Lieber Gerd,
bleibe besser bei Deinem Sprach- und Musikgefühl und ignoriere die Bücher.
Die rhythmisch besten Dichter, die ich kenne, haben alle derlei Dinge noch nie gelesen.
Man kann ja wissen, was ein Alexandriner, etc. ist, aber wenn man ein Gedicht in diesem Versmaß schreibt, muß´man es nicht beim Namen kennen.
Bei Deinem hiesigen Gedicht kann man z.B. auch
>>kan
tapperkan
tapperkan
tapperkan
tap(per)<<
denken.
Wozu Fachbegriffe?
Die Dichtkunst fängt wohl erst da an, wo ein Text so leicht vor sich hinfließt, dass seine Struktur in den Hintergrund getreten ist.
Schöner Satz!
Damit ist z.B. die "Bürgschaft" keine wirkliche Dichtkunst (und zwar nicht des variierenden Rhythmus' wegen), da dort das Reimschema - in jeder Strophe gleich, wirkt konstruiert - im Vordergrund steht und der ganze Text wie in diese Form gepreßt wirkt.
Beim Erlkönig hingegen wird das rhythmische Grundschema ständig variiert bzw. es gibt alternierende Pausen. Und alle diese dienen der Dramaturgie und kommen nicht etwa daher, daß dem Schreiber keine Füllwörter eingefallen wären.
Mein Sohn (*), was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst, Vater (*), du (*) den Erlkönig nicht?
Den Erlen(*)könig mit Kron (*) und Schweif? -
Mein Sohn (*), es ist (*) ein Nebel(*)streif.
Ein Theoretiker unter den Rhythmikern würde da wohl den Johann Wolfgang korrigieren wollen:
Mein Söhn[blue]chen[/blue], was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst, Vater[blue]lein[/blue], du [blue]denn [/blue]den Erlkönig nicht?
Den Erlkönig[blue], jenen[/blue] mit Kron und [blue]mit[/blue] Schweif? -
Mein [strike]Sohn[/strike] [blue]Junge[/blue], es ist [blue]wohl dem[/blue] [strike]ein[/strike] Nebel [blue]sein[/blue] Streif.
Und das wäre wohl nicht unbedingt von Vorteil ...
Mir fällt noch ein anderer Altmeister ein (um mir selber zu widersprechen):
In den Appalachen wachen
nachts die Irokesen.
Sehn sie nichts und hörn sie nichts,
dann ist auch nichts gewesen.
Und wenn nichts war, dann freun sie sich
und fangen an zu lachen
darüber, dass kein Bösewicht
sie zwang, ihn tot zu machen.
Doch wenn die Appalachen-Wachen
nach der Nachtschicht weinen,
dann steht so manches Bleichgesicht
nicht mehr auf seinen Beinen.
Der Weiße Mann ist anders drauf:
Nach kurzem Federlesen
belacht er jedes Mal aufs Neu
den toten Irokesen.
Der Dichter wählt erst einmal Kreuzreim und alternierend vier/drei Betonungen.
Aber dem Gedichtbastler mit Fachbuch in der Hand würde niemals einleuchten, warum denn manche Zeilen betont und manche unbetont anfangen.
Der Leser hingegen, der sich auf sein Gefühl verläßt, wird dem gegenüber bemerken, daß jede Betonung und Nichtbetonung absolut stimmig ist und die Dramaturgie unterstreicht.
Meine Einwendungen machen also nur Sinn, wenn Du meine - rein gefühlten - Probleme mit dem Rhythmus nachempfinden kannst.
Vielleicht ist es so, daß ich bei kantappernden Gedichten, zumindest beim hier besprochenen, rein gefühlsmäßig ein Freund der gleichmäßigen Zeilen bin.
Wenn das Kantappern denn nicht ganz in den Hintergrund geht - wie beim Erlkönig (der ja auch immer in Jungens (männlichen, also betonten) Reimen endet).
In dem Fall müssen aber die Pausen wirklich rthythmisch zur Dramaturgie passen (und nicht zur Prosasprache).
Genug gesülzt ...
Mach, was dein Gefühl Dir sagt ...