Der Klügere gibt nach

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Knapp eine Woche nach Schulbeginn wurde dem Zweitklässler, Paulchen W. erstmals das ganze Ausmaß seiner Entscheidung, die Schule zu besuchen, bewusst.
Im ersten Schuljahr war es ja noch erträglich gewesen. Da hatten sie ja auch nie mehr als zwei oder drei Schulstunden.
Aber jetzt, in der Zweiten- jeden Tag fünf Stunden und dazwischen nur eine große Pause von 30 Minuten, in den man sich wirklich als Mensch fühlen und entfalten konnte.
Die anderen Pausen von kaum 15 Minuten konnte man vergessen. Bis sich zwei Mannschaften zusammen gefunden und ausgeknobelt hatten, wer für die "roten" und wer für die 2Weißen" kämpfen wollte(oder musste) war die mickrige Pause fast zu Ende.
Im Unterricht musste man entweder stillsitzen und zuhören, oder lesen, schreiben und blöde Fragen beantworten. Die Lehrerin gab einfach keine Ruhe, sie saß Paulchen W. ständig auf der Pelle, ganz so als gäbe es keine anderen Schüler in der Klasse.
So ein Dasein, noch 9 Jahre lang, Tag für Tag, sechsmal in der Woche zu fristen, wollte Paulchen W. seinem Körper nicht antun.
Anfangs hatte er versucht seine Pausen eigenständig zu verlängern, indem er nach dem Läuten noch eine Weile auf dem Klo verbracht hatte, aber das hatte die Lehrerin spitz gekriegt und ihm streng untersagt seine Pinkelpausen nach Lust und Laune einzurichten. "Disziplin, und nochmal Disziplin, das ist mein Motto. Merk dir das!"- hatte sie gesagt. Paulchen W. hatte im Prinzip auch nichts gegen Disziplin einzuwenden, in manchen Fällen z.B. rechtzeitig zu den Mahlzeiten zu erscheinen, war Disziplin sogar von Vorteil. Aber Disziplin in der Schule von einem Achtjährigen zu verlangen war barbarisch.
Am Montag der zweiten Schulwoche hatte Paulchen W. blaugemacht. Er hatte so wehleidig aus der Wäsche geschaut und herzzerreißend gestöhnt, dass seine Mutter ihm das Krank sein geglaubt hatte.
Am nächsten Morgen wurde sein Schauspiel durchschaut, er flog mit Karacho aus dem Bett und musste zur Schule gehen.
Paulchen W. dachte nicht einmal daran zum Unterricht zu erscheine. Er versteckte sich auf dem Schulgelände und nachdem die erste Stunde begonnen hatte, spazierte er seelenruhig im Dorfherum.
Pech nur, dass es in der Nähe des Ladens mit dem "jungen" Herrn August zusammengestoßen war. Was diese Gattung Mensch, die nicht zur Arbeit oder Schule gehen muss, so früh unterwegs tat, war für Paulchen W. unbegreiflich.
Paulchen W. stellte fest, dass Erwachsene im Oberstübchen nicht ganz koscher waren. Wer zum Kuckuck konnte einem steinalten Mann den Beinamen "junger" Herr August geben oder welcher Unmensch konnte Kinder, die kaum aus dem Windelalter waren, in die Schule stecken?
Während Paulchen W. so über die Spezies "Erwachsene" nachdachte, sprach der alte Mann ihn an und wollte wissen, warum er nicht in der Schule sei. "Die erste Stunde ist ausgefallen"- gab Paulchen W. zur Antwort und eilte von dem neugierigen Greis davon.
Als Paulchen W. sich irgendwann umdrehte, sah er, dass der alte "junge" Herr August schnurstracks zu seinem Elternhaus marschierte. "Petze, alte Petze"- schimpfte Paulchen W. und ging schweren Schrittes in seine Klasse.
Nach dem Unterricht, am Mittagstisch, gab Paulchen W. seinen Entschluss, die Schule abzubrechen bekannt. Er zählte mehrere Gründe auf, um seinen Beschluss zu untermauern. "Wer A gesagt hat, muss auch B sagen"- unterbrach seine Mutter die Diskussion.
Mittwochs, am Großewäschetag, versuchte Paulchen W. seinen Plan, komme was wolle, durchzusetzen.
Er ging, wie jeden Morgen aus dem Haus und versteckte sich hinter dem Strommast. Da Mama mit der Wäsche beschäftigt war und seine Tätigkeit nicht überprüfen konnte, wollte Paulchen W. sich später, wenn der Unterricht begonnen hatte, sich unbemerkt in den Stall schleichen und da ruhig sitzen und spielen bis die Schule zu Ende war.
Seine Eltern würden es schon bald merken, dass es ihm mit dem Schulabbruch ernst sei. Wie nach dem Gesetz der Ungerechtigkeit schaute Mama doch etwas früher , als Paulchen W. gerechnet hatte aus dem Fenster.
Sie Nahm ihren Wäschestock, mit dem sie die heiße Wäsche aus der Trommel fischte, um diese dann per Hand auszuwringen, und ging zu ihrem Sohn.
Paulchen W. lief ein paar Schritte Richtung Schule, blieb dann stehen und beobachtete mit einem breiten Grinsen im Gesicht seine, sich in Bewegung setzende, Mutter.
Mutter würde ihn nie im Leben packen können, denn sie konnte fast nicht laufen, jedenfalls hatte er seine Mutter noch nie laufen gesehen.
Erwachsene verlieren mit der Zeit so allerlei Fähigkeiten-stellte Paulchen W. mit Genugtuung fest- ohne neue dazuzugewinnen.
Das erklärte teilweise ihre Einfältigkeit.
Sobald seine Mutter etwas näher an ihn ran kam, lief er wieder davon.
Bald fand er es so lustig mit seiner Mutter Fangen zu spielen, dass er beschloss die Sache noch ein wenig spannender zu machen und mit Mutter um den Strommast zu düsen.
Paulchen W. lief und lachte, lachte und lief bis es plötzlich hinter ihm tüchtig polterte und er gepackt und in die Luft gehoben wurde. In dieser unbequemen Lage wurde er dann von seiner, laut schnaufenden, Mutter zur Schule befördert.
Die Lehrerin war leicht irritiert, als eine zornige Frau mit ihrem, in luftiger Höhe schwebenden Sohn, die Klasse betrat.
"Hier ist er"- sagte die Frau, stellte Paulchen W. vor der Tafel ab und ging zurück an ihre Wäsche.
"Der klügere gibt nach"- gab Paulchen W. leise von sich und nahm auf der Schulbank für weitere neun Jahre Platz.
 

Hans Dotterich

Mitglied
Eine wunderbare Parabel darüber, wie wenig Klugheit schon genügt, um für sich selbst das Nachgeben begründen zu können. Einfach schön!

Hans
 
Vielen Dank für Ihre gute Bewertung ,es ist für einen Anfänger wichtig nicht sofort abgestraft zu werden. Leider vergessen es viele im laufe der Zeit.
 
Zuletzt bearbeitet:

Sandra Z.

Mitglied
Ich mag deinen unterschwelligen Humor, Anna ;) Leider stören mich die vielen Fehler bei der Zeichensetzung und Rechtschreibung ein bissl beim Lesen. Ich weiß, es klingt pedantisch, aber das sind für mich so kleine Stolpersteine, die ständig den Lesefluss unterbrechen.
 

Hagen

Mitglied
Hallo Anna,
... schließe mich Sandra und Hans an und möchte kurz erwähnen, dass es mir ähnlich erging. Ich bin damals anstandshalber die ersten drei Tage ordentlich zur Schule gegangen um mir den Laden mal anzusehen. Dann fand ich es Blöd und kam zu der Überzeugung dass ich da nichts lernen könnte; - immer nur alberne Lieder singen (Juchhei Blümelein ...) und auch noch Blümchen malen! Ich konnte schon Autos und Flugzeuge zeichnen!

Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleibt schön fröhlich, guter Dinge, gesund und munter, weiterhin positiv motiviert, negativ getestet und stets heiteren Gemütes!
Herzlichst
Yours Hagen
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Bedenke: Wenn du das Licht am Ende des Tunnels erkennst und diesem zustrebst, wirst du, nachdem eine Rückkehr unmöglich ist, erkennen, dass es sich um das Licht eines sich schnell nährenden D-Zugs handelt!
Merke: In Eisenbahntunnels sind keine Notfallbuchten vorgesehen!
 



 
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