Der König von Jerusalem

Ruedipferd

Mitglied
Manuel Magiera



Der König von Jerusalem


As-Salih ließ seinem schneeweißen Araberhengst Adil die Zügel. Es war sehr heiß heute und der achtjährige Junge wäre gerne zu Hause im kühlen Palast in Kairo geblieben. Doch sein Vater hatte darauf bestanden, dass Salih und seine zehnjährige Schwester Ghazia ihn auf der Reise von Kairo nach Jerusalem begleiteten. So ritt der kleine Kronprinz und älteste Sohn Sultan al-Kamils von Kairo müde und lustlos neben seinem Vater her. Eine bunte Reiterschar folgte Ihnen. Salih musste sich immer wieder nach den wilden Sarazenen, die im großen Heer seines Vaters kämpften, umschauen. Über zweitausend Mauren beschützten den Herrscher und seine beiden Kinder. Außerdem zogen im Tross noch etliche Bedienstete, Handwerker und Pferdeknechte mit. Auch die höchsten Berater des Sultans gehörten zum Gefolge.

Der Vetter al-Kamils hieß an-Nasir und war ein listiger Mann. Salih mochte den Onkel nicht. Sein kalter Blick ließ den kleinen Jungen stets erschauern.
Für Salih war Nasir böse und er erzählte sich mit seiner Schwester Ghazia Gruselgeschichten über den Großwesir.
Ghazia ritt hinter ihrem Vater und Salih. Dieser drehte sich abermals im Sattel um und lächelte seiner Schwester zu. Mit einem Kopfnicken schmunzelte das Mädchen zurück. Ihre Augen zeigten auf Nasir, der in wildem Galopp von seinem Aufklärungsritt dem Sultan entgegen eilte. Ihr Mund formte das Wort: Zauberer. Salih verzog die Lippen. Ja, der böse Onkel war in den Augen der Kinder ein Magier der dunklen Mächte, der zusammen mit seinen Hexen den Menschen Unheil brachte, indem er sie in Tiere verwandelte. Salih nahm schnell Adils Zügel auf, denn der schwarzbärtige Nasir war bereits bei seinem Herrn angekommen und warf dem kleinen Jungen an dessen Seite einen hasserfüllten Blick zu. Seine dunklen Augen funkelten zornig. Er beanspruchte jetzt den Platz neben dem Sultan für sich. Die beiden Kinder zogen sich schweigend zurück.
Ihre alte Kinderfrau Naila hatte ihnen vor langer Zeit eine sehr gruselige Geschichte erzählt, die ihr einst von ihrer Sklavin berichtet wurde. Angeblich sollte sich Nasir während der Vollmondnacht in einen Falken verwandelt haben. Die Sklavin war auf dem Heimweg von einer Besorgung für ihre Herrin gewesen, als sie spät in der Nacht den Vetter des Sultans in der Wüste erblickte. Froh, einen Vertrauten des Palastes zu sehen, wollte sie zu ihm eilen, als er plötzlich mit den Füßen vom Boden abhob und sich als Falke in die Lüfte schwang.
Die Sklavin zitterte vor Angst und versteckte sich. Dann beobachtete sie, wie der Falke eine Maus schlug und sie seelenruhig verspeiste. Plötzlich veränderte sich die Gestalt wieder und der Großwesir kehrte zurück. Salih und Ghazia hatten sich während der Geschichte verängstigt unter ihre Decken verkrochen. Sie hielten auch jetzt Abstand zu ihrem Onkel.

„Hast du verstanden, was wir in Jerusalem sollen?“, fragte Salih, der die Hautfarbe seiner dunkelhäutigen Mutter, einer sudanesischen Prinzessin, geerbt hatte. Ghazia nickte. Sie war ein sehr kluges Mädchen. „Es geht um einen Frieden zwischen Vater und dem deutschen König und Kaiser des römischen Reiches. Er ist Christ und will für seine Glaubensbrüder freien Zugang nach Jerusalem, um dort zu beten.“
„Wie heißt er und warum nimmt uns Vater mit, wenn er kämpfen soll?“ Salih war noch zu jung, um die Welt der Erwachsenen zu verstehen. Er wusste, dass er als Prinz eines Tages Sultan werden würde und somit eine Sonderstellung am Hof innehatte. Das ließen ihn auch die Frauen des Sultans immer wieder spüren. Er wurde von allen mit hohen Ehren bedacht.
„Er heißt Friedrich und stammt von Sizilien. Das ist eine Insel im Mittelmeer. Man muss lange mit dem Schiff segeln, um dorthin zu kommen“, antworte Ghazia. „Er ist bereits König von Jerusalem, weil seine Frau dort die Königin ist. Vater und er wollen nicht kämpfen, sondern einen Vertrag schließen.“

„Ach so“, entgegnete Salih. Die nächste Frage brachte er aus zweierlei Gründen nicht mehr über die Lippen. Zum einen wollte er nicht von seiner Schwester als dumm angesehen werden, denn sie war ja schließlich nur ein Mädchen, und er hätte gerne gewusst, was denn nun ein Vertrag war, und zum anderen tauchten plötzlich die Mauern Jerusalems vor ihnen auf.

Salih staunte. Die Stadt erschien ihm fast so groß wie Kairo zu sein. Unzählige Menschen verschiedener Hautfarben und in bunter Kleidung gingen geschäftig ihrer Arbeit nach. Plötzlich erblickte er ihn. Kaiser Friedrich der Zweite saß auf einem schwarzen Hengst und kam mit seinem Gefolge zur Begrüßung des Sultans heran galoppiert. Salih starrte den kräftigen Mann in der silbern funkelnden Ritterrüstung bewundernd an. Um den Körper hatte der Kreuzritter einen weißen Umhang geworfen, auf dessen Brustteil ein rotes Kreuz prangte. Friedrich trug zu Salihs Überraschung keine Krone auf dem Kopf, sondern zeigte sein langes dunkles Haar offen. Er begrüßte den Sultan al-Kamil in perfektem Arabisch. Salih staunte noch immer mit großen Augen. Auch Kamil lächelte, als er sich im Sattel zu seinem Sohn wandte. „Mein Sohn und künftiger Nachfolger. Es ist gut, wenn er lernt, dass man auch ohne Krieg und Blutvergießen zum Ziel kommen kann. Daneben reitet meine älteste Tochter.“ Kaiser Friedrich begrüßte Salih mit der gebotenen Ehrerbietung und nickte der Prinzessin höflich zu.

Am späten Abend hatten alle ihr Quartier bezogen. Salih stromerte durch die Gassen. Keine Mauer schien dem flinken Knaben zu hoch zu sein. Aufeinmal stand er vor einem Wehrturm. Er konnte weder einen Eingang noch ein Fenster entdecken und hörte doch leise Stimmen aus dem Gemäuer nach außen klingen. Neugierig kletterte er auf einen Baum. Durch einen engen Mauerspalt erspähte er im Feuerschein seinen Onkel Nasir. Neben ihm stand die alte Hexe Fatima. Ängstlich zitternd kroch er näher, um zu hören, was die beiden besprachen.
„Es muss in der Nacht des Vollmondes geschehen. Du nimmst das Getränk ein und wirst dich wieder in den Falken verwandeln. Ich lege dir die Giftampulle um die Kralle und bringe dich als Diener verkleidet zum Sultan. Er wird dich dem Kaiser schenken. Der Ungläubige liebt die Falknerei. Wenn er dich auf den Arm nimmt, zerbreche die Giftampulle und kratze ihn tief ins Fleisch, damit er daran sterben kann. Das Gift wirkt nur langsam. Er wird hohes Fieber bekommen und erst in ein oder zwei Tagen tot sein. Dann sind wir bereits auf dem Rückweg. Niemand wird Verdacht schöpfen. Aber die Christen haben keinen Heerführer mehr und Jerusalem gehört uns“, kicherte die greise Hexe.

Salih eilte zu seiner Schwester. Ghazia erschrak sehr, als sie von dem Plan hörte. Sie nahm den kleinen Bruder an die Hand und führte ihn zu Kamil. Die Kinder baten, allein mit ihrem Vater sprechen zu dürfen. Ghazia ließ Salih erzählen. Der Sultan blickte überrascht erst zu seinem Sohn, danach in die Augen seiner Tochter. Das Ganze klang einerseits nach Märchen und überschäumender Phantasie und andererseits erschien es dem weisen Sultan logisch, dass sein Vetter die Verhandlungen stören wollte und dem deutschen König nach dem Leben trachtete. Er ließ Friedrich holen.

Noch einmal musste Salih sein Erlebnis schildern. Der Junge hatte eine Idee. Man darf Nasir nicht mehr aus den Augen lassen. Irgendwann um Mitternacht am morgigen Vollmond muss er den Zauber ausführen. Wenn die Hexe als Diener verkleidet den Falken bringt, soll der Sultan rasch den Kopf des Tieres abschlagen. Sodann wird die Reaktion des Dieners auf den Vorgang beobachtet und dieser festgenommen und gerichtet. Taucht Nasir an den folgenden Tagen nicht mehr auf, weiß der Sultan, dass er ihn in Gestalt des Falken getötet hat. Außerdem muss der Falke eine Flasche Gift an seinem Fuß tragen. Damit wäre der Beweis für die Verschwörung erbracht.

Der Sultan und Friedrich waren sofort einverstanden. Als am nächsten Abend ein Diener zum Festgelage erschien und einen Falken auf dem Arm führte, nahm das Schicksal für den bösen Zauberer Nasir seinen gerechten Lauf. Fatima kreischte und schrie erbärmlich als der Kopf des Falken ihr zu Füßen lag. Sofort wurde sie von den Wachen überwältigt und in den Kerker geworfen. Am nächsten Tag wurde auch sie für den Verrat hingerichtet


Tatsachen:

Sultan al-Kamil und Kaiser Friedrich der Zweite schlossen am 18. Februar 1229 einen weltgeschichtlich bislang einmaligen Friedensvertrag zwischen Orient und Okzident. Al-kamil war gebunden, er kämpfte gegen seinen Neffen Nasir. Inzwischen war ein weiteres kreuzfahrerheer eingetroffen und der Sultan musste eine Lösung finden. So wurde der Friede von Jaffa geschlossen.
In der Folgezeit kam es zu weiterem Handel und kulturellem Austausch der muslimischen Völker Arabiens und Ägyptens und den christlichen Europäern.
Es war ein für die damalige Zeit außergewöhnliches Ereignis, denn in der Kreuzzugsgeschichte gab es noch nie einen Kreuzzug ohne Blutvergießen.

Wenn man diese historische Tat auf unsere Zeit überträgt, bekommt der Wunsch nach Erfüllung des bekannten Schlusssatzes eines jeden Märchens eine besondere Bedeutung: Und wenn sie nicht gestorben sind…
 
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Conquisator

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Guten Abend Ruedipferd,
es ist dir gekonnt gelungen, eine belegte Begebenheit mit einem Märchen zu verschmelzen. Besondes ist mir dabei die Rolle des Vetters an-Nasir als der "Böse" aufgefallen.
Tatsächlich hat der Sultan al-Kamil gegen seinen Neffen Nasir Krieg geführt, da dieser ihm die Herrschaft über Damaskus streitig machen wollte. Dadurch war er quasi gezwungen, durch die Ankunft eines weiteren Kreuzfahrerheeres, ein Arrangement mit Friedrich zu treffen. Dadurch kam der Friede von Jaffa zustande.
Wie bereits erwähnt, eine sehr schöne Verschmelzung:)
 



 
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