Der kleine Unterschied

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Gerd Geiser

Mitglied
Wenn der Kannibale schmachtet,
hurtig er ein Menschlein schlachtet.

Ist gemacht das Menschlein tot,
legt er es aufs Butterbrot.

Niemals haut der Kannibale
dir zum Spaß eins auf die Schale.

Töten nur des Tötens wegen,
nein, da ist er strikt dagegen.

So gesehen führt der Wilde
nichts Verwerfliches im Schilde.

Kehr´n wir vor dem eignen Haus,
sieht die Sache anders aus.

Wenn wir Menschen uns bekriegen,
bleiben viele Leichen liegen.
 

Udogi-Sela

Mitglied
Der große Überschied

Schade, dass zu diesem Werk noch niemand einen Kommentar abgegeben hat, es sei denn die vier Bewertungen nähme man als solche.

Nun denn, da will ich mich doch mal wieder in altbewährter Manier melden und meinen nicht ganz so ernst gemeinten Senf beigeben, weiß ich doch, dass Gerd Geiser mir das nicht übel nimmt.(Und ich nicht „Lachmalwieder“ auf den Plan rufe)

Ich beginne mit dem Beginn:

„Wenn der Kannibale schmachtet,“

“Schmachten“ kann man auch als nach etwas gieren oder lechzen bezeichnen, doch schon das Wort „Kannibale“ impliziert, dass es sich um etwas essbares handelt, nach dem er lechzt. Und was essen Kannibalen? Na klar! Menschlein!

„hurtig er ein Menschlein schlachtet.“

Keine Menschen, sondern Menschlein. Kleine Menschen, denn:

“Ist gemacht der Mensch dann tot,
legt er ihn aufs Butterbrot.“

Aufs Butterbrot passen ja nur kleine Menschen, Menschlein eben.
Aber hier heißt es „Mensch“; besser wäre also:

“Ist gemacht das Menschlein tot,
legt er es aufs Butterbrot.“

Jetzt wird es ungemütlich, denn:

„Niemals haut der Kannibale
dir zum Spaß eins auf die Schale.“

Jetzt wird der Leser/die Leserin direkt angesprochen. Als ob es jeden Moment krachen und ein Kannibale MIR auf meinen Schädel hauen könnte.
Aber ich denke, Gerd Geiser meint damit, dass wir als Menschen, als Menschheit, als Menschleinheit, allgemein angesprochen sind.
(Gott sei Dank bin ich kein kleines Menschlein, die Chance auf einen Kannibalenangriff ist bei mir also etwas geringer)

„Töten nur des Tötens wegen,
nein, da ist er strikt dagegen.“

Klare Sache, klare Sprache, klare Aussage.

„So gesehen führt der Wilde
nichts Verwerfliches im Schilde.“

„So gesehen“ Solange man selbst nicht in des Kannibalen Kochtopf landet, ist die Befriedigung des Kannibalenhungers sicher nicht verwerflich. Fressen und gefressen werden, ist das höchste Glück auf Erden“, oder wie heißt das Sprichwort noch mal genau?

Nebengedanke: „der Wilde“ Wer ist das? Der Kannibale oder wir?

„Kehr´n wir vor dem eignen Haus,
sieht die Sache anders aus.“

eig´nen apostrophiert man nicht, da heißt es „eignen“.

Vor dem eignen Hause kehren, heißt ja, sich um seine eignen Angelegenheiten zu kümmern, also könnte man fragen, wie verzehren WIR denn unsere Artgenossen? Man könnte auch schreiben:
„Zehr´n wir vor dem eignen Haus,
sieht die Sache anders aus.“
Ich weiß, so ist das nicht gemeint, denn:

„Wenn wir Menschen uns bekriegen,
bleiben viele Leichen liegen.“

Mit dem Lesen dieser Zeilen beschlichen mich dann doch ein paar Ungereimtheiten:
„Wenn wir Menschen uns bekriegen,“ heißt doch, dass die vorher genannten Kannibalen keine Menschen sind, da sie sozusagen als von uns separate Spezies bezeichnet wird.
Wir bekriegen uns, führen Kriege. Der Kannibale nicht?
Ich denke, dass auch Kannibalen Kriege führen, ich frage mich nur, ob sie dann das daraus folgende Fleischüberangebot einpökeln, räuchern oder in Salz einlegen.
Das tun wir, die „zivilisierten“ Menschen ja nicht. Wir lassen das kostbare Fleisch einfach liegen...
Wir sollten uns schämen.

Jetzt hat Gerd Geiser mich doch noch aufs Glatteis geführt!

Er meinte doch sicher, dass wir „Zivilisierten“ andere „Zivilisierte“ töten, um des Tötens willen und nicht aus puren Selbsterhaltungstrieb. Nicht der Hunger treibt uns wie die Kannibalen, sondern...
...ja, was eigentlich?

Der Kannibale, obwohl er mich gern fressen würde, steht jedenfalls besser da als wir.

Alles in Allem würde ich sagen: Hier wurde ein schwerwiegendes Thema mit existentiellen Fragen (Hungersnöte, Kriege, also menschliche Grundbedürfnisse und zwischenmenschliche Beziehungen) im Klang dem Thema entgegenstehenden Zeilen angefasst.

Über weitere Wortmeldungen, dem Thema mehr würdevollen Ernst entgegenbringend, bin ich gespannt.

Herzlichst
Udo
 

Gerd Geiser

Mitglied
Tja, Udo, wie´s aussieht, sind wir zwei wohl alleine unter die Kannibalen gefallen. Die anderen begnügen sich scheinz mit Nägel kauen.
Woran mag´s liegen? Grimms Hänsel und Gretel noch nicht verdaut? Uns an Max und Moritz verschluckt? Zu oft den Leib des Herrn abendmahlig genossen? Zu viel Tanz der Vampire geguckt?
Tiefenpsychologisch gesehen werden in den Geschichten, die von Menschenfressern handeln, Probleme, Ängste und Traumata der beginnenden Geschlechtsreife und Mutter/Kind- Ablösung, Sexualität und Trieb verarbeitet und umgesetzt.

Danke, dass ich da nicht alleine durch muss, Udo.
Hab dich zum Fressen gern.

Herzlichst
GG
 

Inu

Mitglied
Was das Gedicht so schöön macht: In fast jeder Zeile ein kleines Highlight:


Wenn der Kannibale [blue]schmachtet,
[/blue]hurtig er ein [blue]Menschlein schlachtet[/blue].

Ist[blue] gemacht das Menschlein tot[/blue],
[blue]legt er es aufs Butterbrot.[/blue]

Niemals [Blue]haut [/blue] der Kannibale
dir [blue]zum Spaß [/blue]eins auf die Schale.

Töten nur des Tötens wegen,
nein, da ist er strikt dagegen.

So gesehen führt der [blue]Wilde[/blue]
[blue]nichts Verwerfliches[/blue] im Schilde.

Kehr´n wir vor dem eignen Haus,
sieht die Sache anders aus.

Wenn wir Menschen uns bekriegen,
[blue]bleiben viele Leichen liegen.[/blue]
*

Erst kommt das (Fr)essen, dann kommt die Moral.
Ein Butterbrot - ein Wurstbrot, ein Menschenbrot

wir essen statt dessen
Tiere.



Mir gefällt das Gedicht und reimen tut sichs auch :)

Gruß
Inu
 
N

nachtlichter

Gast
Reihenfolge

Hallo Gerd Geiser,

Erich Fried schrieb zur Kannibalenthematik in seinem Werk "Als ich mich nach dir verzehrte" folgendes:

"
...

2.
Wenn ich mich
nach dir
verzehre
heißt das
ich habe zuerst
als Hauptgericht
dich verzehrt
und mich dann
als Nachtisch
oder warst du
die Suppe
und ich
bin das Fleisch?"

Ladies first. Schmecken Damen besser?
Ich glaube nicht, dass im o. g. Fall Krieg geführt wurde. Sie haben sich voller Sehnsucht nacheinander verzehrt und hinterher war keiner mehr übrig, auch die Sehnsucht nicht. Kannibalismus - ein adäquates Mittel gegen Liebeskummer?

Hungrige Grüße

nachtlichter
 

Ecki

Mitglied
Gedichte, wie ich sie liebe, humorvoll und aussagekräftig,
Der gesellschaftliche Bezug geht nicht verloren. Keine Ge-
fühlsduselei, so einfach schön...tiefsinnig .
Bravo, aber Kanibalen, leben die heute wirklich noch?
Die Frage ist eigentlich nur sekundär, wichtiger, dein Ver-
gleich zum sinnlosen bekriegen, der ist nach meiner Ansicht wie auch anderer gut gelungen. Ich glaube, du hast das nötige Sprachgefühl.
Ich wünsche dir viele, immer neue Ideen.
Gruß: Ecki
 

huwawa

Mitglied
Hallo Gerd Geiser

Sehr gut geschriebenes Gedicht. Der Anfang erinnerte mich ein bisschen an Ringelnatz´ "Silvester bei den Kannibalen", der Schluß ist für meinen Geschmack ein bisschen zu moralisierend.

Dass "wir Menschen" uns bekriegen und viele Leichen liegenbleiben ist bekannt und war schon immer so. Im Fernsehen habe ich aber einmal einen Dokumentarfilm über die angeblich letzten Kannibalen in Neuguinea gesehen. Ohne länger darauf einzugehen: In einer Stammesfehde wurden nach tagelangem Tam-Tam und Drohgebärden auf beiden Seiten ein etwa 8-jähriger Junge, der sich unvorsichtigerweise beim Trinken am Fluss überraschen ließ, gefangen, geschlachtet und in einer Art Versöhnungsfeier gegessen. Unfassbar grausam für uns "Zivilisierte", ein Kind zu opfern, aber die Kannibalen hatten damit größeres Blutvergießen vermieden. Die Wertvorstellungen sind eben verschieden...

lG
huwawa
 

Gerd Geiser

Mitglied
Ihr Lieben,

natürlch ist das Phänomen Kannibalismus in dem Gedicht zu kurz gegriffen. Es gibt ihn ja nicht, den Kannibalismus schlechthin. Neben Hunger kamen (kommen?) Macht- und Geldgier, rituelle Zwecke, sogar Liebe als Hintergrund für kannibalistische Handlungen in Betracht. Vielleicht ist das Phänomen ja deshalb so faszinierend, weil es die Gesamtheit unserer normalen Lebens-Triebe in einem schrecklichen Finale bündelt.

Danke für die Anregungen
GG
 
N

no-name

Gast
Einfach klasse Gerd,

ein schwarzhumoriges Gedicht mit Esprit, Botschaft und dem "erhobenen Zeigefinger" - wirklich gut gelungen!

Grüße von no-name.
 



 
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