Der kleine Vagabund

Der kleine Vagabund


Da stand er nun, der kleine Hosenmatz, müde, hungrig - und noch ganze zwei Pfennige in der Tasche. Dabei hatte alles so gut angefangen.
Michaels Sparschwein rückte, ermuntert durch zwei Hammerschläge auf den Hinterkopf, freiwillig das Geld des letzten Jahres heraus. Die Münzen, die da zusammen mit den blau-weißen Scherben auf den Boden kullerten, ordnete er zu kleinen Türmchen, jedes im Wert von fünf Mark. Sechs Türmchen zählte der Junge, rechnete die Kupfermünzen hinzu und kam auf die stolze Summe von 30 Mark und 52 Pfennigen.
Der kleine Schatz wanderte in die Hosentasche, wo sich die Münzen einen Weg zwischen all den Sachen suchten, die der neunjährige Lausbub in den letzten Tagen aufgelesen hatte. Der klebrige Kaugummi schmiegte sich an ein silberglänzendes Markstück. Die ölverschmierte Schraube rückte dabei bereitwillig zur Seite. Der Frosch, auf den gleich dutzendweise die Münzen prasselten, blieb stumm, er war schon seit Wochen tot. Nur die Weinbergschnecke tanzte aus der Reihe. Sie zog sich, erbost über den unsanften Rempler eines grünspanüberzogenen Groschens, beleidigt in ihr Häuschen zurück.
Derweil suchte Michael nach Proviant, den er mit auf die große Reise nehmen wollte. Er holte das Messer aus der Schublade und säbelte Brot ab, neun Scheiben, die so dick waren, dass ein Krokodil aus Angst vor der Maulsperre geflohen wäre. Zeit hatte der Junge genug, denn die Eltern würden nicht vor sechs Uhr abends zu Hause sein. Michael schüttelte traurig den Kopf. Dass Papi bei Müller und Hartmann Überstunden machen musste, konnte er noch verstehen, aber warum arbeitete Mami den ganzen Tag über im Haushalt von Dr. Winkler? Nur damit Frau Winkler Zeit blieb für den Schönheitssalon, für das Tennisspiel, für Reitstunden und sonstigen Unsinn?
Und wer hatte Zeit für ihn? !
Entschlossen packte Michael sein Bündel zusammen, überlegte, ob der geliebte Fußball noch mit sollte, ließ ihn dann doch zu Hause. Er kämpfte sich in die Trainingsjacke, zog die Turnschuhe an und eilte zum Bahnhof.
„Einmal Alpenhausen bitte", sagte er zu dem Mann am Schalter und kramte das Geld aus der Tasche. Alpenhausen kannte er nicht, wusste aber von dem Werbeplakat aus der Wartehalle, dass die Fahrt 30 Mark und 50 Pfennige kostete. Lieber würde er ja bis Innsbruck fahren, oder gar bis Mailand, dann wäre er noch weiter weg gewesen, noch weiter weg von der Schelte seiner Eltern. Aber das Sparschweinchen hatte entschieden: 'Alpenhausen! Mehr holst du selbst mit dem Schmiedehammer bei mir nicht heraus.'

Alpenhausen ist schön, doch das interessierte den Jungen nicht. Er war auf der langen Fahrt eingeschlafen und hatte beim Aussteigen sein Bündel vergessen. Und als der Zug mit dem Gepäck aus dem Bahnhof rollte, tauchte hinter den Bergen die Sonne unter. Es wurde dunkel in der fremden Stadt.

Was nun, kleiner Mann? Kein Abendbrot, kein Bett zum schlafen, keine Eltern hier - und noch ganze zwei Pfennige in der ausgebeulten Hosentasche.
Doch Schutzengel sind immer zur Stelle, wenn man sie braucht, verkleiden sich manchmal sogar als Polizisten. Michas Schutzengel hieß Franzelhuber, Alois Franzelhuber, Oberwachmeister auf Fußstreife. Der Mann sah den kleinen Jungen, der verzweifelt an einer Straßenecke stand und sich keinen Rat mehr wusste. Und da Franzelhuber einen Sohn im gleichen Alter hatte, entschied er kurzerhand, dass die Amtsstube nicht der rechte Schlafplatz für den Ausreißer sei. Seine Frau machte zwar große Augen, als er die ‚Fundsache‘ heimbrachte, hatte aber bald das Vertrauen des Jungen gewonnen und von ihm die Adresse der Eltern erfahren. Während ihr Mann telefonierte, zauberte sie ein spätes Abendessen auf den Tisch und machte im Gästezimmer das Bett bereit.

War es die späte Vormittagssonne, die ihn weckte oder waren es die Eltern. Michael wusste es nicht mehr. Egal! Wichtig war nur, dass die beiden hier waren, und dass keiner von ihnen schimpfte.
"Papi...das Zeugnis, nicht...nicht versetzt“ stammelte der Junge und kämpfte mit den Tränen. Er sah die Enttäuschung in Papis Gesicht, sah dann, wie Liebe und Verständnis den Zorn wieder besiegten.
"Sohnemann, mit Versetzung war also nichts in diesem Schuljahr. Schade! Aber auf die nächste Meisterschaft bereiten wir uns besser vor. Mami arbeitet nach den Ferien nur noch vormittags. So bleibt auch Zeit genug für dich.“
Papi wuselte über Michaels blonden Lockenkopf und fuhr tröstend fort: „Wirst sehen, kleiner, großer Fußballspieler, im nächsten Jahr schaffen wir den Aufstieg in die höhere Klasse mit vielen Punkten Vorsprung."
Und Micha weinte. Doch es waren Tränen der Erleichterung und der Freude.
 
L

leonie

Gast
hallo willi

woww, war eine tolle geschichte. ich konnte mir diesen, kleinen , doch recht verzweifelten hosenmatz richtig vorstellen. mir hat die geschichte, vor allem aber das gute Ende gefallen, denn zu oft geht es anders aus. hättest du gleich in die LL posten sollen.
ganz liebe grüße leonie
 
Hallo leonie

ich freue mich über dein Lob. Dies war nun die Geschichte, die ich dir angekündigt hatte. War übrigens damals mein erster etwas längerer Text.
Es grüßt dich lieb
Willi
 
Hallo Julia

Dankeschön.
Ja ich denke, das Thema ist immer noch aktuell, oder besser: noch aktueller als noch vor Jahren, weil das Beschäftigen mit unseren Kindern fast schon Seltenheitswert hat.
Liebe Grüße schickt dir
Willi
 

La Luna

Mitglied
Vollkommen richtig, lieber Willi, aber auch das Schuljahr neigt sich wieder seinem Ende entgegen und somit steigt die Angst vor den "Giftblättern".


Gruß, Julia
 
Liebe Julia

du hast unbewusst der Grund erraten, warum ich gerade jetzt diese Kurzgeschichte in die Leselupe gestellt habe. Eben weil das Schuljahr bald zuende geht und somit die Angst vor den Giftblättern steigt.
Wenn das Leid des kleinen Vagabunden auch nur einen Leser bewegt, sein nicht versetztes Kind zu ermuntern statt zu bestrafen war keine Zeile umsonst geschrieben.
Es grüßt dich ganz lieb
Willi
 

La Luna

Mitglied
Sind so kleine Hände....

Hallo lieber Willi,

weißt du, die meisten Eltern haben vergessen, was es für ein Kind bedeutet, ein schlechtes Zeugnis zu haben.
Dieses Zeugnis ist für das Kind Strafe genug - trösten sollte man es....und aufmuntern.

Dir auch einen lieben Gruß
Julia
 

Marc Mx

Mitglied
Die Geschichte ist ja im Prinzip ganz nett geschreiben. Aber meiner Meinung nach ein bißchen zu "süß"!
Und das größte Manko ist der Spannungsbogen. Der Kunstgriff "Rückblick" ist hier nach meinem Gefühl nicht gelungen. Ich habe es jedenfalls völlig überlesen. Besser fände ich, wenn im ersten Satz mehr zu der augenblicklichen Situation rüber käme. Und eine Leerzeile dazwischen würde es dann ganz deutlich machen...
Viele Grüße
MarcPlanet.de
 
Hallo Marc

vielen Dank für deine Stellungnahme. Sie hebt sich wohltuend von manchen Antworten in der Leselupe ab, weil sie konkrete Verbesserungswünsche enthält.
Im Einzelnen:
Über ‚ein bisschen zu süß‘ kann man streiten. Die Geschichte ist ja bewusst im alten Stil geschrieben und wird von mir gezielt nur dort gelesen, wo die Hörer solche Sachen erwarten.
Mehr beschäftigt mich die Anmerkung zu ‚Rückblick‘. Ich überlege, welche Situation besser an den Anfang passen würde, auch, um dadurch den Spannungsbogen zu verbessern. Muss gestehen, mir fällt augenblicklich nichts ein. Vielleicht hast du eine Idee. Ich bin dankbar für jeden Tipp.
Liebe Grüße sendet dir
Willi
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
lieber willi,

ich finde diese sehr gut geschriebene geschichte zum heulen schön. sie bekommt einen ehrenplatz in meiner sammlung. ganz lieb grüßt
 
Liebe oldicke

dein Lob freut mich sehr. Mich plagten schon Zweifel, ob eine Geschichte heute noch ankommt, wenn sie nicht gespickt ist mit vulgären Ausdrücken und Begriffen aus der Fortpflanzungslehre. Musste nämlich schon dreimal erfahren, dass ein mit 10 Punkten bewerteter Text durch Klick auf die Eins kommentarlos herunter gestuft wurde. Vielleicht stecken ja auch ganz andere Motive dahinter.
Liebe Grüße
Willi
PS. Meine Box ist jetzt umgestellt, kannst also die Mailadresse schicken. willicorsten@comundo.de
 
Hallo, liebe Sanne

ich freue mich darüber, dass dir meine Geschichte gefallen hat.
Das Rätsel der neun Brote ist schnell gelöst. Sie waren doch in dem Bündel, das Michael im Zug vergessen hatte.
Und von den 30,52 DM blieben nur zwei Pfennige übrig, nachdem die Fahrkarte bezahlt war.
Ein schönes Wochenende wünscht
Willi
 
Deine

Schreibweise ist mir weiterhin sehr nahe, Willi. Mich würde interessieren ob du mal was von William Saroyan gelesen hast (Die menschliche Komödie/ Ich heiße Aram/ Ich hab dich lieb Mama). Der schreibt nämlich ein bißchen so wie wir, möchte ich mir anmaßen zu sagen... Also, weil mir gefällt wie du schreibst und wie er schreibt und auch wie ich schreibe (selbstverständlich irgendwie...)... vielleicht (100%tig!!!) magst du hn auch. Gibts nur im Antiquariat, übrigens. Und: Der kleine Vagabund ist wieder eine besonders tolle Geschichte. Grüße vom Grauhai.
 
Liebe Sanne,

natürlich darfst du jederzeit meine Geschichten ausdrucken. Ich weis doch, dass sie bei dir in guten Händen sind.
Dir und Diana (was für ein schöner Name) alles Gute
wünscht Willi
 
Hallo kleiner Grauhei,

das Kompliment gebe ich gerne zurück, auch deine Sachen gefallen mir sehr gut.
William Saroyan kenne ich nicht, werde mich aber nach seinen Texten mal umsehen.
Lieb grüßt dich
Willi
 

Auryn

Mitglied
Hallo Willi

Gut umgesetzt das Thema,
wird am Ende schön Gefühlsvoll.
Gefällt mir gut.

Wenn nur alle Eltern so
mit einem "Sitzenbleiben"
umgehen würden!!

Gruß Auryn


P.S.
Schau Dir mal "Vom Löten" an.
Mein Gedicht über den Klempner.
 
S

schwafelfasel

Gast
Lieber Willi, darf ich mal zitieren:

Ursprünglich veröffentlicht von Willi Corsten
Die Geschichte ist ja bewusst im alten Stil geschrieben und wird von mir gezielt nur dort gelesen, wo die Hörer solche Sachen erwarten.

-was also heißt, dass die Geschichte nicht in erster Linie für Kinder geschrieben wurde, denn Kinder erwarten gar keinen Stil, weder einen alt- noch einen neumodischen.
Aha. Aufschlussreich.

dann, was diese augenscheinliche Niedlichkeit der Hauptperson betrifft: ist ja wirklich süß und nett und alles, nur macht sie das leider als Identifikationsfigur ziemlich unbrauchbar. Man betrachtet sich einfach selber nicht als niedlich, auch als Kind nicht, auch nicht, wenn man nach allgemeiner Auffassung tatsächlich niedlich ist. Was anderes ist es, wenn man irgendwelche vermenschlichte Tierchen als Hauptpersonen nimmt, da darf das Kind selber entscheiden, inwieweit es sich damit identifizieren will, ob es die Niedlichkeit auch auf sich selber ausdehnen möchte, oder sie doch wie das wuschelige Fell und die tapsigen Pfötchen allein dem Tierchen zuschreibt. Wenn sich aber der kindliche Leser wirklich mit diesem Micha identifizieren sollte (und ich wüsste nicht mit wem sonst), dann würde ich ihm nicht auf Schritt und Tritt dieses Attribut „klein“ anhängen. Denn das ist genau das was Kinder am allerwenigstens sein wollen: klein. Ich persönlich wäre jedenfalls nicht gern „Kleine Frau“ genannt worden - okay, sagt eh keiner, aber ich mein, dasselbe gälte für „Kleiner Mann“, wäre ich männlich. (Und ehrlich gesagt: ich bin mir ziemlich sicher, ich hätte es sogar regelrecht gehasst, als Hosenmatz bezeichnet zu werden). Allerdings, es gibt Situationen, in denen auch Kinder sich gerne klein fühlen: - das Ende deiner Geschichte hätte eine solche sein können. Nachdem man mit der großen weiten Welt konfrontiert worden ist und erfahren hat, wie sehr man sich in dieser Größe verloren fühlen kann, dann weiß man das Kleine wieder zu schätzen. Nur genau das kommt eben in deiner Geschichte nicht wirklich zum Ausdruck. Micha erlebt ja eigentlich auf seinem Ausflug nichts Verstörendes – er steigt aus, merkt, dass er in der Patsche sitzt und bevor er sich lange darüber das Hirn zermartert, landet er auch schon wieder in der sicheren Obhut des braven Beamten. (überhaupt halte ich die Botschaft „es ist immer ein Schutzengel da, wenn man einen braucht“ für pädagogisch nicht ganz unbedenklich, sofern sie nicht mit Zusatz gekoppelt ist, dass man diesen Schutzengel trotz allem besser nicht überstrapazieren sollte). Ich finde, die Schilderung dieser Situation – vor dem Eintreffen des Schutzengels nämlich – ist zu kurz geraten, vor allem im Vergleich zur ausführlichen Beschreibung des Tascheninhalts zu Beginn.
Fazit: Mit einem Häschen als Helden – wunderbar, aber wenn du f ü r Kinder ü b e r Kinder schreibst, könntest du dich noch einen Hauch mehr bemühen auch a u s d e r S i c h t von Kindern zu schreiben.
Jetzt noch eine etwas herzlose Anmerkung zum Thema Zeugnisangst: Es gibt ja vor allem an Volksschulen den schönen Brauch alles und jedes von den Eltern unterschreiben zu lassen: Ansagen, Freischriften, Tests, Testtermine, ja sogar missglückte Hausübungen. Um seinen schulischen Misserfolg bis zum Zeugnistag vor seinen Eltern zu verbergen, hätte Micha also bereits beachtliche kriminelle Energie an den Tag legen müssen: Unterschriften fälschen, Eltern und Lehrer belügen usw. Und selbst in diesem Fall hätte seine Eltern, sofern sie auch nur hin und wieder einen Gedanken an ihn verschwenden, Wind davon bekommen müssen, denn als Vater bzw. Mutter eines volksschulpflichtigen Kindes weiß man einfach, dass in regelmäßigen Abständen Tests fällig sind, die unterschrieben werden müssen und fragt das Kind danach. Kurz: Eltern, die erst am Zeugnistag mitkriegen, dass ihr Kind das Lernziel für dieses Jahr nicht erreicht hat, müssen so dermaßen desinteressiert an ihrem Nachwuchs sein, dass ein derart liebevolles Ende wie deines einfach schwer denkbar ist. Entweder die interessieren sich für ihr Kind oder eben nicht, aber in diesem Fall hätte sie sein Verschwinden wahrscheinlich bis jetzt noch nicht bemerkt.
Überhaupt, das Ende: das ist wirklich hübsch, aber – auch auf die Gefahr hin jetzt penetrant feministisch zu klingen – ein Quentchen hübscher wäre es gewesen, wenn zur Abwechslung mal nicht die Mama sondern der Herr Papa zum Wohl des Kindes beruflich zurückgesteckt hätte. Hätte ja durchaus auch die Mama den besser bezahlten Job haben können, oder nicht? Klar, mir ist bewusst, dass das nun mal noch nicht der Realität entspricht (allerdings, Bezug zur Realität scheint mir ja ohnehin nicht das oberste Gebot gewesen zu sein), aber diese deine Geschichte wäre wirklich eine wundervolle Gelegenheit gewesen, die Leute schön langsam an den Gedanken zu gewöhnen. Vertan. Schade.

Nimm's dir bitte nicht zu Herzen. Deine Geschichte ist nämlich wirklich herzerwärmend, und du kannst auch nichts dafür, dass mein Herz halt manchmal so schwer zu erwärmen ist.

Hartherzig (leider),
Schwafelfasel
 
Hallo schwafelfasel,

Liebe LL-Freundin, (schwafelfasel mag ich nicht schreiben, klingt mir irgendwie unhöflich aus der Feder eines Mannes)
Danke für deine ausführlichen Anmerkungen. Bin immer froh, wenn begründetes Echo kommt, denn nur so kann ich hinzu lernen.
Die oben erwähnte Aussage von mir bezieht sich nur auf den Hörerkreis, der ‘altmodische‘ Sachen halt mag. Geschrieben ist die Geschichte aber auch für Kinder, kommt dort auch gut an. Allerdings sind diese Kinder schon etwas älter, sehen also eher mitleidig auf den kleinen Hosenmatz herab. Sie glauben auch nicht mehr an die immerwährende Präsenz des Schutzengels - ob das schade ist, sei dahin gestellt.
Viel geholfen hat mir dein Tipp, den Teil nach der Ankunft in Alpenhausen weiter auszuschmücken. Danke.
Deinen Wunsch nach gleichberechtigter Elternsorge teile ich. Wäre doch ein lohnendes Thema für eine andere Geschichte.
Es grüßt dich lieb
Willi
 



 
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