Der kurzen Rede langer Sinn

2,50 Stern(e) 2 Bewertungen
Ich stamme von so vielen ab - und von mir wird später keiner mal sich herleiten. - Genealogie zu treiben, ist für einen Schwulen eine reizvolle Sache. Er blickt in die Jahrhunderte zurück, sieht die Entwicklungslinien zusammenlaufen, scheinbar alle auf seine Person hinführend. Ist er nicht ihr krönender Abschluss? Schön wär’s.

Mama war es, die früh das genealogische Interesse in mir weckte. Damals fuhren wir oft im Renault, Baujahr ca. 1950, von N. nach K., erst durch die ganze Stadt, hügelauf, hügelab und wieder hinauf und dann vom höchsten Punkt durch einen großen Wald weiter nach Süden. Die Landstraße war kurvenreich, auch sie hob und senkte sich. Eine Lichtung tat sich auf mit einem Gutshof aus alten Zeiten, in ihm ein Hotel mit feinem Restaurant. Wir hielten da nie - im Unterschied zu Marika Rökk, Zarah Leander oder Max Schmeling, die waren alle da gewesen. Mama sagte oft: „Das hat mal Vorfahren von dir gehört, von denen stammst du auch ab …“

Johann Nikolaus M …, geb. 1717, das ist der Früheste, bis zu ihm lässt sich die Abstammung zurückverfolgen. Er war Zimmermann, wechselte erst den Kleinstaat und bald auch den Beruf, wurde Wildaufseher bei einem barocken Fürsten. Mit Erlaubnis des Souveräns baute er sich im Wald ein Haus, rodete rundherum, bewirtschaftete Wiesen und Felder. Die letzte Erbin, meine Ururgrossmutter, verkaufte das Hofgut als Witwe kurz vor 1900. Erst danach wurde, wie ich heute weiß, das stattliche Landhaus an der Straße gebaut, auf das fünfzig Jahre später meine Blicke fallen sollten. Mama, würde ich gern sagen, dieses Haus hat uns nie gehört …

Die letzte M … hatte einen Bauern H … aus K. geehelicht. Die H … waren zweihundert Jahre vorher als Hugenotten aus Nordfrankreich gekommen. In einem Protokoll von 1776 – ein neuer Herzog ließ sich huldigen – sind sie als Einwohner von K. schon zahlreich vertreten. Dagegen fehlen zu meiner Überraschung die S …, deren Namen ich selbst trage und die ich seit den Tagen der fränkischen Landnahme dort ansässig glaubte. Haben sie sich der Huldigung entzogen? Kaum anzunehmen, sie werden erst später zugewandert sein. Aber wann und woher? Das bleibt im Dunkeln. Im Adressbuch der Westpfalz von 1911 finde ich sie dann, darunter auch Papas Onkel Eugen; ich traf ihn noch an, wenn wir damals nach K. fuhren, einen mürrisch-hinfälligen Mann in den Achtzigern. Fuhrmann sei er, sagt das alte Adressbuch. Der Beruf hat sich vererbt, ist mehrfach in der Sippe vertreten, wird zum Fuhrunternehmer, auch beim Holztransport aus den Wäldern. Vielleicht sind die S … wegen der Kaiserstraße nach K. gekommen, Napoleons großer Heer- und Handelsstraße, die direkte Route von Paris in Richtung auf Frankfurt.

Ein Großvater S … hat dann eine Großmutter H … geheiratet. Das also ist das althergebracht-ländliche Milieu von Seiten des Vaters: Bauern, Fuhrleute, kleine Beamte, auch mal ein Lehrer.

Die Gegenbewegung mütterlicherseits hat mit Industrie und Bergbau zu tun. So kamen die Sch…mitten im 19. Jahrhundert von der hessisch-thüringischen Grenze her. Die Erzgruben da waren nur noch wenig ergiebig, Steinkohle die Zukunft damals. Es kamen Vater und Sohn, sie wie ihre Nachkommen wohnten in der Nähe der Zechen, in den kleinen Häusern des Arbeiterbauerndorfs, das allmählich zum städtischen Vorort sich mauserte.

Dagegen siedelte sich Urgroßvater W … dicht beim Eisenwerk in N. an, wohnte mit Frau und zehn Kindern auf der Etage, und obwohl er ein frommer, sittenstrenger Evangelischer schien, hielt sich das Gerücht, er sei konvertierter Jude oder doch von solchen abstammend. Er soll in den 1880ern aus Baden herübergekommen sein, um Hochofenarbeiter zu werden. 1930 starb er. Den Ariernachweis im Dritten Reich zu erbringen, gelang seinen Kindern nicht.

Meine Großeltern mütterlicherseits, das ist die Liaison der Sippen Sch … und W …, sozusagen Kohle und Stahl zusammengeführt … und meine Eltern dann die späte Verbindung von Stadt und Land … und ich auf der Spitze dieser schwankenden Pyramide, wo das Einzelkind sich denkbar unwohl fühlte. Das Individuum war gewissermaßen ein Palimpsest und zu oft überschrieben worden. Welche Mühe, sich so viele historische Widersprüche klarzumachen, sie in seinem Bewusstsein aufzubewahren und sich sagen zu müssen: Du bist die kurze Abschlussrede, enthaltend Sinn wie Unsinn langer alter Zeiten.
 
Zuletzt bearbeitet:

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hm, das klingt irgendwie verbittert. Mich stören auch die vielen abgekürzten Namen, passen nicht zu einer Erzählung. Übrigens können schwule Männer durchaus inzwischen Vater werden.
Also ich verstehe jetzt nicht ganz den Sinn des Textes, wenn auch der Grundgedanke - was bleibt von mir, wer kommt danach - reizvoll ist.

LG Doc
 
Danke, Doc, für die Reaktion. Nun, verbittert bin ich nicht und so sollte es auch nicht vom Leser empfunden werden.

Grundgedanke für den Text ist: Genealogische Forschungen (neuerdings im Internet große Mode) fördern viel sozialgeschichtliches Material zutage. Die Frage ist dann, wie man es einordnet und vor allem auch sich selbst in diesem Geflecht von Daten - Personen, Orten, Berufen. Im vorliegenden Fall endet die Recherche einfach nur mit Ratlosigkeit.

Und wenn wir uns von der Familiengeschichte ab- und der allgemeinen zuwenden - ist es da, wenn wir ehrlich sind, nicht ebenso? Wir wissen ungeheuer viel über die Geschichte, können ihren Sinn aber nicht erkennen oder nur mit Hilfskonstruktionen wie Religion etc. Wie Musil es ausdrückte: unermesslich als Sein, jedoch Gewirr als Sinn.

Die Orts- und Familiennamen sind aus naheliegenden Gründen abgekürzt worden.

Schönen Abendgruß
Arno Abendschön
 

Ilona B

Mitglied
Hallo Arno,
der erste Absatz hat mir gut gefallen und mich neugierig gemacht. Leider folgte dann nur eine Aufzählung einiger Vorfahren. Mich haben die Abkürzungen ebenfalls gestört. Ich würde sie ganz weglassen oder umschreiben. Den letzten Satz fand ich wieder sehr gut. :)
Herzliche Grüsse Ilona
 
Danke, Ilona, für die Reaktion. Ich zeige mich aber jetzt mal ein bisschen störrisch. Der Hauptteil des Textes beschränkt sich eben nicht auf Aufzählung von Namen, er verzeichnet ja auch die Berufe und berührt die Lebensumstände, Kinderzahl, Wohnverhältnisse, Binnenwanderung usw. Er enthält also Material zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Gebietes, von dem hier die Rede ist. Ferner erwähnt er Quellen, die man bei Ahnenforschung benutzen kann, und lässt die Grenzen erkennen, an die man dabei stößt. Auffallen könnte doch auch die ethnische und soziale Mischung, die einen hervorgebracht hat.

Damit ist noch nicht gesagt, dass mein Text gelungen ist bzw. überzeugen müsste. Nur wollte ich mich gegen Kritik wehren, die mir seinen Details nicht gerecht zu werden scheint.

Die Abkürzungen behalte ich bei, da es sich um einen rein autobiographischen Text handelt. Da geht mir Wahrhaftigkeit vor Eleganz des Stils.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
Oben Unten