Der kleine Patient

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Wir warten alle auf unsere Tests, Infusionen oder Röntgenaufnahmen. Neben mir sitzt eine dreiköpfige Kleinfamilie. Der Junge dürfte fünf Jahre alt sein. Die beiden, die er seine Eltern nennt, reden nur Polnisch miteinander. Mit dem Kind spricht die Mutter Deutsch mit leichtem Akzent. Das Deutsch des Kleinen ist akzentfrei. Er spricht spontan und flüssig. Sein Vater redet nur selten mit ihm und wenn, dann auch in Deutsch. Wenn er ihn ansieht, drückt seine Miene verhaltene Freude aus.

Der Kleine ist recht hübsch und das, was man aufgeweckt nennt. Er ist lebhaft, ohne zu nerven. Die Mutter geht immer wieder auf ihn ein. Sie drückt ihn manchmal an ihre Brust und streichelt ihn. Aufkommende Unarten verweisen ihm beide Eltern sofort mit Nachdruck, doch ohne Strenge im Ton. Er gehorcht immer.

Einmal läuft er einige Meter weiter. Eine Patientin kommt gerade aus einem Behandlungszimmer und nimmt nichtsahnend seinen Platz ein. Er läuft zu ihr und protestiert lebhaft. Die Dame sucht sich lächelnd einen anderen Stuhl. Die Eltern machen dem Kleinen klar, dass das Bedürfnis der Dame Vorrang gehabt hätte. Sie erörtern den Fall noch eine Weile zu dritt. Es scheint, dass der Sohn vor allem zweierlei fürchtet: Die Familie könnte auseinandergerissen werden oder Vater oder Mutter müssten stehen.

Die Tür zu einem Behandlungszimmer steht offen. Der Kleine stellt sich in sie und fragt den Mann drinnen nach Krankheit und Behandlung aus. Der Mann soll zwei Spritzen in die Unterarme bekommen. Da zeigt der Junge die Pflasterverbände oberhalb der eigenen Handgelenke vor. Er gibt dem Älteren treuherzig Ratschläge, spricht ihm Mut zu. Alle rundum lächeln.

Eine Mutter kommt mit einem etwa vierjährigen Sohn, der still und teilnahmslos neben ihr verharrt. Der Polenjunge schaut immer wieder zu dem anderen hinüber. Der verhält sich ja wie ein großes Wickelkind – was ist mit ihm los?

Jetzt kommen zwei Bonbons zum Einsatz. Die Polin nimmt sie aus ihrer Handtasche, händigt sie ihrem Jungen aus und er findet die Idee gut, einen davon gleich dem Kleinen da drüben zu bringen. Er tut es und kehrt sofort zurück. Nun wickeln beide ihren Bonbon aus dem Papier und fangen an zu lutschen.

War das nun eine typisch polnische Erziehung? Jedenfalls finde ich, Szenen wie diese erlebe ich sonst viel zu selten.
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 22239

Gast
Hallo Arno A.,

das liest sich wie ein Augenzeugenbericht, daher sehr fein beobachtet!

Dennoch haut mich das nicht vom Hocker, wenn dort steht

Die Mutter geht fortlaufend auf ihn ein
Das Fortlaufend finde ich zu kalt, zu steril.

Nun wickeln beide ihren Bonbon aus dem Papier und fangen an zu lutschen.
Dort würde meiner Meinung nach eine andere Süßigkeiten besser wirken, denn das Motiv der verpackten Bonbons ist doch recht "ausgelutscht"

War das nun eine typisch polnische Erziehung? Jedenfalls finde ich, Szenen wie diese erlebe ich sonst viel zu selten.
Nein, das ist nur der Empathie der Mutter geschuldet (mein Empfinden)

Jetzt kommen zwei Bonbons zum Einsatz. Die Polin nimmt sie aus ihrer Handtasche, händigt sie ihrem Jungen aus und er findet die Idee gut, einen davon gleich dem Sorgenkind da drüben zu bringen
Wieso soll er sofort ein Sorgenkind sein, dass es ätzend für Kinder beim Arzt ist, das kann man nachvollziehen.

Grüße
J
 
Danke, Wolfgang, für die bedenkenswerten Einwände. Ich antworte der Reihe nach:

1. Ja, "fortlaufend" könnte durch Besseres ersetzt werden. Ich ändere in "immer wieder".

2. Es war tatsächlich ein Augenzeugenbericht und es gab wirklich nur gewöhnliche Bonbons. Mit Süßigkeiten kenne ich mich nicht gut aus, es müsste, falls man eine Alternative sucht, auch wieder etwas sein, an dem man still und zufrieden nuckelt.

3. Polnische Erziehung - ich habe auch nur die Frage in den Raum gestellt. Ich denke schon, dass es in unterschiedlichen Ländern gewisse Unterschiede im Erziehungsstil geben kann. Als flüchtiger Beobachter kann man das natürlich konkret nicht beurteilen. In diesem Fall war mir jedoch das sehr Konsequente, fast Lehrbuchartige aufgefallen.

4. Sorgenkind ist tatsächlich zu dick aufgetragen. Da mir so rasch nichts Besseres einfällt, ändere ich nur in "dem Kleinen".

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
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