Der Kreislauf des Feuers

Feuertopf

Mitglied
-- Angiras --

Im Innern des Hauses war es stockfinster. Die Affenkönigin vernahm die Schreie ihrer Kinder, die von den morschen Balken und klammen Wänden widerhallten. Die Schreie kamen tief aus der Erde. Manchmal hörte sie das Getrappel des Ameisengefolges, wie es sich ihr langsam näherte. Doch sich der mächtigen Königin offen entgegenzustellen wagten die Ameisen nicht. Immer weiter tastete sich die sorgengeplagte Mutter, bis sie sich im Keller des Hauses befand, einem großen Gewölbe, in das die zahllosen Gänge der Ameisen mündeten. Das Getrappel war von der großen Zahl seiner Verursacher um ein Vielfaches lauter als oben. Es roch nach frischer Erde. Sie wand sich umher und stolperte in der Dunkelheit, dass es um sie herum schepperte. „Ilibish!“, schrie sie nach dem Ameisenkönig. Doch niemand antwortete. Als sie sich noch einmal drehte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel ein fahlblaues Licht. Geduckt huschte sie näher an die Quelle des Scheins, metallisch schallte es bei fast jedem Schritt. Die Ameisen mussten ihr Kommen lange gehört haben und geflohen sein. Von der eingestürzten Decke verlief ein Lichtstreif zur von Flechten und Ranken bewachsenen Wand. Dort lagen und zitterten ihre Jungen.
Aus der Ferne schnarrte die Stimme des Ameisenkönigs: „Schaff deine Bälger weg, lass das Gold liegen.“ Bei den Worten drehte sich Melu um und überlegte. Auf wie viele Arten konnte das Spiel ausgehen? Was würde sie am liebsten tun? Sie konnte sich am Ameisenkönig rächen und sein Gold nehmen. Oder spürte sie ihn lieber auf und zerquetschte ihn? Doch als sie sich wieder den Affenjungen zuwandte, erschrak sie. Alle waren sie von grausigen Brandnarben übersät. Hatte der Ameisenkönig sie mit Feuer gequält? Das konnte nicht sein, denn die Ameisen fürchteten das Feuer sogar noch mehr als die Affen. Als sie von den Jungen aufsah, konnte sie im Dämmerlicht erkennen, dass der ganze Raum mit Ruß bedeckt war. Da überkam Melu eine plötzliche Übelkeit und sie sackte in die Knie.
„Was soll das, Ilibish?“, schrie sie verzweifelt und wütend, der Drang zu weinen stieg ihr bis hoch an die Kehle, mit einem Gefühl als füllte sich der Raum mit Regenwasser. „Ich spiele nicht mehr mit dir!“ Sie verharrte in der Hocke, mit dem Blick auf den Boden gerichtet, zitternd. Durch die Stille, die folgte, wurde sie noch wütender, verzweifelte noch mehr darüber, was der Junge ihr mit dieser Vorstellung sagen wollte. Sie, die Außenseiterin, sollte weggehen, fort aus der Stadt und niemals wiederkommen.

Melu raffte sich auf und rannte den Weg zurück, den sie gekommen war, durch die scheppernden Berge aus Metall. An der Treppe angekommen, schnappte sie sich mit der rechten Hand ein goldenes Armband von einem der Stapel und nahm mit der linken einen kupfernen Handspiegel aus dem feuchten Dreck auf. Sie kletterte wutschnaubend nach oben und stürzte durch den Hauseingang ins Freie. Auf der Straße lehnte sie sich erschöpft gegen eine der kaputten Abfallurnen.
Die runden Pflastersteine des totenstillen Marktplatzes starrten sie an wie hunderte feindselige Augen. Auf ihnen tanzte das Flimmern der Mittagssonne zu der heulenden Musik verwilderter Hunde in der Ferne. Melu holte mehrmals tief Luft, hustete verschämt. Sie nahm den Handspiegel vors Gesicht und betrachtete ihr kleines, rundes Gesicht mit den Brandnarben, die sich über die gesamte rechte Gesichtshälfte zogen. ‚Vielleicht hat sich Ilibish auch einfach nur über die Narben lustig gemacht und wollte gar nicht, dass ich weggehe‘, dachte Melu und sah in der Reflexion ihrer tiefschwarzen Augen einen bernsteinfarbenen Hoffnungsschimmer aufglühen. Sie steckte sich den Handspiegel in die Bauchbinde, dass er fast unsichtbar wurde. Das goldene Armband hielt sie in ihrer rechten Hand so fest im Blick wie eine Mutter ihr Kind. Und dabei kamen ihr wieder die gewohnten, nichtssagenden Bilder in den Sinn. Krachendes, stinkendes Holz und verbrannte Haut. Das lächelnde Gesicht eines Kindes, das rotgelb leuchtete wie ein kleiner Gott.
Und was war nun geschehen? Ilibish war doch zuvor immer freundlich zu ihr gewesen. Hatte nicht auch die Affenkönigin am Ende der Geschichte mit dem Ameisenkönig Frieden geschlossen, weil sie die feinen Fäden erkannt hatte, die zum wahren Wert der Dinge führen?
„Denn den wahren Wert der Dinge erkennt man erst, wenn man sich von allem anderen befreit hat.“, murmelte Melu.

Mehrmals wiederholte sie den Spruch. Die Worte prallten an den leeren Häusern der Geisterstadt ab und wurden von dem sumpfigen Gestrüpp verschluckt, das sich dort fand, wo einst die Scheiße der toten Stadtleute aus den Kanälen an die Oberfläche geschwemmt worden war.
„Ist das der Schwachsinn, den sie dir beigebracht hat?“, fragte Angiras, laut wie ein hereinbrechendes Gewitter. Der glatzköpfige Krieger saß in einer schattigen Ecke, die Arme verschränkt, das mit Brandnarben übersäte Gesicht verzogen wie ein Stück Leder nach dem Regen. Beim Sprechen zitterte ihm der schwarzgraue Bart. Melu hatte so getan, als bemerke sie ihn nicht und den Satz zu sich selbst gesprochen wie Oma Shimida ihn ihr in der Geschichte erzählt hatte.
„Der wahre Wert ist immer da“, sagte sie gleichförmig. „Meine Vorfahren kannten ihn. Deswegen hatten sie Macht.“
Sie erwartete, dass der alte Herumtreiber sich über die Ruinen der Stadt und das erbärmliche Ende ihrer Bewohner lustig machen würde, aber er blieb still da sitzen, die bronzene Langaxt sachte zwischen den verschränkten Armen haltend. Melu verkrampfte die Hand in einem kleinen Wutanfall um den goldenen Reif und schleuderte ihn Angiras zu. Der schnappte gierig danach und entließ ein Knurren, bei dem Melu halb zurückschrak.
„Wo hast du den her?“, fragte er, ein böses Funkeln in den Augen. Melu wich seinem Blick aus und hoffte, dass er es dabei beließ. Doch Angiras trat ganz nah an sie heran. Mit einem kleinen Knall hieb er das hölzerne Ende der Langaxt neben sich gen Boden. Sie fuhr zusammen und blickte verstohlen zur Seite. Ob sie wohl wegrennen könnte, wenn sie wollte? Sie malte sich aus, wie sie behände zwischen den halb verwesten Häusern hin und her sprang. Sehr flink müsste sie wahrscheinlich schon sein, denn in der Stadt waren schattenartige Gestalten verteilt, die auf den Hausdächern herumlungerten, in den Höfen und neben den mit Urwald überwucherten Müllhalden. Schädlinge, wie die Ameisen in den Höhlen. Angiras Kriegerbande.
„Ich habe dich etwas gefragt“, knurrte Angiras. Erst jetzt erwiderte Melu vorsichtig seinen Blick. „Von da“, sagte sie betreten und wies mit dem Finger hinter sich. Angiras Blick wanderte von Melu zu dem Hauseingang, aus dem sie gekommen war. Seine Augen fingen an zu glänzen, er wischte sich mit der Hand übers Gesicht und fuhr sich durch den stacheligen Bart.
„Komm mit!“, brummte er. „Die Hexe will dich sehen.“
Erst bei diesen Worten bemerkte Melu, dass die Übelkeit seit Ilibishs bösem Scherz im Keller nicht von ihr gewichen war. Vielleicht hatte der Junge recht gehabt und alles lief daraus hinauf, dass sie fortmusste, unvermeidlich wie ein Fluss, der seinen Lauf verfolgt? Doch ihre Brust wärmte sich trotzdem bei der Erwartung, die ‚Hexe‘ zu sehen. Oft hatte Oma Shimida ihr die Zauberei vorgeführt, mit dem sie den wahren Wert aller Dingen herausfand, oft die großen Waagschalen gedreht im trockenen Becken aus porösem Stein. Vielleicht würde die alte Magierin sie aufmuntern, wo der Bandenhäuptling nur Drohungen aufbringen konnte.
Angiras war bereits mit schweren Schritten losgestapft. Zaghaft ging Melu ihm hinterher und gemeinsam durchstreiften sie die rottende Stadt. Die Stimmen der wilden Hunde verstummten langsam, doch die einkehrende Stille legte sich Melu nicht weniger aufs Gemüt als das Geheul. Damals auf Shambaras Festung hatte allein ein einziges fremdes Geräusch die ganze Burg verstummen lassen wie ein Reh, wenn im Unterholz ein Zweig bricht. Doch in der Stadt wartete die Stille auf nichts.
„Ich kenne einen von den Gespensterjungen hier im Bezirk“, rief Melu redselig, sprang mit einem trippelnden Schritt neben Angiras her, verdrängte zwanghaft, dass er nicht ihr Vater oder Onkel war.
„Aha“, sagte Angiras dumpf. „Er hat wohl für dich den Ameisenkönig gespielt?"
„Ja!“, schnaufte Melu aufgeregt. „Er heißt Ilibish. Sein Vater war Töpfer.“
Angiras stand einen Moment lang still, dann schulterte er mit einem schweren Seufzer die Axt und schleppte sich weiter über den gepflasterten Weg, die wehenden Gräser mit den Stiefeln zerreißend.
„Pass nur auf, dass du deine Freunde lange behältst“, sagte er schließlich angestrengt. „Meine sind mir schon lange weggestorben, aber das scheint in dieser Trümmerstadt ja kein Problem zu sein. Man könnte sich mit der Asche im Wind unterhalten und sie würde antworten.“
Er achtete nicht auf Melus verdutztes Gesicht. Kurz hämmerte ihr Herz verzweifelt auf wie das eines gefangenen Vogels, dann versuchte sie weiter, seinen Schritt zu halten. Ihr ungleichmäßiger Gang hallte von den Wänden der skelettähnlichen Wohnhäuser und Bäder wider, bei deren verbleichenden Farbmustern sie an die Kleider der stolzen Burgherren von Shambaras Festung denken musste.

Oma Shimidas Haus stand unterhalb eines knorrigen Maulbeerbaums. Unter dem wegbröckelnden Putz trat gebrannter Ziegel in fahlem Rot hervor wie altes Fleisch, das Schilfdach ähnelte einem verwitterten Strohhut. Doch irgendetwas schien den Ort mit einem Leuchten zu erfüllen, das die Grenzen aller Dinge auf dem Grundstück verwischte. Das Leuchten schien zu sagen: Hier ist noch alles in Ordnung. Hier wohnt der letzte Mensch, den die Götter mögen. Angiras blieb an der Abzweigung der langen Hauptstraße stehen.
„So Mädel, jetzt hör mir mal kurz zu, bevor du losrennst.“ Er packte sie an den Schultern und setzte eine ernste Miene auf. „Weißt du, warum ich dich vorhin gefragt habe, woher du das Goldarmband hast?“ Melu schüttelte den Kopf. Sie hatte Angst, Angiras zu sagen, dass er gierig war.
„Weil der Ameisenkönig in der Stadt seine Fühler ausgestreckt hat“, erklärte er ungeduldig. „Wenn es hier noch weitere Goldschätze gibt, finden wir bei einem von denen sicher sein Versteck.“
Melu machte große Augen. „Der echte Ameisenkönig?“, fragte sie flüsternd.
„Richtig!“, raunte Angiras.
„Oma hat mir davon gar nichts erzählt“, murmelte Melu mit schiefem Blick.
Angiras faltete nachdenklich die Hände. „Weil der Ameisenkönig sich deiner Oma ins Herz gegraben hat und an ihrem Verstand knabbert.“
„Und warum macht er das?“, fragte Melu misstrauisch. „Hat Oma Shimida ihm etwas getan?“
„Das müssen wir noch herausfinden“, fuhr Angiras geheimnisvoll fort. „Zunächst erstmal musst du deine Oma nach den Stellen mit dem Gold fragen. Aber pass auf! Wenn sie merkt, was du vorhast, wird auch der Ameisenkönig Bescheid wissen. Dann tötet er deine Oma mit dem Fluch, damit sie sein Geheimnis nicht verrät.“
„Wie soll ich das denn anstellen?“
„Frag sie auf keinen Fall direkt nach dem Gold. Mach ihr klar, dass sie dir eigentlich gar nichts beibringt und dass ihre Ausbildung im Allgemeinen sinnlos ist.“
„Das stimmt doch gar nicht!“, rief Melu entsetzt.
Angiras rollte mit den Augen. „Ob es stimmt oder nicht, Mädel, darüber brauche ich mich jetzt nicht mit dir zu streiten. Tu es einfach und der Ameisenkönig wird sich bald nicht mehr zu helfen wissen, da kannst du mir vertrauen!“

Angiras gab ihr einen Schubs. Melu ging erst nur zaghaft vorwärts, einen Schritt nach dem anderen abzählend, mit Beinen, die zitterten vor Angst und Übelkeit. Angiras war doch schon selbst vom Ameisenkönig besessen, das hatte Melu an seinen schimmernden Augen erkannt. Aber was half ihr das Wissen? Der staubige Weg, den sie entlang tapste, fühlte sich an wie eine Weissagung, der Melu nicht entgehen konnte. Sie beobachtete sich selbst im Lauf von außen wie einen Tropfen, der ins Wasser fällt.
Erst als die stämmige Gestalt von Oma Shimida lächelnd zwischen den Mauern des Gartens auftauchte, die Arme in die Hüften gestützt, vergaß Melu das Gefühl kurz und fing an zu rennen. Doch gleich hielt sie wieder an, verschaffte sich mit einem Blick nach hinten darüber Gewissheit, dass Angiras von der Straßenkreuzung verschwunden war und sah wieder nach vorn, die Lippen missmutig aufeinander pressend. Oma Shimida hatte ihr normalerweise frei fallendes, fast weißes Haar nach hinten verknotet. Dadurch kam ihr rundes, freundliches Gesicht mit den traurigen Eulenaugen noch besser zur Geltung. Melu hatte immer gefunden, dass Oma Shimidas Gesicht noch sehr jung aussah im Gegensatz zu dem der alten Weiber aus den Dörfern von Angiras Leuten. Doch jetzt traten darauf einige Falten mehr hervor und ihre Augenringe zeichneten sich stärker ab.
„Oma, Oma!“, rief Melu melodisch und scherzhaft wie immer, doch diesmal auch halb in Sorge. Bei der Umarmung merkte sie, dass Oma Shimida dünner geworden war.
„Hallo, mein Kind!“, rief die Alte freudig aus und tat überrascht bei dem Ansturm des Mädchens. „Wie hat dir dein Besuch beim König gefallen?“
Melu dachte wieder an die Geschichte von der Affenkönigin und ihre Unerschrockenheit. „Es war nichts besonderes.“, sagte sie tapfer. „Sie haben mir nur ein paar Fragen gestellt.“
„Mehr brauche ich gar nicht zu wissen!“, rief Oma Shimida verächtlich. „Fragen gestellt! Angiras ist ein Esel, dass er dich mitgenommen hat. Du bist noch nicht bereit für Fragen.“ Ihre Augen wurden feucht und sie neigte sich schwerfällig zu Melu nieder. „Sie haben dich doch aber in Ruhe gelassen, oder?“
Melu nickte. „Angiras hat mich beschützt“, rief sie hastig.
„Angiras will sich wohl bei seinem König hervortun“, sagte Oma Shimida kühl. „Na schön, das wird dann erst einmal schief gegangen sein.“
Melus spielerischer Übermut kühlte sich ab. Warum fand Oma es schön, dass ihre Vorsprache schief gegangen war? War es am Ende wirklich der Fluch des Ameisenkönigs, der Oma Shimida dazu brachte, ihre Ausbildung nicht ernst zu nehmen? Denn schief gegangen war tatsächlich alles. Dafür standen Melus verpatzte Antworten wie ein in Stein gemeißeltes Mahnmal: Wie würde sie eine Handelsreise planen? Welche Zaubersprüche waren bei Omas Ritualen wichtig? Wie viele Rinder war das Stück Metall dort wert? Der König hatte sie am Ende nur ausgelacht.

„Komm erstmal mit nach hinten und bereite dich vor“, rief Oma Shimida plötzlich wieder fröhlich und lachte wie beschämt und ungeduldig zugleich. Melu nickte langsam.
Bei Eintreten blieb Melu einen Moment an der Schwelle stehen, die Wärme der Sonne im Rücken. Die getrockneten Heilkräuter hatten bereits bei ihrem letzten Besuch auf der Bank in der Mitte des Raumes gelegen. Im Halbdunkel wirkten sie wie vermoderter Schafpelz. Melu nahm den kupfernen Handspiegel aus ihrer Bauchbinde. Dabei blitzte der Spiegel zunächst auf und sie zögerte. Das überraschend blendende Licht fühlte sich für den Moment an wie eine offene Wunde. Doch der Moment verstrich. Melu legte den Spiegel vorsichtig mit der Spiegelfläche nach oben ins Dunkel auf die Bank und folgte Oma Shimida durch die Strohtür am anderen Ende hinaus ins Freie.
Im Garten hinter dem Haus stand stolz das Holzgestell der Waage in seinem steinernen Becken und auf der Waagschale lag der schwarze Stein der Stadt, das größte Gewicht in Omas Besitz. Aus dem Stein starrte Melu dessen gemeißelte Grimasse entgegen, ein pausbäckiges, irgendwie wütend und doch lächelnd schauendes Wesen. Drumherum hatte Oma Shimida Kästen mit Tongefäßen, Achatketten, Messern, Bögen und bunten Gewändern abgestellt. Melu nahm auf einem bestickten Kissen vor der Waage Platz.
„Dann legen wir mal los“, sagte Oma schnaufend und klatschte in die Hände. Sie warf einen verschmitzten Blick in Melus Richtung. Augenblicklich wurde Melu leichter zumute und sie atmete auf. Der schwache Wind, der gerade noch den großen Maulbeerbaum aufgeplustert hatte, ließ dessen Rascheln in einer friedlichen Stille enden.
Da nahm Oma Shimida eine kleine Terrakotta-Flöte aus einem der Kästen in die Hand. Die Flöte hatte die Gestalt eines Vogels, dessen viele Schwanzfedern sich in einen buschiges Meer aus Farben ergossen. Mit einem Mal schlug Oma Shimida auf die Flöte ein und Melus Herz tat einen Satz, so ungetrübt war ihr Staunen über das, was gleich geschah, seit sie zum ersten Mal in Oma Shimidas Unterricht gesessen hatte.

Die Flöte brach nicht, sondern faserte aus, verlor sich in Schlieren. Melu versank gleich in die zerstreute Betrachtung der bunten Ströme aus Licht und Staub, die die Flöte in alle Richtungen schickte wie es die Sonne mit ihren Strahlen tat. Oma dagegen verfolgte die Strahlen mit kritischen Blicken, fasste in einen davon hinein und rieb die Finger gegeneinander.
„Reicht das etwa schon?“, murmelte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Da war Schmutz im Ton. Nicht sichtbar, aber später vielleicht schlimm.“
Als die Grimasse des Gewichtssteins aufwachte, merkte Melu, dass etwas anders war als die Male zuvor. Die Augen der dunklen Fratze klapperten müde.
„Einer der späteren Besitzer dieses Instruments wird ein Wahnsinniger sein“, fing die Grimasse an zu sprechen. „Das sieht man an den unförmigen Rissen, die da noch nicht sind.“
„Du glaubst wohl, ich hätte gar nicht mehr mitzureden?“, fragte Oma Shimida gereizt. „An wen etwas weitergegeben wird, nachdem es hierher gekommen ist?“
„Darüber kann ich nichts sagen, ob du noch etwas mitzureden hast.“, äffte der Stein sie nach. „Für mich ist dein Mitreden nichts anderes als der Wahnsinn des anderen. Da sind jetzt deine Fettfinger drauf. Später zerbricht es einer. Dann packt wieder einer die Scherben in eine Schlickmauer. Dann-“
„Mach dich nicht so wichtig vor dem Kind, du altes Großmaul!“, rief ihm Oma Shimida dazwischen. Sie sah feixend zu Melu hinüber. Doch aus Melu war die Entspannung gewichen, so ausgelaugt wirkte der Grimassenstein plötzlich auf sie, ganz anders als bei ihrem letzten Besuch.
„Das Kind passt doch gar nicht richtig auf“, sagte der Stein trocken. Melu spürte seinen müden Blick auf sich und wusste, dass er vorwurfsvoll war, ohne dass sie es wagte, ihm zu begegnen.
„Ist doch egal!“ Oma Shimida machte eine wegwerfenden Handbewegung und sah Melu herzlich an. „Spiel und Ernst, Melu. Von beidem wird es immer genug geben. Jetzt bleiben wir erstmal beim Spiel und der Ernst kommt später.“
Melu grinste gezwungen und wippte mit den Knien, als wäre sie aufgeregt. Doch wie zur Bestätigung ihres Gefühls stieg ihr ein Modergestank aus den Gräsern des Gartens in die Nase und füllte sie mit erstickender Angst vor der Bosheit des Ameisenkönigs, die den vertrauten Ort schon halb aufgezehrt hatte. Ein Spiel war es schon, was Oma Shimida dort aufführte, doch der Ernst war daraus nicht zu entfernen. Der Steingott auf der Waagschale war von Moos bewachsen, unwillig und der Vernichtung nahe. Als der Wind aus den Blättern des Maulbeerbaums geflohen war, so hatte Melu es jetzt begriffen, war nicht Frieden eingekehrt, sondern der Tod.
„Reicht es denn?“, fragte Oma Shimida den Stein. „Können wir die Flöte im Hier und Jetzt verankern?“
„Wem’s nützt“, grummelte der Stein. „Na schön, leg sie drauf.“
Oma Shimida legte die Flöte auf die Waagschale und der Grimassenstein drehte sich damit im Kreis. Knarzend fuhr er mal auf, mal ab und das morsche Gebilde wackelte umher. Dabei bebte die Erde mit den Höhlen der Ameisen darunter. Siehst du, was für ein dummes Spiel das doch ist?, brannte sich die Stimme des Ameisenkönigs lautlos in Melus beklommene Brust. Dafür hast du deine Kinder in meiner Höhle zurückgelassen?
„Wozu unterrichtest du mich eigentlich?“, brach es hastig aus Melu heraus. Oma Shimida bemerkte die Frage zuerst nicht, weil sie ganz vertieft das Drehen der Waage betrachtete. Doch schließlich richtete sie den Blick auf Melu, als sähe sie durch sie hindurch.
„Was meinst du damit, warum ich dich wirklich unterrichte?“, fragte sie. „Damit es noch jemanden gibt, der das alte Wissen weiterträgt, wenn ich einmal nicht mehr bin. Das weißt du doch.“
„Aber ich kann das Wissen nicht weitertragen“, rief Melu und merkte, dass sie wirklich wütend wurde, obwohl es nur Angiras Anweisung gewesen war, die sie zur Stellung der Frage veranlasst hatte. „Ich lerne doch gar nichts! Ich sitze doch nur hier rum und weiß immer noch nichts darüber, was du genau machst!“
„Dafür muss man sich auch zuerst von allem lösen, was man im Leben will.“, sagte Oma Shimida und lachte, die traurigen Eulenaugen liebevoll auf dem Mädchen ruhend. „Du weißt aber noch nicht einmal, was du willst. Kannst ja nicht mal ruhig sitzen!“
Melu biss die Zähne zusammen. „Aber der König hat sich über mich lustig gemacht!“, rief sie stockend, fast weinerlich. „Was ist, wenn er die Geduld verliert?“
„Na, na“, seufzte Oma Shimida. „Das wird schon nicht passieren.“
„So sicher wäre ich mir da gar nicht“, warf der Stein ein. Oma Shimida hob eine Augenbraue und bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. Sie ging zu Melu hin und legte ihr die Hand sachte auf den Kopf. „Wir sind beide vom selben Blut.“, sagte sie. „Die wenigsten unseres Volkes haben jemals diese Kunst beherrscht. Was sollen dagegen diese Viehtreiber ausrichten?“
Der Stein seufzte. „Ich mache mich also wichtig?“, fragte er, gedehnt vom Schwung. Oma Shimidas Gesicht bekam einen bösen Zug. Sie krampfte die Hand auf Melus Kopf zusammen.
„Halt dich da raus, das ist Menschensache!“, rief sie schroff. „Es macht mich wahnsinnig, was so ein Haufen Herumtreiber sich heutzutage herausnimmt! Da musste erst die Seuche über uns herfallen, damit so ein stinkender Hund hier brandschatzend herumziehen und sich König nennen kann. König!“
Sie zuckte zusammen. Dann bedachte sie Melu mit einem mitleidsvollen Lächeln, ließ die Hand durch ihre Haare fahren und auf ihrer Wange ruhen.
„Das Warten wird sich schon lohnen“, raunte sie ihr ermutigend zu. „Die Stadt ist voll mit kleinen kostbaren Verstecken von Gold und Edelsteinen. Genug, um die Stadt wieder groß zu machen, wenn wir es richtig angehen!“
Oma Shimida blickte von Melu hoch zum Hauseingang. Ihr erhitztes Gesicht wurde totenbleich. Als Melu ihrem Blick folgte, sah sie die knöchrige Gestalt des Bandenhäuptlings neben der Strohtür stehen, die Arme um die Handaxt verschränkt. Ruhig hatte Angiras auf das Ende von Oma Shimidas Rede gewartet.



-- Oma Shimida --

Das Drehen der Waage ebbte ab. Als der Stein zum Stehen kam, war seine Meldung „Fertig“ nichts als ein leises Zischen. Erst beäugte der Stein den Eindringling misstrauisch, dann machte er sein Gesicht wieder fest, wütend starrendes, basaltenes Lächeln. Überall raschelte es in den Wegen um das Grundstück. Einige Speerspitzen bewegten sich wippend außen um den Garten herum, hielten neben dem Maulbeerbaum und blieben in der Luft hängen. Das Gemurmel von Männerstimmen kam über die Mauer.
„Du bist Melu hinterhergegangen?“, fragte Oma Shimida Angiras beiläufig, während sie ihm den Rücken kehrte und zur Waagschale ging, um die Flöte aufzuheben. Sie wog das Instrument in der Hand hin und her. Dabei gab sie erstauntes Gemurmel von sich und ihre Hand begann zu zittern.
„Es ist meine Aufgabe, das Mädchen zu beschützen“, brummte Angiras und wies auf die Brandnarben in seinem Gesicht. Oma Shimida lachte schrill auf.
„Dann solltest du ihr am besten fernbleiben-“, höhnte sie. „-und das Brandschatzen auf die alten Tage bleiben lassen.“
Angiras antwortete nicht. Er löste sich lautlos von der Hauswand und blieb leicht gekrümmt da stehen, die Langaxt wie einen Gehstock haltend. Er hielt das goldene Armband in die Höhe, das Melu ihm zugeworfen hatte.
„Du hast mit diesen Reichtümern also deinen Weg zum Überleben gefunden, Shimida“, sagte er. „Willst du uns anderen auch erlauben zu überleben?“
Oma Shimida lächelte bitter. „Du musst dich von deinem Verlangen lösen, Angiras“, rief sie mit einem Zwinkern. „Dann bleibt nur eins in dir bestehen: der Funke Leben, der in jedem Dasein derselbe ist. Dann bist du nicht anders als wir. Dann hast du schon überlebt.“
„Was willst du mir hier erzählen?“, fragte Angiras augenrollend. „Dass das Gold nur Leid bewirkt, wenn ich es will, aber ein ‚Funke Leben‘ ist, wenn es dir gehört?“
„Das ist sein wahrer Wert“, rief Oma Shimida mit seltsam gackerndem Lachen. „Und mir gehört es gar nicht.“
„Wem dann?“, knurrte Angiras, die Worte hastig schleudernd wie Wurfmesser.
„Das wirst du gleich sehen.“ Oma Shimida ging zu Melu hinüber und ging in die Hocke. Melu senkte den Blick von Omas faltenumringten Eulenaugen zu Boden, doch Oma nahm Melus Hände und drückte die Flöte hinein.
„Spiel darauf.“, sagte Oma mit trockener Kehle. Sie stand wieder auf und entfernte sich von dem Mädchen wie von einem frisch entzündeten Feuer. Melu hielt das Instrument verkrampft in den Händen und warf den beiden Erwachsenen abwechselnd mitleiderregende Blicke zu. Als die Erwartung auf den Gesichtern ohne Veränderung blieb, wallte wieder Wut in ihr auf. Ihre Lippen fingen an zu beben, als sie die Flöte an sie heran hob und hinein stieß.
Kein Ton kam aus dem Instrument, aber als Antwort auf Melus Tat erhob sich ein Sturmwind in der Stadt. Der Geruch alter Gewürze und vermoderter Stoffe wirbelte aus den Gassen in den Garten hinein. Die Sonne verdunkelte sich, ohne das eine Wolke sie verdeckte.
„Stell die Frage“, rief Oma Shimida Angiras zu. Der war zusammengefahren und hielt die Axt in Bereitschaft. Die Stimmen seiner Männer waren verstummt.
„Wo ist das Gold?“, fragte Angiras hohl.
„Dieser Herr wünscht Zugang zu den Goldhorten der Stadt“, berichtigte Oma Shimida die Form der Anrede und schnaubte abfällig. Für einen Moment nahm der Wind ab und es kehrte wieder Stille ein. Dann fuhr der Sturm wieder auf, vielfach stärker als zuvor. „Als ob!“ schallte er mit einem Klang von Tausend Stimmen. Oma Shimida lachte leise.
„Warum nicht?“, rief Angiras dröhnend dagegen an, die Brandnarben in seinem Gesicht grausig verzerrt. „Was wollt ihr denn noch damit? Glaubt ihr denn, dass diese träumerische alte Kröte damit noch etwas anfangen kann?“
Der Wind pfiff ein wenig schwächer durch den Garten und die Sonne blitzte wieder auf wie zuvor, doch wer auch immer Antwort zu geben hatte, blieb sie schuldig. Die Luft wurde dämmrig und fing an zu stinken. Da fuhr Angiras auf und drehte sich dem Hauseingang zu. Wabernder weißer Rauch kam daraus hervor und verteilte sich auf dem ganzen Grundstück.
„Ist das dein Trick, Shimida?“, zischte Angiras durch seinen stacheligen Bart. „Mich mit Rauch zu benebeln und meine Sinne trübe zu machen?“
„Deine Sinne waren immer trübe, mein Lieber“, lachte Oma Shimida und verschränkte die Arme. Immer noch zitterten ihre runden Wangen und ihre Augen waren glasig. Angiras dagegen blitzte sie furchterregend an wie eine in die Enge getriebene Bestie. Er entfernte sich von der Tür, aus der der Rauch kam und nahm die Langaxt in beide Hände.
„Melu, geh nach draußen!“, donnerte Angiras. Melu sah Oma Shimida hilflos an, erwartete einen Tadel, einen Schrei oder ein Wimmern. Etwas Feindliches, das sie bestrafen würde. Doch die Alte nickte nur.
„Nimm die Flöte mit“, sagte Oma Shimida, während Melu sich von der Waage entfernte und schleichend an Angiras vorbeiging. „Den Tauschwert kannst du mir später geben. Wer den wahren Wert kennt, kennt keinen unfairen Tausch.“
Melu schluchzte und ließ fast die Flöte fallen, trotzdem rannte sie aus dem Garten ins Haus. Der Rauchgestank stieg ihr tief in die Nase und sie hustete. Als sie sich noch einmal umwandte, verschluckte der weiße Rauch sofort Oma Shimidas wässriges Lächeln am anderen Ende des Gartens und die Waage mit dem gleichgültigen Grimassenstein darauf. Doch im Inneren des Hauses lichtete sich der Rauch schnell wieder auf, da der Wind Melu entgegen kam und die Schwaden durch die Tür in den Garten hinaus jagte. Die Bank mit den Kräutern stand in Flammen. Am anderen Ende der Bank lag der Spiegel, dessen Spiegelfläche im Licht der herabsteigenden Sonne blitzte.

Außerhalb des Hauses tauchten links und rechts die Gestalten von Angiras Kriegern mit ihren Speeren auf, drohende, lange Schemen. Ihre Gesichter waren vom Tränenfilm verborgen, den der beißende Rauch Melu in die Augen getrieben hatte. Als Angiras selbst über die Mauer sprang, war er von Blut bedeckt, die Augen weit aufgerissen, die Langaxt immer noch erhoben, als wäre der Kampf noch nicht vorbei. Als hätte es überhaupt einen Kampf gegeben. Von der Klinge der Langaxt tropfte das Blut herab und die Tropfen rollten an den Grashalmen entlang in die Erde. Warum klopft dir das Herz so schnell?, hörte Melu das süße Geflüster des Ameisenkönigs aus seinen Katakomben. Sie war doch sowieso schon alt und dem Tode nah. Hätte es dir etwas genutzt, dort zu verweilen?
Angiras packte Melu hart am Oberarm und zerrte sie hinter sich her die Straße hinunter. Dabei schmierte er ihr das Blut an den Ärmel. Melu schaffte es nicht den Blick von der klebrigen roten Spur abzuwenden, während sie mit der anderen Hand die Flöte gegen den Mund hielt, um nicht zu schreien.
„Wir fangen jetzt an, das Gold zu suchen“, knurrte Angiras.
„Du tust nur das, was der Ameisenkönig will“, hauchte Melu schwach. Angiras drehte sich ruckartig um und packte sie bei den Schultern.
„Und tust du auch, was der Ameisenkönig will?“, fragte er mit seinen irre glänzenden Augen. Sie nickte kraftlos. Und weiter zog er sie, bis ihr Handgelenk zu schmerzen begann.

Zuerst weit entfernt, dann in immer näherem Abstand kehrte das Heulen der verwilderten Hunde zurück. Das Heulen vermehrte sich zu einem Wehgesang wie von allen Seelen der Toten in ihren Sterngefängnissen hinter dem Trugbild des lichten Himmels. Melu stellten sich die Haare auf und sie wollte losrennen, doch Angiras hielt sie im ehernen Griff zurück und die Männer blieben an Ort und Stelle stehen.
„Warum uns jetzt die Köter wegen ein paar Flecken Blut hinterherrennen, wenn das meiste Fleisch woanders ist?“, seufzte Angiras, musterte Melu mit gesenkten Augenlidern und fügte hinzu: „Ich verpass dir gleich eine, wenn du mich nochmal so anschaust.“
Das Heulen verteilte sich. Angiras wich zurück und zerrte Melu hinter seinen Rücken. Durch die tiefrote Ziegellandschaft der langen Hauptstraße schnellten graue und schwarze Flecken mit böse stechenden Augenpaaren. Ihr Heulen durchmaß den Abstand zu den Männern so genau, wie Menschen es ihnen nur mit Steinschleudern hätten gleichtun können. Mit jedem Anschwellen des Klageliedes rückten die Männer weiter zusammen, duckten sich tiefer hinter die Speerspitzen. Ein schwarzer Hund kam weit vor den Männern zum Stehen und senkte die Schnauze schnüffelnd zu Boden. Die Luft war erfüllt von den Stimmen seines Rudels weiter hinten auf der Straße. Den Männern ging der Atem stockend. Angiras stieß ein tiefes, müdes Stöhnen aus, drehte sich um und ließ Melus Hand los als würfe er Unrat weg.
„So Mädel, jetzt bringe zur Abwechslung mal ich dir was bei“, rief er so dröhnend, dass der Bart zitterte. „Weißt du, was mit dem Feuer passiert, wenn man es löscht?“
Melu schwieg, im Schrecken gebannt von Gestank und spitzem Gebell der Horden eintreffender Hunde. Manch einer der Köter schlich langsam im Halbkreis um die Gruppe herum.
„Es geht ins Wasser“, erklärte Angiras. „Deswegen leuchtet die Wasseroberfläche unter der Sonne. Das ist das Feuer, das im Wasser ist und die Sonne begrüßt. Und wenn das Wasser verdampft, dann geht das Feuer mit ihm in den Himmel. Da leuchtet es als Blitz auf.“
Melu nickte verwirrt und drängte sich dichter zu Angiras hin. Einer der Wölfe sprang zähnefletschend auf die Reihe der Krieger zu und wurde von einem Speer in die Kehle getroffen.
„Wenn es regnet, wachsen die Bäume und nehmen das Feuer in sich auf“, fuhr Angiras ungerührt fort. „Schließlich reiben wir das Holz der Bäume auf und holen das Feuer wieder daraus hervor.“
Wieder nickte Melu langsam. Gerade als er geendet hatte und das Bellen vieler Hundekehlen unmittelbar vor der Schlachtreihe zu sein schien, wirbelte Angiras das Mädchen nach vorn zwischen sich und seine Männer, ließ die Langaxt fallen, holte zwei ungleiche Hölzer und ein kleines Bündel Reisig aus seinem Mantel und hieb das eine Holz in das andere.
„So!“, rief er aus und seltsame längliche Funken stieben aus den Hölzern, Schlieren aus Licht und Staub, ganz wie in Omas Schauspiel mit der Flöte zuvor. Da entzündete sich das trockene Gras auf dem Platz, wanderte wie von einem Geist beseelt durch die Lücken zwischen den Kämpfern und der ganze Platz samt zulaufender Straßen um sie herum ging in Flammen auf. Melu erschrak so tief und durchdringend von der Gewalt des Feuers, dass sie alles um sich herum augenblicklich vergaß. Nur die Schuld blieb ihr in den Knochen sitzen, wie brennenden Pech, das sie wie irre abstreifen wollte, sei es mit den Fingernägeln und auf Kosten ihrer Haut und ihres Fleischs. Angiras packte Melu mit der rechten Hand am Schultersaum und ruckte sie gewaltsam an sich heran. Mit der linken hob er die Langaxt wieder auf und wies ihr mit der Klinge auf ihre Brust.
„Wir haben das Feuer beide in uns.“, schnaufte er. „Lass es ruhig brennen!“ Dann stieß er sie weg, durch die Flammen hindurch, weg vom Rudel der Hunde. Weg vom Platz hin zur kühlen, dunklen Gasse. Doch dicht an ihrem Ohr knurrte es wieder. Links und rechts von sich fühlte Melu borstiges Fell entlang streifen und vor dem Feuer haltmachen. Die Hunde hatten die Gruppe eingekreist, doch statt sich auf Melu zu stürzen, starrten sie nur mit wütenden Bestienaugen auf die Feuerwand vor sich. Hinter der Feuerwand saß Angiras mit seiner Langaxt im verschränkten Schneidersitz und lächelte mit den Augen, wenn auch sein brandnarbiges Gesicht es nicht sichtbar vermochte.
Zuerst blieb Melu erstarrt liegen, unfähig dem Drohen des Feuers zu entkommen und der Schuld, die es in ihr entzündet hatte. Warte doch noch und schau zu, was passiert, höhnte der Ameisenkönig. Bald geht das Feuer aus. Davon aufgestachelt drehte sie sich schlagartig um, weg vom lichterlohen Kampf. Wieder wurde sie zum Wassertropfen ihrer Lebenspfütze, musste fort ohne es zu wollen. Sie rannte so schnell und so weit, dass sie vor Erschöpfung zusammenbrach und ihr schwarz vor Augen wurde. Ein seltsamer Traum ließ ihr die Erinnerung an ihr erstes Zusammentreffen mit Angiras wieder vor Augen treten. Beim Angriff der fremden Männer auf Shambaras Festung. Sie hatte hoch oben auf dem Wall gestanden und Ilibish hatte ihr etwas Unverständliches aus dem Hof hinaufgerufen. Als der Blick des glatzköpfigen Kriegers mit dem stacheligen schwarzen Bart sich zum ersten Mal mit ihrem getroffen hatte, war Mitleid darauf sichtbar gewesen.

Melu wachte auf. Das leuchtende Orangerot der Ziegelsteine war vom Boden durch die wachsenden Schatten abgeschnitten, in denen sie lag. Sie setzte sich benommen hoch und merkte, dass sie immer noch Oma Shimidas Flöte umklammert hielt, die Flöte des Totenvogels mit seinen buschigen bunten Federn. Ohne zu wissen was sie tat, entließ sie einen Luftstoß in das Instrument. Kein Ton folgte, kein Sturmwind kam auf. Nur eine einzelne Gestalt wurde ihr gegenüber sichtbar, am anderen Ende der engen Gasse. Rußgeschwärztes Haar, weißes Grinsen und zerrissene Kleider. Er war umgeben vom orangeroten Schein der Abendröte, der ihn einkleidete wie ein Mantel aus Feuer. Der Ameisenkönig.
„Bist du zufrieden, Ilibish?“, fragte Melu mit Tränen in den Augenwinkeln. „Ich habe das Goldarmband und den Spiegel mitgenommen. Jetzt hast du, was du wolltest.“
Aber Ilibish antwortete nicht. Da glimmte Melus Inneres auf mit einem nie dagewesenen Zorn und sie schrie und rannte auf Ilibish zu mit der Flöte in der Hand wie mit einer Waffe. Der Junge wich zurück und Melus Angriff ging ins Leere. Sie hustete und würgte, Ilibish grinste noch immer.
„Schaff deine Bälger weg, lass das Gold liegen!“, schnarrte er mit verstellter Stimme. Doch nun war er in Reichweite und Melu hieb blindlings auf ihn ein, schreiend und tobend vor Schmerz. Als sie die Augen wieder öffnete, war der Junge verschwunden. Melu blickte hinab auf ihre geschlossene Faust. Sie war ganz bedeckt von schwarzem Ruß. Einige Flocken Asche tanzten in der Luft um sie herum. Sonst war da nur noch die lange, leere Straße, die aus der toten Stadt ins wilde Marschland führte, leise heulende Hunde zur einen Seite, das tiefe Rauschen der Feigenbäume zur anderen, und das Mädchen im Schnittpunkt der beiden Welten. Sie schluchzte, weinte und verfluchte sich selbst, setzte nur zaghaft einen Fuß vor den anderen. Ständig surrten ihr die letzten Worte Oma Shimidas im Kopf herum, während sie die Ruinen hinter sich ließ und in das Marschland vordrang: Wer den wahren Wert kennt, kennt keinen unfairen Tausch.
 
Zuletzt bearbeitet:

Feuertopf

Mitglied
Hallo Isabeau,

vielen Dank für Dein Feedback! Dann muss ich mal schauen was sich da noch herausholen lässt.

Gruß
Feuertopf
 
Hallo Feuertopf,

ich bin immer wieder erstaunt über die Fantasie der Autoren und wie man diese auch noch zu Papier bringt.
Von daher schon mal alle Achtung.

Die Affenkönigin richtete sich nach ihrem Gehör und vernahm die Schreie ihrer Kinder, die von den morschen Balken und klammen Wänden widerhallten. Die Schreie kamen tief aus der Erde.
Wofür brauchst du "richtete sich nach ihrem Gehör"? Das hat ja gar keine weitere Konsequenz im Text.
Ich vermute mal, sie bewegt sich im Dunkeln nach ihrem Gehör, aber davon steht da nix.

immer weiter tastete sich die sorgengeplagte Mutter, bis sie sich im Keller des Hauses fand, einem großen Gewölbe, in das die zahllosen Gänge der Ameisen mündeten.
Wer ist die Mutter? Die Affenkönigin, aus derer Sicht erzählt wird oder jemand anderes?
fand = befand

Am Rand des Raums verlief ein Lichtstreif von der eingestürzten Decke aus zur von Flechten und Ranken bewachsene Wand.
Puh, komplizierter Satzaufbau und grammatikalisch fangwürdig.
bewachsene = bewachsenen

Rand, Raum, Decke, Wand ... Puh! Irritierend.
Wofür brauchst du den Rand des Raumes?
Keep it simple, Vorschlag:
An der mit Flechten und Ranken bewachsenen Wand verlief ein Lichtstreif.

Gehe am besten mal den ganzen Text durch und forsche nach komplizierten Sätzen und grammatikalischen Unfeinheiten. Am besten fallen die auf, wenn du dir den Text selbst laut vorliest.

Das goldene Armband hielt sie in ihrer rechten Hand so fest im Blick wie eine Mutter ihr Kind.
Ich vermute mal eher, wenn ihr Kind ihr so wichtig ist, wird sie es nicht nur im Blick halten, sondern es an der Hand halten. Von daher passt m.E. der Vergleich nicht.

Das Heulen vermehrten sich
vermehrte sich (Singular)

„Wenn es regnet, wachsen die Bäume und nehmen das Feuer in sich auf.“, fuhr Angiras ungerührt fort.
auf", fuhr
„Warum uns jetzt die Köter wegen ein paar Flecken Blut hinterherrennen, wenn das meiste Fleisch woanders ist?“, seufzte Angiras und musterte Melu mit gesenkten Augenlidern. „Ich verpass dir gleich eine, wenn du mich nochmal so anschaust.“
Wer sagt den zweiten Satz? Melu? Wenn ja, wird das wegen des fehlenden Zeilensprungs nicht deutlich.

Das erst mal für den Anfang.

LG, Franklyn Francis
 

Feuertopf

Mitglied
Hallo Franklyn,

vielen Dank für das Lob und das Feedback zum Text! Deine Verbesserungsvorschläge habe ich eingebracht.

Gruß
Feuertopf
 



 
Oben Unten