Der kleine Gedanke und das Gedicht

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wondering

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Der kleine Gedanke und das Gedicht
Eine Hommage an Max Dauthendey (1867-1918) und die Sprache des 19.Jahrhunderts

Zu einer Zeit, als noch Reines gedacht und noch mehr Feines geschrieben wurde, kam eines Tages ein kleiner Gedanke auf die Welt. Er wurde zwar im Kummer geboren, aber nun war er da und wollte dann auch gleich weiter gedacht werden. „Ich möchte unbedingt ein Gedicht werden“, rief der kleine Gedanke dem Geist zu, aus dem er kam, „und nun streng’ dich mal an, damit ich auch schön und wohlgereimt nach allen Regeln der Kunst an die Nachwelt überliefert werde.“

Der Geist, der den Gedanken gedacht hatte, gehörte einem Jüngling, der sein Herz an ein Mädel verschenkt hatte. Sie hieß Marie, war von jener Anmut und Grazie, die jedem Jüngling, der sie sah, den Atem stocken und das Herz bis zum Halse schlagen ließen. Doch trug sie ihre kleine, hübsche Nase ein wenig zu hoch und liebte zudem das Spiel mit den Herzen von verliebten Toren. Auf dem Dorffest hatte Marie es zugelassen, dass der Jüngling, sein Name war Max, sich ihr näherte. Sie trieben allerlei Schabernack zusammen, und Marie hatte viel Spaß daran, ihren Max zu locken. Doch schon am nächsten Tag, als Max seine Marie aufsuchen wollte, um in den Wiesen mit ihr umher zu tollen, verstieß sie ihn und warf ihm garstige Worte hinterher. Sein junges Herz zerbrach und seinem Geist entsprang jener Gedanke, der nun unbedingt ein Gedicht werden wollte:

Ich fühle mich tot, als wär ich erfroren.

Nun war dieser abscheuliche Gedanke geboren und tobte im Kopf, ja bald im ganzen Körper des Jünglings: „Ein Gedicht, ein Gedicht. Ich werde ein Gedicht. Mach’ mich zum Gedicht...“, lamentierte der kleine Gedanke und ließ unseren Max nicht mehr los. Doch fühlte der Verstoßene auch, so sehr ihn sein Gedanke quälte, dass er ihn auf feines Bütten gebannt vielleicht loswerden könnte. Also setzte er sich hin, nahm die Feder zur Hand und schrieb seinen Gedanken sorgfältig nieder:
Ich fühle mich tot, als wär ich erfroren.
Dies stand nun in feinen Lettern auf noch feinerem Papier. Max steckte das Ende der Schreibfeder in seinen Mund und er besann sich, auf dem Federende kauend, auf die nächste Zeile. Er forschte in seinem Inneren nach seinen Gefühlen, doch wollten diese sich nicht zu klaren Gedanken formen. Viele neue Gedanken stürzten auf ihn ein und verlangten, jeder einzelne, nach einer Form:
„Mach mich zur Erzählung“, rief der Eine.
„Nein, eine Novelle, ich bin es Wert!“, forderte der Nächste, und schließlich verlangte ein tiefer Gedanke gar einen Roman.
Doch der kleine Gedanke „Ich fühle mich tot, als wär ich erfroren“ blieb fest in seinem Herzen verwurzelt und ließ keinen anderen Gedanken zu. Und er nagte an Max, der kleine Gedanke, dass unser Jüngling beinahe seine Feder zerbissen hätte, als ihm plötzlich die nächste Zeile kam:

Als hätt sich die Welt zu sterben verschworen.

Ein tiefer Seufzer entfuhr Max, nachdem er die Worte auf das Papier geschrieben hatte, und sein Herz pochte ein wenig schneller. Er lauschte in die Stille seiner Kammer und folgte dem Blick aus dem Fenster, horchte dabei in sich hinein und schrieb sogleich die nächste Zeile:

Ich grübe mir gern in die Stille ein Grab,
und seht her, auch gleich die übernächste:
Und warte begraben deine Wiederkehr ab.

Max fiel ein erster Stein vom Herzen, und ein vages Lächeln huschte über das junge Gesicht.
Er dachte an Marie, sah ihr blondes Haar, das er wie pures Gold auf ihren Schultern liegen gesehen hatte. Er hörte ihr helles Lachen, das wie ein Glockenspiel in seinen Ohren geklungen hatte, und fühlte noch einmal, wie sich ihre Hände wie zufällig berührt hatten. Voller Sehnsucht wollte sein Kummer sich im Herzen zusammenballen.

Sie hatte ihn für den Tag nach dem Dorffest zu sich bestellt und er war, in heißer Liebe entbrannt, schon gut fünfzehn Minuten vor der Zeit an Maries Haus angelangt gewesen. In ungestümer Vorfreude hatte er wartend kleine Kiesel vor sich her gekickt, mit dem Hund der Nachbarn Nachlaufen gespielt und fortwährend nach Maries Fenster geschielt. Doch zum vereinbarten Zeitpunkt ließ sich Marie nicht blicken. Also schickte er sich an, an der Haustür zu klopfen. Er musste dies gleich drei Mal tun, bevor die Tür aufgetan wurde und die Magd ihm ausrichtete, dass Marie unpässlich sei. Zum einen enttäuscht und zum anderen in Sorge, fragte Max die Magd, ob denn irgend etwas zu tun sei. Da bemerkte er die Unsicherheit der Magd, denn diese war wohl auf eine solche Frage nicht vorbereitet, wiederholte nur, dass das Fräulein unpässlich sei und senkte den Blick zu Boden.
Max ließ sich damit nicht abweisen, drang ins Innere des Hauses und rief das Mädchen seines Herzens. „Hallo, ich bin da! Marie, komm zu mir. Wir wollen einen Spaziergang machen.“ Doch musste er sein Rufen wiederholen, bevor das Mädchen sich zeigte und mit düsterer Miene schimpfte: „Was willst du hier? Ich habe dir nichts versprochen und ich bin nicht interessiert, mit dir einen Spaziergang zu machen. Das langweilt mich, so wie du mich langweilst. Scher dich fort, du Tor. Ich habe Besseres zu tun, als mit dir über die Wiesen zu wandern.“
Unserem Max stand der Mund weit offen, und das Herz wollte ihm zerbrechen. Mit weichen Knien verließ er das Haus und trollte sich heim in seine Kammer, um dort seinem Kummer freien Lauf zu lassen. Und nachdem er sich auf die Bettkante fallen gelassen hatte und vor sich hin starrte, wurde der kleine Gedanke geboren.

Nun, da ihm die Erinnerung an jene Szene vor Augen lebendig geworden war, hatte der gute Max, dank des kleinen Gedankens, ein wenig seines Kummers auf Papier gebannt. Er las, was er geschrieben hatte:

Ich fühle mich tot, als wär ich erfroren.
Als hätt sich die Welt zu sterben verschworen.
Ich grübe mir gern in die Stille ein Grab
Und warte begraben deine Wiederkehr ab.


Max fragte sich ernsthaft, ob er tatsächlich diese Wiederkehr wollte. Sein Herz war noch zerrissen, und es kam ihm ein neuer Gedanke, den er sogleich niederschrieb:

Vom langen Warten versteinern die Wangen.

Ja, dieser Gedanke war ihm willkommen und er fühlte, wie ein kleiner Zorn gegen das hochgetragene Näschen seiner Angebeteten in ihm aufstieg. Wie konnte ein Weibsbild es wagen, ihn, Max, so zu behandeln. Und noch während er verärgert mit seiner Feder in der Luft herumfuchtelte, kam ihm das Bild ihrer lieblichen Figur in den Sinn und auch all das sündige Verlangen, das er mit ihrem Anblick verband. Er ließ die Feder auf das Papier sinken, und sogleich war mit wehmütigem Blick und zitternder Hand der nächste Gedanke des Gedichts aufgeschrieben:

Doch lebt auch im Stein noch ein lebend Verlangen.

Kaum jedoch hatte unser tapferer Liebestoller sein Eingeständnis in Lettern auf Bütten gebannt, überfielen ihn des Stolzes Gedanken und befreiten ihm das betrübte Herz ein wenig:
Ich weiß nur, dass ich nichts fühlen will;
Vielleicht steht dann endlich das Warten still.


Es wurde allmählich Abend, nachdem Max den ganzen Tag in seiner Kammer mit dem vom kleinen Gedanken verlangten Gedicht verbracht hatte. Zwar fühlte er sich langsam wieder genesen, doch sein kleiner Gedanke maulte plötzlich herum: „Ich bin doch wahrlich kein heller Gedanke. Ich bestehe darauf, trüb zu sein, also bring’ mich im Gedicht gefälligst zu Ende. Keine Hoffnung, steter Kummer, ewiger Schmerz, ja, das bin ich, das gefällt mir. Ich befehle dir, mich zu fühlen...Los, schreib mich nieder!“, und Max fühlte, wie der kleine Gedanke in seiner Brust wühlte, an den Nerven und Muskeln zog. „Ja, du hast Recht, Gedanke, das Leben ist voller Schmerz!“
Voller Inbrunst und mit gramverzerrter Miene ließ er die letzten Zeilen aus der Feder fließen:

Der Wind heult vor den nächtlichen Toren,
Als würde da draußen nur Unglück geboren.


Und wie besessen, mit düsterem Blick und schneller Feder vollendete Max sein Gedicht:
Er klagt wie ein Hund in die Leere hinein
Und stets drängen Hunger und Sehnsucht herein.


Es war Nacht geworden und der Mond stand am Himmel, dass Max ihn von seiner Kammer aus sehen konnte. Gerne hätte er ihn angeheult, so ergriffen war er von dem, was der kleine Gedanke aus ihm hervorgebracht hatte. Und mit Genuss las er:

Ich fühle mich tot, als wär ich erfroren.
Als hätt sich die Welt zu sterben verschworen.
Ich grübe mir gern in die Stille ein Grab
Und warte begraben deine Wiederkehr ab.

Vom langen Warten versteinern die Wangen.
Doch lebt auch im Stein noch ein lebend Verlangen.
Ich weiß nur, dass ich nichts fühlen will;
Vielleicht steht dann endlich das Warten still.

Der Wind heult vor den nächtlichen Toren,
Als würde da draußen nur Unglück geboren
Er klagt wie ein Hund in die Leere hinein
Und stets drängen Hunger und Sehnsucht herein.


Glücklich und zufrieden legte Max um Mitternacht seine Feder nieder und ging zu Bett.
 

Rainer

Mitglied
habe NICHTS zu meckern

hallo wondering,

ich bin baff: erstens freue ich mich, dass noch jemand dieses gedicht richtig gut findet,und
zweitens deine "interpretation".
ich "sehe" beim lesen eigentlich immer einen alten mann (männliche betrachtungsweise), der seiner verlorenen frau/freundin/geliebten nachtrauert.
und du wagst es dir, aus diesem gebückten menschen im nebel, mit tropfender nase und kalten händen einen jungspund zu machen ;).

nun muss ich über max dauthendey neu nachdenken - danke.


viele grüße + bitte mehr davon

rainer


p.s. von mir aus könnte die sprache ruhig noch romantisch-überladener sein, vielleicht mit noch mehr "altertümelnden" begriffen für gegenstände. aber auch so war es mir schon ein großes vergnügen
 

wondering

Mitglied
Hallo Rainer,

ich danke dir für deinen netten Kommentar.
Es hat viel Spaß gemacht, diese Erzählung zu schreiben und ich war erstaunt, wieviel leichter mir diese Sprache "aus der Feder floß", als es bei manch anderen Texten der Fall ist.
Es war ein Experiment für mich und diese müssen ja nicht unbedingt immer futuristisch sein, düfen auch mal in die Retro-Schiene springen.

Ein dickes Danke an GabiSils für ihr tolles Lektorat :)

Viele Grüße
Astrid
 

Gandl

Mitglied
Ich grübe mir gern in die Stille ein Grab

Hi wondering,
so schön. So wunderwunderschööön.
Sprache und Aufbau sind extraklasse.
Ach, Liebesleid...
Ach, das einzige Mittel dagegen: Schreiben.
Vielen Dank (auch für das Gedicht)
Liebe Grüße
Gandl
 

wondering

Mitglied
Hallo Gandl,

vielen Dank für das Lob. Es gibt sie also doch, die Schreiber von heute, denen diese Sprache gefällt (wie mir). Das freut mich sehr.
Dein Danke für das Gedicht gebe ich gerne in die Unvergänglichkeit weiter an Max Dauthendey... :)

Viele Grüße
wondering
 
wie ein kleiner Gedanke gross wurde ...

Hallo Wondering,

nun muss ich sagen, der Titel allein hätt' mich nicht zum Bleiben überredet, da könntest du schon noch was dran tun .... aber ansonsten !WOW! --- sprachlich unglaublich schon verbunden und obwohl der Text viel Herz-Schmerz und Pathos hat ist die Sprache nicht zu sehr überfrachtet...
Barock fällt mir dazu ein - ohne es negativ zu meinen! :)

Ganz ehrlich, ein sehr schöner Text. Vor allem die Leibhaftigkeit des Gedanken finde ich so schön plastisch dargestellt im ersten Absatz schon ...

unglaublich überraschend der Inhalt. Toll. Ich werde wohl sehr viel häufiger deine Texte lesen u freu mich schon drauf ... :)

lg
Scarlett
P.S. konnte leider nicht werten ... :(
 

wondering

Mitglied
Oh, Scarlett,

was für ein "bedenkenswerter" Hinweis, dass der Titel nicht so lockt! Das stimmt, liest sich ein wenig "gewöhnlich".
Das, was bei dir im Betreff steht, klingt nach einem geeigneten Titelvorschlag. "wie einkleiner Gedanke groß wurde"...
hm, ich denke mal darüber nach.

Vielen Dank für Hinweis und Lob.

Grüße
wondering
 
S

Stoffel

Gast
liebe Astrid,

auch ich bin "baff"!
Habe es vorhin gelesen und liess es mir noch einmal auf der Zunge zergehen.
Suuuuper...da kann ich endlich mal wieder die Höchstnotetaste drücken.
Mir fehlen die passenden Worte..ehrlich.:)

Ich mag den Titel..

lG
Stoffel
 

Echoloch

Mitglied
Liebe Wondering, ich schließe mich dem Urteil meiner Vorgänger an, finde den Text grandios, liebevoll erdacht, originell, flüssig zu lesen, sprachlich überzeugend. Bin sehr beeindruckt.
Nur zwei wirklich kleine Anmerkungen:
Du schreibst: "Doch der kleine Gedanke „Ich fühle mich tot, als wär ich erfroren“ blieb fest in seinem Herzen verwurzelt und ließ keinen anderen Gedanken zu." Du hattest ja vorher gerade andere Gedanken geschildert, die sich Max aufdrängten, vielleicht ist das pingelig, aber ich würde eher schreiben, dass der kleine Gedanke die anderen verdrängte, denn kurz waren sie ja da.
In einem anderen Satz sind "ernsthaft" und "tatsächlich" enthalten. Davon kannst Du meiner Ansicht nach eines weg lassen. Du bist ja ansonsten auch nicht der Versuchung zu vieler und sich gegenseitig entkräftigender Worte erlegen.

Ganz großes Lob von Echoloch
 



 
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