Der kleine Geiger

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flammarion

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Der kleine Geiger

Im Jahre 16hundert langsam lebte ein kleiner Junge namens Hans. Er war eine Waise. Nur die Geige seines Vaters war ihm geblieben. Leider konnte er nicht darauf spielen, der Bogen kratzte stets nur über die Saiten und erzeugte schrille Töne. Das wollte niemand hören und er wurde überall weggejagt.
Also ging er tief in den Wald hinein, um dort zu üben. Er übte lange, sehr lange. Aber leider ohne Erfolg. Er erinnerte sich daran, dass sein Vater recht lange Finger hatte, seine eigenen jedoch eher kurz waren. Hans zog an seinen Fingern, dass es knackte, aber sie wurden nicht länger. Traurig setzte er sich auf einen bemoosten Stein und war den Tränen nahe. Ein Zigeuner lebt von seiner Geige, so hatte man es ihm beigebracht. Doch was sollte er tun, wenn ihm die Geige nicht gehorchte?
Hans legte den Kopf in seine Hände und war verzweifelt. Da zupfte ihn jemand am Ärmel. Hans blickte auf und fuhr zusammen. Ein entsetzlich hässlicher Gnom stand an seiner Seite und sprach: „Du möchtest gern musizieren können wie dein Vater?“
Schnell überlegte Hans: Wenn der meine Sorgen kennt, ohne dass ich sie ausgesprochen habe, dann ist er zu mehr fähig, als man annehmen sollte. Und so antwortete er: „Nein. Ich möchte der beste Geiger der Welt werden!“
Der Gnom zog die Brauen hoch: „Oh! Na, wenn das so ist . . . Ich glaube, ich kann dir helfen.“
„Und wie?“, erlaubte Hans sich zu fragen.
„Wenn du mir einen Teil deiner Menschenschönheit überlässt, verhelfe ich dir zu unglaublicher Virtuosität.“
Hans dachte: Schönheit, was ist das schon! Ja, für diesen Gnom ist es vielleicht was, aber für mich ist die Hauptsache, spielen zu können und Geld zu verdienen. So stimmte er dem Handel zu. Der Gnom drückte ihm eine Kappe in die Hand: „Die wirst du brauchen! Nimm sie nur ab, wenn du sicher bist, dass dein Spiel die Menschen verzaubert.“
Hans steckte die Kappe in die Hosentasche und der Gnom verschwand. Hans beschloss, sich jetzt erst einmal zu stärken, denn er hatte seit dem Morgen nichts gegessen. Er suchte sich ein paar Beeren und ging dann zur Quelle um einen frischen Trunk. Als er sich zu dem klaren Wasser hinunter beugte, fuhr er erschrocken zurück. Was war das für ein überaus hässliches Geschöpf, das er da erblickte? Er sah sich um – außer ihm war niemand im Wald. Er beugte sich erneut zur Quelle und sah wieder diese Abscheulichkeit. Da wurde ihm bewusst, dass das sein eigenes Spiegelbild war. Er fühlte sich betrogen. Einen Teil hatte der Gnom gesagt, aber offensichtlich alles genommen!
Sofort ergriff er seine Fiedel und wollte spielen. und siehe da, sie klang so süß und lieblich, wie er es nicht einmal von seinem Vater gehört hatte. Da zog Hans fröhlich in die Stadt, um endlich auf gewohnte Zigeunerweise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Doch man jagte ihn davon, noch ehe er zu spielen beginnen konnte, er war zu hässlich, niemand konnte seinen Anblick ertragen. Da erinnerte er sich an die Kappe, die er von dem Gnom als Zugabe erhalten hatte. Er setzte sie auf in der Hoffnung, dass sein Äußeres nun annehmbarer sei. Jedoch – es war eine Tarnkappe, Hans wurde unsichtbar. Und nicht nur das, es konnte ihn auch keiner hören. Zornig ging er in den Wald, um nach dem Gnom zu suchen und den dummen Tausch rückgängig zu machen.
Auf dem Wege zum Wald erblickte er am Wiesenrain ein kleines Mädchen, das herzzerreißend weinte. Nanu, dachte er, kann jemand trauriger sein als ich? Das Mädchen war kaum älter als er und schluchzte, dass sein ganzer Körper bebte. Hans dachte nicht mehr daran, wie er jetzt aussah, sondern strich der Kleinen übers Haar: „Was es auch immer ist, so schlimm kann es unmöglich sein!“
Die kleine Dora wischte die Tränen aus den halbblinden Augen und stotterte: „Ich habe den Milchkrug fallen lassen, weil mir die Katze plötzlich in den Rücken gesprungen war. Ich hatte einen Schrecken bekommen, verstehst du? Aber die Muhme denkt, ich hätt es mit Absicht getan und sie hat mich hinaus gejagt. Wo soll ich denn nur hin? Ich hab doch niemanden mehr!“ Und erneut stürzten Bäche von Tränen aus ihren Augen.
Hans setzte sich neben sie und nahm sie sanft in seinen Arm, wie er es bei seiner Sippe oft gesehen hatte. Irgendwann schlief Dora ein, erschöpft vom vielen Weinen. Ganz leise spielte Hans auf seiner Geige Schlaflieder für sie, damit sie nicht von bösen Träumen geplagt werden sollte.
Am Morgen sammelten die Kinder ein paar Beeren zum Frühstück. Hans achtete darauf, dass das Mädchen sein Gesicht nicht zu sehen bekam. Sie sollte ihn nicht abweisen. Während sie aß, stellte er sich hinter sie und spielte auf der Fiedel. „Du spielst aber schön“, lächelte sie nach einer Weile. „Bist du ein Zigeuner?“ Hans bestätigte. „Ich hab noch nie einen Zigeuner gesehen“, meinte Dora neugierig und drehte sich zu Hans um. Sie betrachtete ihn ernst und glaubte, dass er aussieht, wie Zigeuner eben aussehen und mokierte sich nicht über seine Hässlichkeit. Da war Hans sehr froh und seine Geige jubilierte unter seinen Händen in Tönen, die noch kein Menschenohr vernommen hatte.
Die zwei blieben beieinander und zogen durch das Land. Dora erzählte den Leuten von dem hässlichen Zigeuner mit der wundervoll tönenden Geige und sie hörten zu und legten Münzen auf den Teller, mit dem Dora von einem zum anderen ging. Es war nicht viel, doch für zwei kleine Mägen genug.
Irgendwann genügte Hans diese Bettelei auf den Märkten nicht mehr. Außerdem stand der Winter bevor, da kommt keiner auf die Straße oder auch nur ans Fenster, um seinem Spiel zu lauschen. In die Kaschemmen wollte er auch nicht gehen, weil es da schon ein paar Mal geschehen war, dass so ein grober Kerl ihm ein Bein gestellt hatte. Nur gut, dass er sich rechtzeitig abfangen konnte, was wäre, wenn seine Geige zu Schaden käme? Der Verlust wäre riesig! Also wollte Hans zu Weihnachten beim Grafen vorspielen in der Hoffnung, dort als Hofmusikant mit Dora überwintern zu können.
Bis zum Schloss des Grafen war ein weiter Weg. Ein tiefer, düsterer Wald war zu durchqueren. Obendrein kam der Schnee in diesem Jahr früher und kräftiger als je zuvor. Die Kinder gingen fest aneinander geschmiegt tapfer vorwärts. Sie wussten, wenn sie sich hinsetzen würden, könnten sie erfrieren. Die Nacht brach herein. Es war die Nacht zum vierten Adventsonntag. Daran dachten Hans und Dora nicht. sie hatten damit zu tun, zu überleben in dieser klirrenden Eiseskälte.
Sie kamen auf eine Lichtung, auf der ein Waldfriedhof angelegt war. In der Mitte stand eine kleine Kapelle aus hellem Holz. Vielleicht könnten sie darin ein wenig ausruhen? Plötzlich öffneten sich die Türen des Kirchleins, eine Bahn von Licht brach aus dem Inneren und legte sich wie eine Straße durch den ganzen Friedhof hindurch bis in den Wald.
Da fassten sich die Kinder, ohne ein Wort zu sprechen, bei der Hand und liefen auf das Licht zu. Bevor sie aber noch die Kirche erreicht hatten, blieben sie wieder stehen und schauten zur Tür hinein. Da sahen sie, dass die Kirche auch im Inneren ganz aus Holz war. Wunderschöne Bilder waren an die Decke und die Wände gemalt. Das Licht jedoch, das aus der Kirche strömte, kam von dem großen Adventskranz her, der vor dem Altar an der Decke hing und alle vier Kerzen waren angezündet.
Wie die Kinder noch so da standen und auf die brennenden Lichter blickten, hörten sie hinter sich ein Knirschen im Schnee wie von vielen Schritten. Und als sie sich umwandten, sahen sie einen seltsamen Zug. Mitten auf der Straße kamen die Tiere des Waldes auf das Gotteshaus zugeschritten. Hirsche, Rehe, Wildschweine, Marder, Eichhörnchen, Füchse und Hasen, sogar ein kleines Wolfsrudel und eine Braunbärenfamilie, alle friedlich nebeneinander, so zogen sie ohne anzuhalten an den Kindern vorbei und in das Kirchlein hinein.
Gleich nach den Waldtieren aber kam mit schwerem Tritt ein Trupp von Pferden daher. Die hatten weder Schweif noch Mähne und ihr Fell war fast ohne Haar. Langsam stampften sie durch den Schnee, den Kopf gesenkt und mit trübem Blick. Das waren die Grubenpferde aus dem nahe gelegenen Bergwerk. Sie waren durch die mangelhafte Ernährung fast haarlos und bei der Arbeit unter Tage blind geworden, doch auch sie zogen, ohne sich zu irren, auf dem hellen Lichtstrahl in die kleine Kirche hinein.
Kaum aber waren die Pferde im Gotteshaus angelangt, als in großen Scharen die Vögel des Waldes heran gebraust kamen. Singvögel und Spechte, Krähen, Eulen und andere Raubvögel schwirrten so dicht über die Kinder hinweg, dass es um sie wehte und dröhnte wie im Sturm. Alle, alle waren gekommen, um den Herrn in dieser wunderweißen Nacht zu lobpreisen.
Nachdem die Vögel auf allen möglichen Vorsprüngen an den Fenstern und unter dem Dache Platz genommen hatten, begann die Orgel leise zu tönen und die Tiere begannen ein altes Kirchenlied zu singen.
Aufrecht und feierlich ging Hans neben Dora einher, während er seine Augen fest auf das strahlende Licht geheftet hielt. Plötzlich drückte er ihre Hand, dass es ihr beinahe weh tat, dann riss er die Tarnkappe vom Kopf. Und während er neben ihr her ging wie ein seltsames Fabelwesen mit seinen großen, traurigen Augen und dem Gesicht halb wie ein Tier und halb wie ein Mensch, da nahm er die Geige von seinem Rücken und setzte den Bogen an. Mit lautem Jauchzen und Klagen schwang sich sein Spiel über die Orgeltöne und war gleichzeitig mit ihnen im Einklang.
Das war so herrlich anzuhören, dass es wie ein Schauer über die Kleine hin ging. Laut umbrauste sie der Gesang der Tiere, er wogte über sie hinweg ins Freie hinaus und bis in den Wald hinein, über alles Leid der Welt bis in den Sternenhimmel hinauf.
Von dort kam ein pausbackiges Engelein zu den Kindern herab. Es wärmte sie unter seinen Engelsflügeln. Durch die Nähe zu dem Gotteswesen verlor Hans sein hässliches Antlitz und in Dora wurden alle guten Eigenschaften gestärkt, so dass sie später allen Lebensstürmen gewachsen war. Die Tarnkappe nahm das Englein mit, denn es ist nicht gut, wenn Menschen derartige Dinge besitzen.
Der Graf bot den beiden nicht nur ein Winterquartier, sondern ermöglichte Hans auch, in anderen Herrscherhäusern zu spielen und Hans wurde, wie er es sich gewünscht hatte, weltberühmt.
 

Mick Tales

Mitglied
Phantasievolle Geschichte. Die äußerliche Rückverwandlung des verzauberten Jungen kommt allerdings recht plötzlich und könnte vielleicht noch ein wenig dramaturgisch ausgeschmückt werden, z.B. indem sie aus der Sicht des Mädchens geschildert wird. Ansonsten sind mir folgende Kleinigkeiten am Anfang und am Ende der Geschichte aufgefallen: Im Jahre 16hundert [red]langsam [/red]lebte ... sein hässliches Äußere[red]s[/red].
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Menschen stolpern nicht über Berge, sondern über Maulwurfshügel
(altes chinesisches Sprichwort)
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
danke

fürs lesen und kommentieren. 16langsam hatte ich gewählt, um mich nicht auf eine jahreszahl festzulegen (da hätt ja gerade krieg sein können) und hässliches Äußere ist nach meiner meinung richtig. werd mal ne deutschlehrerin fragen.
lg
 

Mick Tales

Mitglied
Die Vielzahl der Kriege im 17. Jahrhundet ist in der Tat erschreckend. Der dreißigjährige Krieg war ja "nur" einer von vielen im Mitteleuropa dieser reichlich blutdürstigen Epoche. Im Jahre 1600 befand sich meines Wissens der Großteil Europas ausnahmsweise im relativen Frieden, wenn man vom Unabhängigkeitskampf der Niederländer gegen Spanien ("achtzigjähriger Krieg") und dem nordischen Krieg (Polen-Schweden) absieht... Um sicherzustellen, dass die erzählte Geschichte in Friedenszeiten hätte stattgefunden haben können, kann entweder eine auf genauer Recherche beruhende Angabe von Zeit und Ort verwendet werden, oder es kann, da ja die kriegerischen Auseinandersetzungen resp. Schlachten und Plünderungen nicht (wie in späteren Weltkriegen) überall mehr oder weniger zeitgleich stattfanden, auf die genaue Ortsangabe unter Bezug auf einen "relativ friedlichen" Zeitpunkt - z.B. das Jahr 1600 - verzichtet werden. Die Angabe 16hundert langsam hatte bei mir jedoch zu Verwirrung geführt. Mir schien - bitte mein fehlendes kreatives Verständnis in Bezug auf neue Wortschöpfungen zu entschuldigen - das Wort langsam da versehentlich reingerutscht zu sein.

Die Frage, ob sein hässliches Äußeres oder sein hässliches Äußere richtig ist, ist in der Tat interessant. Nach meinem ursprünglichen Sprachgefühl wären richtig gewesen: das hässliche Äußere und sein hässliches Äußeres.
Tatsächlich ist es so (hab mich im Duden schlau gemacht), dass das s bei der letzteren Wortstellung optional ist, dass es also sowohl sein hässliches Äußere, als auch sein hässliches Äußeres heissen darf,ganz nach Gusto der Autorin/des Autoren. Bitte auch hier um Entschuldigung für ungerechtfertigte Kritik. Man lernt nie aus.
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Menschen stolpern nicht über Berge, sondern über Maulwurfshügel
(altes chinesisches Sprichwort)
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
supi.

das langsam habe ich in meiner schulzeit erfunden und hinter jede beliebige jahreszahl gesetzt, weil ich mir nie irgendwelche daten merken konnte, nicht mal die geburtstage innerhalb der familie. meine geschichtslehrerin lächelte verstandnisvoll darüber. aber zu gunsten dieser geschichte werde ich es streichen.
das mit häßliche usw hatte mir die lehrerin so erklärt: das häßliche Äußere, ein häßliches Äußere. für so was hab ich n gedächtnis . . .
lg
 
Hallo Flammarion,

das ist ja eine wirklich nette Geschichte, vor allem der Rest ist sehr zu Herzen gehend. Ich mag es, wenn Geschichten einen so anrühren, dass es einem warm ums Herz wird.

Lieber Gruß

Märchentante
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
vielen dank,

liebe märchentante. ab wo beginnt der dir gefallende rest? hoffentlich nich nur die zwei letzten 2 absätze . . .
lg
 
Guten Morgen Flammarion,

Ich finde natürlich die Geschichte insgesamt sehr schön, lach.
Besonders lieb wird es aber meiner Meinung nach, als der kleine Geiger auf das Mädelchen trifft, und die beiden später zur Lichtung mit dem Kirchlein kommen. Von da an wird es so richtig schön warm und herzelig.

Liebe Grüße sendet Dir

Märchentante
 

annaps

Mitglied
Hallo Märchenonkel,
das war eine sehr, sehr schöne Geschichte. Und mir ist egal, was der Duden denkt. Die Geschichte ging direkt zu oder heisst es - zum - Herzen? Ganz einfach: Ans Herz!
Lg, Anna
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo

annaps, recht vielen dank fürs lesen und kommentieren.
es heißt zu Herzen gehend.
und ick bin ne tante.
ganz lieb grüßt
 

Doska

Mitglied
Ein
wunderbares Märchen und sehr passend, da wir ja jetzt bald wieder auf Weihnachten zusteuern.Spannend und sehr gefühlvoll geschrieben. Ich fühlte mich ganz in meine Kinderzeit zurück versetzt, wo uns die Oma immer etwas aus einem uralten Märchenbuch vorgelesen hat. *Aaaach ....kuschel*
 



 
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