich mir inzwischen sicher. Ich hatte gleich auf Melanie reagiert und mir vorgestellt, mit Jenny zu schlafen. Einzelheiten über die Art und Weise der Beziehungen zu meinen männlichen Freunden wollte der Doc nicht wissen. Er hielt sich diskret im Hintergrund und wartete ab, was ich ihm freiwillig erzählte. Ich sollte erst Ende Oktober wieder kommen. Wir wollten sehen, wie die Hormone anschlugen.

Im nächsten Jahr stand mir das Abitur bevor. Meine Eltern wünschten, dass ich die Schule fertig machte und erst vor Beginn des Studiums operiert werden sollte. Die Schule forderte ihren Tribut und die OP hätte mich in diesem Jahr noch zu lange geschwächt. So konnte ich die Sommerferien nach dem Abi im nächsten Jahr zur Erholung nutzen. Ich wollte mich in Berlin operieren lassen. Es war der Eingriff, der nur aus zwei Teilen bestand. Erst werden die inneren Organe entnommen, zur selben Zeit ein Hautlappen des Unterarms präpariert, welcher eingerollt als Penisersatz an die Harnröhre angeschlossen wird. Auch Nerven werden dabei transplantiert, so dass mit dem neugeschaffenen Glied Empfindungen möglich sind. Da die aber keinen Orgasmus hervorrufen können, muss die Klitoris an ihrem Platz bleiben und wird vom Penis und von den Hoden überdeckt. Ein halbes Jahr später, nach der Erholungspause, werden die Hoden geformt und die Erektionspumpe eingesetzt.

Ich hatte mir im Internet bereits alles Wissenswerte dazu durchgelesen und meine Eltern wollten noch gegen Ende der großen Ferien mit mir nach Berlin fahren, damit ich mich dem Chirurgen dort vorstellen konnte. Ich erzählte Dr. Reimers davon. Er fand die Idee gut. Aber ich sollte mir, zumindest per Internet, weitere Methoden anschauen. Hatte ich bereits und die Berliner Art in einer einzigen Sitzung gefiel mir am besten.

Um halb zwölf Uhr verabschiedeten wir uns. Melanie umarmte mich noch einmal, als ich ging. Wir verabredeten uns mit ihr und Kerrin am Sonntag zum Brunch. Jedenfalls machte ich das auch in Renes Namen so mit ihr ab. Sein Einverständnis setzte ich einfach voraus.

Als ich aus der Praxis kam, fiel mir mein Freund schon in die Arme. Wir sahen einander an. Da standen zwei pubertierende Jugendliche auf der Straße, die nach Veränderungen beim anderen suchten, dabei völlig übertrieben, Bartflaum, Kanten und Ecken fanden, wo eigentlich noch gar nichts zu sehen war. Nur die Veränderungen an der Stimme schienen offensichtlich.

„Lass uns erst mal in den Sexshop gehen“, meinte Rene.

Ich war sofort einverstanden. Wir stiegen in die U-Bahn und fuhren zur Reeperbahn. Einige Augenblicke später standen wir in der Umkleidekabine und probierten geile enge Hosen und T-Shirts an. Jeder ließ sich seine alten Klamotten in eine Tüte packen. Stolz spazierten wir in unseren neuen Sachen nach draußen. Ich blickte mich um, um mich zu orientieren. Am Tage sah hier alles anders aus. Ich hatte nach kurzer Zeit gefunden, wonach ich suchte. Wir liefen zu Connys Tür. Ich hatte oft mit ihm telefoniert und war für heute Nachmittag mit ihm verabredet. Er freute sich darauf, Rene kennen zu lernen.

Als ich mich diesem zuwandte, wurde plötzlich die Hoftür aufgeschlossen. Conny trat auf die Straße und blickte uns fröhlich an. Ich fuhr mit der Hand etwas verlegen durch mein Haar. „Hi, du hast mir gefehlt. Das ist mein Freund Rene.“ Meine Stimme zitterte unsicher. Conny zögerte eine Sekunde, doch dann kam er auf mich zu, nahm mich in die Arme. Seine Lippen fanden zielgerichtet meinen Mund. Ich blieb etwas steif, vielleicht war es mir unangenehm vor Rene oder ich hatte Angst ihn zu verletzen? Conny merkte es. Ließ von mir ab, wandte sich um. „Hallo, ich bin Conny, eigentlich heiße ich Conrad, aber das klingt mir zu blöd. Ich hoffe, du bist nicht eifersüchtig, Rene.“ Die beiden gaben sich fünf.

Conny blickte erst zu mir, dann zu Rene. Sein Blick verharrte auf dessen flachen Oberkörper. Es schien, als ob er sein weiteres Vorgehen überdachte. „Kommt mit!“ Er lotste uns in die Nähe eines kleinen Fußballstadions. Ein Dönerladen hatte geöffnet. Wir suchten uns vor der Tür einen Tisch. „Ich hatte gestern Geburtstag und geb einen aus“, erklärte Conny, stützte sich dabei auf einen Gartenstuhl. „Und so etwas sagst du mir nicht? Herzliche Glückwünsche!“ Wir lagen uns erneut in den Armen. Diesmal schloss sich Rene an. Conny ging in den Laden um zu bestellen. Rene spielte mit der Speisekarte, streckte seine Beine lang unter dem kleinen runden Partytisch aus und sinnierte. „Es gibt schöne Ecken hier in Hamburg. Da drüben liegt ein Fleet. Im Sommer kann man Kanus mieten.“ Conny kam zurück. Er hatte mit gehört. „Essen dauert etwas. Ich war lange nicht mehr auf der Alster“, meinte er. „War früher mit meiner Mum oft Segeln. Aber seitdem sie ihren Macker hat, ist unser Kontakt eingefroren.“

„Was haltet ihr davon, wenn wir Conny einen Segelausflug auf der Alster schenken?“ Wie immer war ich um eine Idee nie verlegen. Spontaner Zuspruch und Jubel erfüllten den kleinen Imbiss. Der Nachmittag schien gerettet. Nach dem Essen stiegen wir gut gelaunt in die U-Bahn und fuhren an die Alster. Ich mietete uns ein Boot. Segeln hatte ich schon früh auf dem Starnberger See während der vielen Besuche bei meiner Oma gelernt. Auch Rene besaß einen Segelgrundschein. Conny hatte nicht gelogen. Er konnte hervorragend mit der Jolle umgehen und segelte uns hart am Wind. Wir kreuzten über die Alster, erfreuten uns am Hamburger Wetter, welches uns eine herrliche Brise bescherte und vergaßen die Zeit. Kurz vor Ende des Törns passierte das Unglück. Conny saß am Ruder, Rene und ich hingen mit unseren Oberkörpern halb aus dem Boot, als uns ein Segler rammte. Wir hatten Vorfahrt, aber das schien die andere Crew nicht zu interessieren. Der Aufprall war heftig, obwohl Conny in letzter Sekunde noch ein Ausweichmanöver hinbekam. Er war wütend aufgestanden und schimpfte sein Gegenüber aus, dabei verlor er den Halt und fiel ins Wasser. Wir zogen ihn gemeinsam an Bord. Der Bootsverleiher erwartete uns am Steg und nahm sich den gegnerischen Kapitän zur Brust. Der entschuldigte sich kleinlaut. Gemeinsam untersuchten wir die beiden Boote auf Schäden. Es war gottlob nicht viel passiert. Die andere Crew lud uns zusammen mit dem Bootsbetreiber zum Essen in einem kleinen Alstercafe ein. Conny erhielt trockene Hosen vom Bootsverleiher.

Gegen 20 Uhr hatte die Sonne Connys nasse Kleidung getrocknet. Wir verabschiedeten uns. Conny wollte nach Hause und nahm uns in seine Wohnung mit. Die bestand aus einem einzigen Zimmer und seine Einrichtung hatte schon bessere Tage gesehen. Dennoch, es war klein aber sein. Rene stieß einen Überraschungsschrei aus, als er Connys Filmesammlung entdeckte. „Darf ich?“, fragte er und fing sofort an die DVD’s zu durch suchen. Conny nickte und startete seine teure TV-Anlage, die im Gegensatz zum restlichen Inventar direkt von der Funkausstellung zu stammen schien. Wir machten es uns gemütlich. Conny stellte einige Dosen Bier auf den Tisch und warf uns zwei Tüten Chips zu. Rene hatte sich ziemlich versaute Sachen ausgesucht. Um zehn Uhr hatten wir genug. Was sollte mit dem angebrochenen Abend geschehen? „Können wir nicht dorthin gehen, wo ihr letztes Mal wart?“, fragte Rene in die kleine Runde. „Du willst Sina kennenlernen, du Ferkel!“ Ich knuffte ihn. „Warum nicht? Sie scheint nett zu sein. Ich würde gerne mal wissen, wie es mit einer Frau ist!“ Conny starrte ihn entgeistert an. „Ich nicht.“

Ein paar Minuten später mischten wir uns unter die nächtlichen Gäste der Reeperbahn. Conny führte uns durch enge Gassen und erzählte von den Clubs und Laufhäusern, an denen wir vorüberkamen. Er kannte die meisten Besitzer. Die sündigste Meile der Welt war gleichzeitig auch die Sicherste. Wer hätte das gedacht? Bandenkriminalität und harte Straftaten kamen so gut wie keine vor. Ein Trupp Jugendlicher lief grölend zwei Streifenpolizisten in die Arme, die prompt die Ausweise kontrollierten. Conny erkannte die Gefahr rechtzeitig und schob uns in einen Hinterhof. Zwei Männer standen dort in einer dunklen Ecke und küssten sich. Conny ignorierte sie und klopfte gegen ein Fenster. Ein bekanntes Gesicht blickte mir einen Moment später entgegen. Es war Sina. „Hey, ihr Süßen, was für ein netter Besuch! Wollt ihr reinkommen?“ Conny öffnete die Tür zu Sinas kleiner Kiezwohnung. Durch einen wenig beleuchteten Flur kamen wir ohne Umwege in ihr Schlafzimmer. Ich hatte genau wie Rene noch nie ein Hurenzimmer in Natura gesehen. Eine schwülstige einfarbige rote Tapete und ein großes schwarz-weiß Foto, das Sina nackt vor einem Ozeanriesen zeigte, waren nicht zu übersehen. Das Bett nahm den meisten Raum ein. Rote Kissen mit weißen Herzchen lagen überall herum. Neben einem Frisierschrank befanden sich ein Tisch und zwei kleine Sessel. „Sucht euch einen Platz, wer möchte Bier, wer möchte Cola?“ Sina blickte erstaunt zu Rene. „Na, Kleiner, bis ich dir etwas beibringen kann, müssen sicher noch ein paar Jahre vergehen!“ Rene schlug verlegen die Augen nieder. „Er ist wie ich, Sina. Wir werden nächstes Jahr operiert und bis dahin haben uns die Hormone männlicher gemacht. Wir sind beide inzwischen Siebzehn durch. Aber dein Angebot steht. Im nächsten Jahr feiern wir bei dir unseren Einstand als Männer.“ „Super, vielleicht kann ich ja auch euren Freund heilen? Ach, Conny, warum musst du es mit Kerlen treiben?“ Sie nahm Rene und Conny in die Arme und gab beiden einen Kuss. „Hier, das gibt es heute kostenlos zur Einstimmung!“ Conny grinste. „Das funktioniert bei mir nur mit Schwänzen. Ich stehe nicht auf Mädchen.“ „Sag mal, wie läuft so ein Strichersex ab? Ist das wie bei den Frauen?“, fragte Rene. Er klang recht naiv. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. „Das hört sich ja nach reichlich Erfahrung an, Rene! Du hast es anscheinend faustdick hinter den Ohren“, rief Sina aus und verteilte die Getränke.

„Ne, ich hab nur ein paar Filme gesehen.“

Rene beeilte sich, seine bescheidenen Kenntnisse der Liebe zu offenbaren. Conny nahm einen Zug aus der Bierdose. „Das ist in der Tat nicht anders. Ich stehe ‘rum, werde angesprochen und sage den Preis. Meistens geh ich mit dem Freier in meine Wohnung. Aber ich schaffe auch drüben auf dem Parkplatz an. Dann nutzen wir den Park. Dort gibt es ein Klohaus, in das wir uns verziehen, oder aber wir bleiben draußen. Es ist halt Sex, nichts weiter. Das Übliche. Ich kriege mein Geld, er seinen Spaß und das war’s.“ Rene nickte. „Es passiert dasselbe wie auf den Videos. Hast du Leute, die immer wieder kommen?“ „Klar, Stammfreier gehören dazu und garantieren mir meinen Verdienst. Aber das macht es auch zum Problem. Wenn ich nicht mehr will, muss ich dem Freier Bescheid sagen. Die sind alles andere als glücklich. Da hat sich ja bereits ein Vertrauensverhältnis gebildet.“ „Wie viel verdienst du in einer Nacht?“, fragte ich und dachte daran, was meine Mutter sagen würde, wenn sie wüsste in welcher Gesellschaft ich mich befand. „Unterschiedlich, zwischen fünfzig und fünfhundert Euro.“ Das hörte sich nicht nach wenig an. „Und wie regieren deine Eltern? Wissen die, was du machst?“ Im nächsten Moment schalt ich mich. Ich musste wie ein Spießer und ein Moralapostel wirken. Doch Conny blieb ganz cool. Es schien ihm nichts auszumachen, so privat über sich zu sprechen. „Ich habe meine Mutter seit drei Jahren nicht mehr gesehen und meinen Vater kenne ich nicht. Meine Mutter ging früher anschaffen. Es ist gut möglich, dass sie es wieder tut. Ihr Macker ist ein Arsch und es würde mich nicht wundern, wenn er sie auf den Strich schickt. Aber sie ist erwachsen und muss wissen, was sie will. Huren bekommen häufig Kinder von ihren Luden und ich ahne, wer mein Vater sein könnte. Er besitzt ein paar Läden und Laufhäuser aufm Kiez. Einige der älteren Nutten machten mal Andeutungen. Meine Mutter sagt nix. Es ist mir auch egal. Solange sie mit diesem Typen zusammen lebt, bleib ich da weg.“ Das hörte sich alles sehr traurig an. Mein Herz öffnete sich vor Mitgefühl und ich hätte am liebsten spontan geheult. Stattdessen stand ich von meinem Sessel auf, kletterte zu Conny aufs Bett und umarmte ihn. Er erwiderte die spontane Geste mit einem Kuss. Wir blieben noch eine Weile, bis uns Sina sanft aber bestimmt rauswarf. Sie sagte, sie musste sich stylen, denn sie bekam gleich Besuch von einem Freier. Eine herzliche Verabschiedung schloss sich an.

Auf der Hauptstraße angekommen standen wir im pulsierenden Leben. Es war Mitternacht durch. Noch brauchten wir nicht nach Hause. „Gibt es hier Schwulenclubs, Conny?“, fragte ich. „Klar, aber die sind erst ab achtzehn. Es gibt aber einen Jugendtreff für schwule Jugendliche. Wollen wir mal hin?“ In unseren strahlenden Blicken konnte er die Antwort ablesen. Wir benutzen ein paar abgelegene Gassen, um nicht einer Polizeistreife in die Quere zu kommen. Das Jugendtreff sah von außen unscheinbar aus. Es hieß Cap und Capper. Ich musste lachen und sagte den anderen den Grund. Conny klärte uns auf. Es war tatsächlich nach den beiden Disneyfiguren benannt. Der Eingang lag in einem Seitenweg, etwas abseits. Drinnen empfing uns ein junger Mann, der sich als Marvin vorstellte und Sozialarbeiter war. Er kannte Conny gut. „Der Treff hat die ganze Nacht geöffnet. Wir haben eine Sondergenehmigung, damit wir rund um die Uhr verfügbar sind. Es kommen oft Jugendliche hierher. Meistens werden sie von unseren Streetworkern gebracht. Sie versuchen an die Jungen heranzukommen.“ „Sind es Ausreißer?“, fragte ich. Marvin antwortete: „Ja, ein Zuhause haben sie oft nicht, treiben sich auf der Straße herum. Viele sind Missbrauchsopfer und Gewalt in der Familie ausgesetzt. Deswegen haben wir das Treff und den Verein gegründet. Wir bekommen Unterstützung von der Stadt. Anfangs wollten wir nur Anlaufstelle für Strichjungen sein, doch nun kommen alle. Auch Drogenabhängige finden den Weg zu uns und längst nicht jeder ist noch unter achtzehn. Ihr könnt euch umschauen. Vorne an der Bar gibt es Getränke.“ „Danke, Marvin. Es ist heute nicht so voll wie sonst.“ Conny nickte unserem Gastgeber zu. „Wollen wir eine Runde Billard spielen?“, fragte er uns. Rene und ich bejahten, schmusten während des Spiels abwechselnd mit ihm. Das war nach unserem Geschmack. Rene sah plötzlich auf sein Handy. „Meine Mutter fragt, wo wir sind. Ich denke, wir müssen los. Es ist kurz vor ein Uhr.“ „Ich bring euch zur S-Bahn“, erklärte Conny. „Sehen wir uns noch einmal, an diesem Wochenende?“ Ich schüttelte den Kopf. „Wir sind heute mit Renes Eltern verabredet und wollen morgen früh mit unseren Mädels zum Brunchen. Gegen Mittag geht mein Flieger. Conny, wir telefonieren und sehen uns im Oktober wieder. Vielleicht triffst du Rene vorher. Grüße Sina von mir!“ Eine Stunde später lernte ich Renes Mutter kennen. Sie war sehr nett. Wir schliefen bis gegen Mittag. Renes Vater lud uns zum Essen ein, danach wollten wir zum Fußball.

Ein herrliches Wochenende ging viel zu schnell vorbei.

Am Sonntagabend saß ich wieder allein in meinem Zimmer und am nächsten Tag lief das alte normale Leben auf Schloss Wildenstein weiter. Die Schule nahm mich voll in Anspruch und meine Stute Milla verlangte viel Aufmerksamkeit. Jenny freute sich sehr auf ihren Besuch. Anfang Juli begannen in Hamburg die Sommerferien. Andy fuhr mit mir zum Bahnhof, um Rene abzuholen. Er hatte gerade den Führerschein bestanden und durfte sich das Auto seiner Eltern ausleihen.

Ich machte die beiden bekannt. Die zwei begrüßten sich wie ein altes Liebespaar. Rene staunte mit großen Augen, als er das erste Mal unseren Schlosshof betrat. Für Andy und mich war das normaler Lebensalltag, aber Rene kannte Schlösser nur aus dem Märchen und hatte ansonsten ein oder zwei davon mit den Eltern im Urlaub besichtigt.

Wir waren ausgestiegen und standen vor der imposanten Eingangstreppe. Er blickte sich vollkommen erschlagen um. Durch das große schmiedeeiserne Tor waren wir auf das Portal zugefahren. Direkt vor dem Eingang hatte der Gärtner ein Rondell angelegt, dass aus Rasen, einer kleinen Hecke und zwei Lebensbäumen bestand, die just so platziert worden waren, dass sie dem Ankommenden den Blick auf die Tür wiesen und diese einrahmten. Der kleine Balkon darüber war als Blickfang gedacht. Das Haupthaus verfügte über zwei Stockwerke. Unser Dach sah sehr wuchtig aus, musste aber ständig repariert werden und die Kosten brachten meinen Vater oft zur Verzweiflung. Auch die Heizkosten der inzwischen in allen achtundsechzig Räumen eingebauten Gasheizung fraßen ihn auf. Im Winter wurden die Öfen benutzt. Holz hatten wir selbst genug. Es wurde in der schlosseigenen Sägerei ofenfertig gesägt.

An beiden Seiten des Hauptgebäudes schlossen sich Durchgänge und kleinere Gebäude an, die in die Stallungen und in unsere Reithalle führten. Wir hatten die eine Seite für die vielen landwirtschaftlichen Geräte reserviert. Dort standen die Trecker und Güllewagen, sowie die Pferdeanhänger und die Fahrzeuge für die Holzwirtschaft.

Neben Mia und einigen Aushilfskräften, der Köchin Lisa und unserem Hausmeister Dietrich, arbeiteten noch sechs weitere Männer für meinen Vater auf dem Schloss. Die Brauerei und die Brennerei befanden sich unten im Dorf. Der riesige Schlossteich, der annähernd das ganze Anwesen umgab, war mein schönster Spielplatz gewesen. Auf der anderen Straßenseite hatte die Gemeinde einen Badesee für die Touristen mit Tret- und Ruderbooten geschaffen.

„Mein Gott, Max. Und ich bewohne mit meinen Eltern drei Zimmer in einer billigen Mietskaserne. Was hast du für ein Glück!“ Rene konnte sich nicht satt sehen.

Andy lächelte. „Adel verpflichtet, sagt Max‘ alter Herr immer. Von unserem Kumpel wird einiges verlangt und ich glaube, die Wildensteins müssen ganz schön auf ihren Geldbeutel schauen. Wann sind deine Eltern eigentlich das letzte Mal in Urlaub gewesen?“, fragte er mich.

Ich schüttelte den Kopf. „Ist lange her. Sie besuchen nur meine Tante und meinen Onkel. Meine Oma ist schon uralt und meine Mutter fährt oft zu ihr nach Starnberg. Die Hütte hier verschlingt Unmengen an Kleingeld. Ich weiß gar nicht, ob wir noch die rechtmäßigen Eigentümer sind oder bereits der Bankier aus der Kreisstadt. So oft, wie der bei meinem Vater im Büro sitzt. Ich muss BWL und Forstwirtschaft studieren, um den Laden später übernehmen zu können. Mein Vater will mir eine intakte Firma hinterlassen. Gottseidank werfen die Brauerei und die Schnapsbrennerei noch etwas ab, aber auch da ist die Konkurrenz groß geworden“, erklärte ich ernst.

Die Tür öffnete sich und meine Mutter kam zusammen mit Mia die Treppe herunter.

„Hallo, du bist Rene?“

Verlegen gab der ihr die Hand. „Wie spreche ich Sie denn jetzt richtig an? Frau Gräfin?“

Mutter lachte. „Du darfst Adelheid zu mir sagen und mich duzen. Oder gerne Mum, wie Max. Das höre ich noch lieber. So kann ich euch noch etwas erziehen, was sonst in eurem Alter schwierig ist. Es wird dir sicher bei uns gefallen, Rene. Du kannst bei Max im Zimmer schlafen, aber wir haben dir nebenan ein Gästezimmer bezogen. Damit du mal deine Ruhe bekommst. Meinen Mann lernst du nachher beim Kaffee kennen. Max wird dich überall herumführen. Du willst wie Max BWL studieren?“

„Ja, oder Jura. Ich weiß noch nicht. Das kommt darauf an, ob ich einen Studienplatz in Hamburg finde.“

„Vielleicht kannst du später mal für uns arbeiten, wir brauchen gute Leute.“ Ich lachte. „Und was ist mit mir, Mum? Bin ich nicht gut?“

Sie drückte mich und Mia hustete, als sie sich Renes Rucksack schnappte. „Es gibt da einige Geschichten aus der Kinderzeit unseres jungen Grafen“, murmelte sie vielsagend, mit einem verschmitzten Seitenblick auf meine Mutter, die unmerklich die Lippen verzog.

Im Schloss gingen Rene endgültig die Augen über. Nach der ersten Führung machten wir es uns in meinem Zimmer bequem. Ich erzählte von meiner Familie, von Hubertus, wie er mir damals die ersten Passworte für meinen Laptop mit den besonderen Websites gab und den Streichen, die ich als Kind gespielt hatte, um ja wie ein Junge ‘rüberzukommen. Das meiste wusste er schon, aber es fehlte noch viel, über das ich ihm erst jetzt berichtete.

Andy verabschiedete sich. Er wollte am Abend mit dem Rad wieder kommen, weil seine Mutter das Auto brauchte.

„Ist schon krass, Alter. Wenn Conny das hier sieht, dreht er völlig durch. Andy ist ein feiner Kerl und ich glaube, er ist an der gewissen Stelle gut gebaut“, meinte Rene, als wir allein waren. Er lümmelte sich zufrieden auf meinem Sofa.

Um vier Uhr saßen wir auf der Terrasse und tranken Kaffee mit meinen Eltern. Mein Vater interessierte sich für Renes berufliche Pläne.

„Gut“, sagte er. „Warten wir erst einmal euer Abi ab und sehen, wie es mit dem Studium läuft. Max soll eigentlich an die Uni in München gehen. Ich kenne dort noch einige Leute aus meiner eigenen Studienzeit und die Ausbildung ist hervorragend.“

Ich grinste. „Ich hatte schon daran gedacht, zu Rene nach Hamburg zu ziehen. Einmal ganz raus aus Bayern kann nicht schaden“, erklärte ich.

Vater sah mich skeptisch von der Seite an. „Da bist du mir zu weit weg. Ich habe immer gerne ein Auge auf dich. Weißt du, Rene, hatte ich nicht mal erzählt, dass unsere Familie einem uralten Raubrittergeschlecht angehört? Die ließen nichts anbrennen, feierten verdorbene Orgien und hielten Zechgelage ab. Max hat das Blut derer von Wildenstein in den Adern. Ich muss aufpassen, dass er nicht über die Stränge schlägt.“

Mein Freund senkte schmunzelnd den Kopf. „Da könnten Sie Recht haben, Herr Graf. Max ist beileibe kein Kind von Traurigkeit!“

Wir neckten uns weiter, besuchten nach dem Kaffee die Pferdeställe. Rene wollte reiten lernen. Dazu hatte er in den kommenden sechs Wochen Gelegenheit genug. Ein Pferd war schnell gefunden und er sollte seine Reitstunden erhalten, während ich trainierte. Für Jennys Stute richteten die Stallburschen bereits eine Box her. Jenny würde nächste Woche kommen, wenn in Schleswig-Holstein die Schulferien begannen.

Es war geil. Ich hatte alle meine Freunde zusammen, bis auf… Conny. Nun, vielleicht fand sich später eine Lösung für einen Besuch bei mir.

Um sechs Uhr am Abend trafen wir Andy im Bootshaus. Er wusste inzwischen von Conny und unseren Hamburger Bekanntschaften. Wir schmiedeten Pläne für die kommenden Ferien. Zwischen Andy und Rene begann es zu knistern. Ich fragte, ob ich die beiden allein lassen sollte. Rene meinte, dass das nicht nötig wäre. Wir könnten uns Andy auch teilen. Um halb acht Uhr saßen wir geduscht und in frischer sauberer Kleidung bei Tisch, parlierten brav mit meinen Eltern, telefonierten nach dem Essen mit seinen und ich überraschte Rene mit meinen bescheidenen Künsten auf dem Klavier. Besonders gut war ich nicht, aber ich hatte mich meiner Mutter gefügt und als Kind von ihr Unterricht bekommen, so dass ich leidlich klimpern konnte.

Rene, der immer noch mit seinen Gedanken im Bootshaus weilte, staunte. „Du hast ja Qualitäten, von denen ich bislang gar nichts ahnte.“.

Die Woche verging wie im Flug. Er brauchte seine Spritze wie ich und bekam sie bei Doktor Steiner, meinem Hausarzt.

Jenny war eingetroffen, nahm nicht nur die Stallungen und die Reithalle in Besitz, sondern auch mich. Meine Mutter hielt große Stücke auf sie und freute sich, sie in einigen Jahren als Schwiegertochter begrüßen zu dürfen. Ihre Eltern besaßen ein kleines Gut in Schleswig-Holstein. Ihr Vater führte daneben eine Anwaltspraxis. Ihre Mutter hatte Jura studiert, sich später aber der Erziehung der zwei Töchter, dem kleinen Sohn und dem Haushalt gewidmet. Jenny war die passende Partie und sie wusste über alles bei mir Bescheid. Ich glaube, sie hatte sich bereits mit dem Gedanken angefreundet, eines Tages hier auf dem Schloss zu leben. Sie wachte jedenfalls mit Argusaugen darüber, dass ich ihr genug Zeit widmete.

Rene telefonierte viel mit Kerrin, die in Elmshorn wohnte. Mitte Juli fuhren wir zusammen mit meiner Mutter nach Berlin. Jenny begleitete uns und hörte sich sehr interessiert den Vortrag über die Operationsmethode und den Verlauf des großen Eingriffs an. Dass ich mit meiner Pumpe später normalen Geschlechtsverkehr mit ihr haben konnte, wusste sie.

Und auch unser Nachwuchsproblem war bereits gelöst.
Jenny wollte erst meines und danach ihr eigenes Kind austragen. Sie hatte mit ihrer Mutter darüber gesprochen und sofort Zustimmung erhalten. Nun mussten wir nur noch einen geeigneten Samenspender finden. Andy hätte sich liebend gerne zur Verfügung gestellt, war aber bei meiner künftigen Frau und Gräfin Wildenstein komplett durchgefallen. Natürlich unterhielt man sich auch in der nahen Verwandtschaft darüber. Das Problem löste sich auf elegante Weise und fand nie wieder Erwähnung.

Jenny und Hubertus führten während eines Spaziergangs um den See ein anregendes Gespräch über die Erhaltung unserer Dynastie. Er war als Kandidat für die Spende bestens geeignet und fühlte sich sehr geehrt. Wir flachsten, er solle sich nicht zu sehr bei den anderen Damen verausgaben. Die Zeugung ihres Babys würde in einer Arztpraxis heterologisch durchgeführt werden. Möglicherweise werden wir dies für meinen Embryo, der ja in vitro befruchtet werden muss, in Holland vornehmen lassen. Rechtlich ist Jenny nach unserer Eheschließung meine Frau und sie wird die Mutter beider Kinder sein. Das Leihmutterschaftsverbot wird also gar nicht berührt. Ob ich als Vater in die Geburtsurkunde eingetragen werden kann, werden wir durch unseren Anwalt klären lassen. Vielleicht machen wir uns viel zu viele Gedanken darüber und brauchen uns gar nicht zu erklären. Ich bin nicht verpflichtet, über meine Transsexualität Auskunft zu geben. Ich denke, dass sich in den nächsten Jahren durch neue Regierungen und Gesetze auf diesem Gebiet einiges ändern wird. Rene hatte mit Herrn Reimers gesprochen, der sich mit dessen besonderer Kinderwunschproblematik befassen wollte. Wir hatten Angst, dass er sich nach der Hormonbehandlung keine Eizellen mehr entnehmen lassen durfte. Dr. Malinka untersuchte ihn und gab grünes Licht. Rene war gesetzlich versichert, er musste sich mit der Krankenkasse seiner Eltern auseinandersetzen. Unsere OP sollte in einer Privatklinik durchgeführt werden. Nicht alle Kassen übernahmen die Kosten anstandslos, da sie über den gesetzlich zugelassenen Gebührensätzen lagen. Mein Vater signalisierte seine Hilfe sowohl für die OP als auch für die Einlagerungskosten von Renes Eizellen. Unser Rechtsanwalt wird sich für Rene einsetzen, sobald Schwierigkeiten auftauchen. Für meinen Freund gestaltet sich die spätere Elternschaft schwieriger, denn sollten er und Kerrin ein Paar werden bzw. bleiben, so kann Kerrin zwar ihren Samen in einer Samenbank deponieren, als Transfrau kann sie aber selbst keine Kinder bekommen. Sie braucht in jedem Fall eine Leihmutter und das ist momentan in Deutschland nicht erlaubt. Herr Reimers hat Bekannte in Holland, wo das Thema sehr viel menschlicher behandelt wird und machte ihm Hoffnung. Dort dürfen auch zwei Transsexuelle nach der Operation leibliche Eltern werden, wenn ihr Erbgut eingelagert wurde. Der rechtliche Teil muss mithilfe von Adoptionsverfahren geregelt werden, solange Deutschland bei seiner altertümlichen Gesetzgebung bleibt.

Wir sprachen davon, dass wir in Europa neue moderne Gesetze brauchen, welche mit der medizinischen Entwicklung Schritt halten können. Das gilt nicht nur für die Neufassung des TSG, sondern auch für einen vernünftigen Umgang mit Leihmutterschaft, sowie der trans-und homosexuellen Elternschaft. Deutschland ist durch seine traurige Vergangenheit prädestiniert dafür, der Welt den Weg in eine offene tolerante Gesellschaft vorzuleben. Letzten Endes ist es egal, wer leiblicher Vater oder wer leibliche Mutter ist, solange die entsprechende Rubrik in der Geburtsurkunde ausgefüllt wurde und man den Entstehungsweg eines Kindes nachvollziehen kann. Ich bin sicher, dass irgendwo auf der Erde bereits an einer künstlichen Gebärmutter geforscht wird. Wir leben im dritten Jahrtausend, welches das Zeitalter der Raumfahrt begründet. Für Frauen, die in ferne Galaxien unterwegs sind, muss es eine alternative Möglichkeit von Schwangerschaft und Geburt geben. Den Anfang hat man mit der Invitro Fertilisation bereits gemacht. Nun muss man den Embryo nur noch außerhalb des Mutterleibs in einer Brutmaschine wachsen lassen. Die technischen Probleme werden mit Sicherheit zu lösen sein. Eine Gesellschaft, die jedem ihrer Bürger freiheitlich demokratische Grundrechte garantiert, muss die Vielfalt menschlicher Lebensentwürfe anerkennen und rechtlich entsprechend definieren. Die Freiheit des einzelnen nach seinen Bedürfnissen leben zu können, schließt die Freiheit des anderen, solches zu kritisieren ein.

Für die Operation schreibt uns Doktor Reimers die ärztliche Verordnung. Er will auch eines der beiden notwendigen Gerichtsgutachten für die Vornamen- und Personenstandänderung fertigen. Meinen Antrag hatte ich bereits bei Gericht eingereicht. Das zweite Gutachten wird Frau Michelsen abgeben und Rene ist bereits in Hamburg bei einem Zweitgutachter in der Kartei.

Alles lief wie am Schnürchen. Andy und ich brachten Rene mit Tränen in den Augen am Ende seiner Ferien zum Bahnhof.

Auch Jenny fuhr wieder nach Hause. Sie ging wie ich in die zwölfte Klasse und wird im kommenden Sommer ihr Abitur machen. Meine und auch ihre Eltern gaben uns deutlich zu verstehen, dass sie für diese Verbindung in einigen Jahren, wenn wir erwachsen sind und unsere Berufsausbildung abgeschlossen haben, mit Freuden ihren Segen geben.

Das neue und gleichzeitig letzte Schuljahr brach an. Ich wurde langsam männlicher. Meine Stimme hörte sich zwar immer noch sehr jung an und einen Bartwuchs konnte ich an mir nicht feststellen. Doch äußerlich war ich als männlicher Jugendlicher erkennbar entwickelt, wenngleich ich mehr für vierzehn Jahre durchging, als für mein tatsächliches Alter.

Mein Termin am 5. Oktober musste auf den Freitagnachmittag gelegt werden. Ich konnte mir trotz guter Noten keinen Fehltag in der Schule mehr erlauben. Andy und ich büffelten in einer Tour.

Als ich zum Arzt sollte, flog ich am frühen Freitagnachmittag nach Hamburg. Doktor Reimers kontrollierte meine Testosteronwerte und untersuchte mich körperlich. Ich war wieder etwas gewachsen und hatte zugenommen. Meine Muskeln waren nach dem regelmäßigen Krafttraining stärker geworden.

Als ich aus dem Sprechzimmer kam, saß Rene drinnen. Er war als nächster dran. Wir hatten kaum Zeit für die Begrüßung. Ich wartete auf ihn. Sein Antrag auf die geschlechtsangleichende OP lief bei der Krankenkasse. Unser Anwalt hatte einmal an diese geschrieben.

Nächstes Kapitel Vaterfreuden
 
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