Der "Kirchenpitter" oder "Die frühen Jahre"

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Der Fußballplatz BV04 an der Rossstrasse, nur unweit entfernt, war von Schrebergärten umgeben, hatte aber keine Umkleidekabine und keine Dusche.
Nach dem Training oder Spiel, ging es die Rosstrasse hoch in eine Kneipe. Dort im Keller, unter erbärmlichsten Zuständen, wurde kalt geduscht, aber das machte uns allen nichts aus, da musste man durch.

Wir mussten trainieren und Kürtens Garten war zum Fußballspielen bestens geeignet. Den Dahlien hatten wir schon längst das Lebenslicht ausgetreten und so droschen wir den Ball, mit immer besser werdender Präzision, gegen den grünen Maschendrahtzaun, der den Garten, wie eine Art Visitenkarte, von der Straße trennte.

Es hatte sich bald herausgestellt, dass Peters Ambitionen, in Sachen Fußball, mehr auf dem Gebiet des Torehütens lag. Das war gut so, denn ich sah meine Fähigkeiten mehr im Bereich des geschickten Balltretens.
Damit gab es auch nie einen Streit, wer welche Position einzunehmen hatte, wie wir es das eine oder andere Mal auf dem Kirchplatz ausfechten mussten, weil einer partout nicht ins Tor wollte, nur weil sich dort eine Pfütze, von nicht geringen Ausmaßen, ausgebreitet hatte.

Peter war klein, aber geschickt im Fangen von Bällen, und wenn ich ihm die Lederkugel halbhoch, fast mit Ansage, in Richtung Maschendrahtzaun schoss, flog Peter, wie ein Habicht, geschickt in die vorbereitete Ecke und machte dabei eine so prächtige Figur, dass manch junger Bursche, aber auch der eine oder andere Erwachsene stehen blieb und ihm Beifall zollte.

Frau Kürten mussten wir allerdings aus unserer Fanliste streichen, denn sie war alles andere als begeistert, als sie die immer kleiner werdende Fläche ihres einstmals, von allen Frauen der Kanonierstraße gelobten Gartens sah.
Trotz anfangs gehöriger Schelte, schaffte es Peter irgendwie immer seine Mutter um den Finger zu wickeln. Irgendwann hatte sie eingesehen, dass sie ihre Fähigkeiten, in Sachen Gartengestaltung, auf ein, im hinteren Teil des Gartens liegenden Bereich, wo bekanntlich die Hollywood-Schaukel vor einem kleinen Rasen stand, beschränken musste.

Beseelt durch die Spiele in unserem Verein, wobei ich nie mit Peter dort in einer Elf zusammenspielte, weil er ein Jahr jünger war, verfeinerten wir unsere Technik, jeder auf seinem Gebiet. Wir bemerkten schon bald, dass wir beim Spiel mit dem Ball, unten am Berg oder auf unserem Kirchplatz, dem einen oder anderen der Jungs, die noch vor kurzem schneller liefen und besser schossen als wir, einen gewissen Respekt einflößten. Die Distanzen an Schnelligkeit und Geschicklichkeit begannen sich anzugleichen.

Sicherlich handelten wir uns mit dem einen oder anderen harten und festen Schuss auch so manchen Ärger ein. So erinnere ich mich, dass der Ball, von mir vorbildlich getreten, aber von meinem Torhüter wohl zu spät wahrgenommen, über den Zaun flog und dem vorbeifahrenden Postauto den Seitenspiegel zerdepperte.
Der Fahrer, ein gutmütiger Bursche, wohl selbst ein Fußballer, nickte gnädig und beließ es bei einem mahnenden Fingerzeig und einem Lächeln, was mich ein wenig wunderte.

Anders verlief die Sache, als ich einmal tatsächlich zu hochschoss, der Ball in weitem Bogen über den Zaun flog und in das gegenüberliegende Fenster des Sekretariates der Firma Petrasch krachte, eine der Querverstrebungen abriss, die Scheibe zerschlug, um dann mitten vor der Sekretärin auf dem Tisch zur Ruhe zu kommen. Der Schaden, der von meinem Vater ohne Murren bezahlt wurde, war nicht das eigentliche Problem, aber die zu Tode erschrockene Sekretärin, die fast einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, war, auch mit einem Blumenstrauß, kaum zu beruhigen. Das ärgste Erlebnis aber wartete bereits auf mich.

Am Ende unserer Kanonierstraße, gab es den, von Hecken eingefassten, schmalen Durchgang zur Diedenhofener Straße, bog man links ab, kam man zur Herz-Jesu-Kirche. Die Kirchgänger nutzten diesen Weg manches Mal an Sonntagen oder Feiertagen, wegen der vermeintlichen Abkürzung, aber es gab einen, der tauchte fast jeden Tag auf. Er trug eine Baskenmütze, schien so Mitte Vierzig zu sein, schlank und groß gewachsen, aber das Auffälligste an ihm war der lange, schwarze Mantel, der ihn förmlich in den Himmel wachsen ließ.

Das Antlitz, sehr hell und wächsern, dabei immer ernst geradeaus schauend, schien er uns nicht von dieser Welt zu sein. Der Blick, sein ganzes Mienenspiel drückte Verklärung aus. Ein vergeistigter Mensch eben, einer der in sich selbst einzukehren schien.
Die Leute nannten ihn „Kirchenpitter“, sein wirklicher Name war uns unbekannt. So sahen wir ihn also täglich die Straße, hocherhobenen Hauptes, entlang gehen.

War er außer Sichtweise, lachten wir über ihn und machten ihn in seiner gestelzten Bewegung nach. Dabei liefen wir möglichst stocksteif im Kreis, setzten eine wichtigtuerische Miene auf, vergruben unsere Hände in den Taschen und schauten mit geradem Blick und zurückgelegtem Kopf in den Himmel.

Auch wir mussten Sonntags in die Kirche gehen, taten es aber nicht mehr so oft. Dabei lernte meine Mutter auch den neuen Kaplan kennen. Eines Tages erklomm er die steile Stiege. Er war ein asketischenr, jungen Mann, der mager war und wie ein Knochengerüst aussah und ein Gesicht besaß, wie von El Greco gezeichnet.
Er erwischte meine Mutter gerade dabei, wie sie vom Herd kommend ihre Hände an der Schürze abputzte. Mit den Worten: „Guten Tag, ich wollte sie kennenlernen, ich bin der neue Kaplan und ich hätte gerne mit ihnen gesprochen.“

„Was kann ich für sie tun?“, frage meine Mutter. Der Kaplan faltete wohl unbewusst die Hände, schaute auf den Boden, wirkte dabei sehr bekümmert und sagte: „Nun, ich habe gehört, dass sie in einer wilden Ehe leben“, und darüber hätte ich gerne mit ihnen gesprochen. Meine Mutter war verblüfft, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.

Wer meine Mutter kennt, musste sie einfach gernhaben, denn sie verstand es unvorein- genommen zu sein, jeden zu mögen, egal wer er oder was er war. Ihr großes Herz schloss die Menschen ein und mit Verstand, Charme und Witz gelang es ihr, auch die Menschen für sich einzunehmen, die ihr in unangebrachter Weise entgegentraten.

Wer meine Mutter allerdings reizte, dabei ihre Akzeptanzschwelle überschritt oder sie von oben herab behandelte oder es auch nur versuchte, der hätte sich lieber in einen Löwenkäfig begeben sollen.

Der junge Mann hatte Glück, dass meine Mutter an diesem Tag nicht gebacken hatte und anstatt eines Nudelholzes nur eine Suppenkelle in Griffweite lag. Die zwei gepfefferten Sätze meiner Mutter und der vielleicht unbewusste Griff zum Kochgerät, vertrieben den „Schafhirten des Herren“ so schnell vom oberen Treppenabsatz, dass man schon fast wieder glauben konnte, der Herr im Himmel habe die Notsituation seines „Außendienstmitarbeiters“ verstanden und ihm, bei seiner plötzlichen Flucht auf den letzten Stufen der sehr steilen Treppe, hilfreich unter die Arme gegriffen. Nie wieder hat ein „Vertreter der Kirche“ unser Haus betreten.

Für die versäumten Kirchenbesuche gab es Strafarbeiten aus dem Katechismus und als ich meine siebzig Seiten Strafarbeiten, trotz der Mahnungen des Kaplans, nicht nachweisen konnte, schlug er mich dafür sehr heftig ins Gesicht.

Ich hasste ihn dafür, ertrug es aber und erzählte nichts meinem Vater, einmal um vor den anderen Schülern, denen es ja nicht besser ging, als „Memme“ dazustehen. Andererseits wollte ich nicht, dass mein Vater, ein durchaus herzensguter Mensch, seine gute Erziehung vergaß und die Sakristei stürmen würde, wenn er nur davon erführe.

Überhaupt waren Schläge in der Schule gang und gäbe. Hatte sich einer danebenbenommen, dann konnten sich verschiedenen Szenarien abspielen. Kurt, ein Junge mit recht dürftigem Wissen und demzufolge immer einer der Kandidaten, der einmal durch seine Unachtsamkeit, und seiner Beschränktheit, dem Lehrer besonders auffiel, musste sich zum Beispiel die Rute mit dem Taschenmesser, dass er von Lehrer ausgehändigt bekam, im Schulhof vom Strauch abschneiden. Sich dann, nach Ansage des Lehrers, zur Tafel zu beugen, um dann seinen lederbehosten Hintern der Klasse zuzuwenden.

„Fotografiere die Klasse“, sagte der Lehrer und hieb ihm ordentlich eins darüber. Ein anderer bevorzugte den Zeigestock, den er einmal mit Macht so auf die Kante eines Tisches drosch, dass der Stock zerbrach und wie ein Schrapnell durch die Klasse flog und den Lehrer selber am Kopf traf.

Eine besondere Variante war das Schlagen auf die vordere Handfläche, manches Mal mit dem Lineal oder aber mit dem Zeigestock. Das Werfen von Gegenständen, wie zum Beispiel Kreide, eine noch maßvolle Variante oder dem Schlüsselbund, wenn es sich um ein größeres Ärgernis handelte, wurde ebenfalls gerne benutzt. Aus der heutigen Betrachtungsweise wäre jede diese Maßnahmen ausreichend, dem Lehrer jede weitere Befugnis Kinder zu unterrichten abzusprechen.

An diesem Tag jedenfalls, wie die ganze Woche über, spielten wir Fußball und Peter war kaum zu bezwingen. Seine Paraden waren prächtig und ich knallte ihm die Bälle, die damals noch aus purem Leder waren, aufs Tor. Das eine oder andere Mal war ich der Überzeugung, ich könnte ihn überrumpeln. Ich spielte den Ball flach in die Ecken, dann halbhoch und als nichts mehr ging, versuchte ich es mit einem Linksschuss.

Denn das Schießen mit dem linken Fuß hatte ich mir angefangen beizubringen und bei unserem Spiel bei BV04, also im Verein, war es von besonderem Wert, weil es so viele „Linksfüßler“ nicht gab. Außerdem einen Ball in den Lauf gespielt zu bekommen und ihn gleich, mit welchem Fuß auch immer, weiterleiten zu können, machte das Spiel schneller.

Jetzt bekam ich den, von Peter über eine Faustabwehr zurück geboxten Ball so auf die linke Seite gelenkt, dass ich sofort wusste, dass ich ihn schön treffen würde und Peter damit seine Schwierigkeiten hätte. Ich traf ihn wirklich gut und wie ein Strich jagte der Ball aufs Tor. Plötzlich sah ich die schwarze Gestalt mit ruhigem Schritt von links ins Blickfeld rücken. Peter verfehlte den Ball, er kam einfach zu spät hoch und musste ihn passieren lassen.

Knapp flog er über den Zaun und unvermindert fegte er über die Straße. Die Gestalt mit der Baskenmütze füllte für einen Moment die ganze Straße aus, so kam es mir vor und der Ball lag genau im Fadenkreuz des Kopfes. Das würde eng werden dachte ich mir, denn der Ball segelte genau in seine Richtung.
Ehe ich mich versah, fegte der Ball knapp über das Haupt des Mannes und riss ihm dabei, ohne dass sich sein Kopf bewegte, die Baskenmütze vom Kopf.

Ich erschrak, drückte beide Hände vor den Mund und zog dabei ein Bein an, als natürlicher Reflex der Schamhaftigkeit. Mein Gott, war mir das peinlich, ich drehte mich um, wusste aber doch, dass ich nicht unsichtbar werden konnte. Also drehte ich mich wieder zurück, während der Mann seine Mütze aus dem Straßenstaub nahm, sie langsam aufsetzte und zu mir herüberschaute. Durch die Peinlichkeit in Not geraten, winkte ich ihm zu und murmelte ein „Entschuldigung."

Als er mit ruhigem Schritt die Straße entlang ging und aus unserem Sichtfeld verschwunden war, mussten Peter und ich laut lachen, jetzt fühlten wir uns wieder sicher und eigentlich war ja auch nichts passiert außer, dass ich diesem merkwürdigen Menschen die Mütze vom Kopf geschossen hatte.

Es verging eine gute Stunde und verbissen, immer noch mit viel Spaß bei der Sache, schoss ich die Bälle auf Peters Tor und jetzt schien der Bann gebrochen. Peter musste hinter sich greifen und den Ball zurückwerfen mit dem Bewusstsein, geschlagen worden zu sein.
Ich hatte Oberwasser gewonnen, ich jagte ihm die Lederkugel mit mehr Selbstvertrauen als in der Stunde zuvor aufs Tor und wieder kam der Ball auf meine linke Seite. Aus dem Augenwinkel sah ich eine schwarze Gestalt, auf dem Weg zurück vom Kirchgang in unser Blickfeld treten. Er hatte den Zaun fast erreicht als ich ausholte und den Ball voll traf.

Peter, sicherlich vom vielen Fangen und Abwehren der Bälle schon etwas müde, zeigte nur eine matte Reaktion in Richtung Ball. Der aber jagte knapp über ihn hinweg, was einem Tor gleichkam und flog wieder über die Straße.
Mir stockte der Atem, dieses Mal kam ja der Mann von rechts und mein Ball, wieder mit dem linken Fuß abgezogen, flog wie ein Geschoss ihm entgegen. Er hätte ihm ausweichen können, ich war mir sicher. Der Blick in sein Gesicht zeigte mir an, dass er weit weg mit seinen Gedanken war, weit von allem Irdischen entfernt und jetzt würde ihn das Irdische einholen, davon war ich überzeugt.

War es ein Fingerzeig Gottes? Liebte Gott Späße? Ich weiß es nicht, jedenfalls flog der Ball, man ahnt es bereits, so präzise über den Schopf des Mannes, dass er ihm wieder die Baskenmütze vom Kopfe riss, ohne ihn wirklich zu treffen.

Jetzt hätte ich mich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen, ich stand da mit hochrotem Kopf. Wieder die gleiche, unbewusste Reaktion, beide Hände auf den Mund gedrückt und weggedreht.

Der Mann bückte sich und hob die Baskenmütze auf und sah mich, länger als beim ersten Mal, jetzt zweifelnd an. Ob er wirklich glaubte, ich hätte das extra so gemacht, ging es mir durch den Kopf? Ich stotterte ein „Entschuldigung“, hatte aber den Eindruck, dass ihn meine Worte nicht wirklich erreichten. Er wendete sich ab und ging mit ruhigen Schritten in Richtung unten am Berg.
 
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