Der Kuss

kurt leven

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Der Kuss
Ich sitze schweigend am Fenster meines Hauses und schaue hinaus in das Inferno des Unwetters, welches gerade über die trostlose Landschaft hinweg zieht. Mein Blick fällt auf den Garten mit seinem alten Baumbestand, der in einer unnachahmlichen Art zu tanzen scheint, mal sich langsam wiegend, mal dem Rhythmus nachgebend wild und ungestüm.
Der Regen peitscht gegen die Fensterscheiben, kaum sichtbar erscheint zwischen zwei Regengüssen für Momente der riesige Mammutbaum am Rande meines Gartens. Ich habe Angst um ihn in diesem tosenden Sturm, da er dazu neigt, abgedreht zu werden trotz seiner imposanten Größe. Einige meiner selbst geschaffenen Skulpturen schwanken beträchtlich und drohen vom Sturm umgestoßen zu werden.
Im Hintergrund hat meine Frau eine Musik auf den Teller des altehrwürdigen Schallplattenapparates gelegt. Ein leises Plätschern ist zu vernehmen, kaum hörbar inmitten des sich zum Orkan steigernden Getöses außerhalb des Gebäudes. Dieses Plätschern hebt sich wohltuend vom Sturm draußen ab. Es stellt die beiden klaren Quellbäche der Moldau dar. Auf mich wirkt es in diesem Moment angenehm beruhigend. Eine Piccoloflöte und die Querflöten beschreiben die warme, lebhafte und die kalte, ernste Form der Quellflüsschen. Im Einsatz der Streicher vereinigen sich die beiden Bächlein zur Geburt der Moldau.

Ich genoss an jenen Tagen meine blaue Stunde bei einer Tasse Tee. Ich nahm mir die Zeit, eine Stunde nur für mich da zu sein. Nichts konnte meine Ruhe stören. Ich gehörte mir. Keine Hausklingel, kein Handy, kein Fernsehapparat konnte mir diese Zeit nehmen, nichts durfte mich beirren. Meine Gedanken gehörten mir. Das Bild eines Eis- und eines Braunbären kam mir in den Sinn. Der Braunbär fragt: „Was machst Du?“ „Nichts!“ „Das hast Du doch gestern schon gemacht.“ „Bin aber noch nicht fertig geworden.“
Ich war der Eisbär.

Nur heute stört der raue Sturm, und trotzdem hat er in seiner wilden Stärke etwas Majestätisches, Wunderliches, Galaktisches.
Gezupfte Geigen ahmen aufspritzende Wassertropfen im Bach nach, genauso wie Regenschauer die ihre ihnen eigene Melodie beim Schlag gegen die Fensterscheiben spielen. Hinzukommende Celli, Bratschen, Geigen, Kontrabässe mit Triangel, Fagotte und Oboen scheinen aus den kleinen Quellbächen einen Gebirgsbach entspringen zu lassen. Nicht nur draußen regnet es, auch bei mir regnet es wohl tuende Gänsehaut.
Immer wieder, mal forte und mal piano reißt der Sturm das Ohr des Hörers an sich,
so als beanspruche er die volle Aufmerksamkeit und als wolle er mitteilen, welche Macht in seiner Kraft stehe.
Hörner, Trompeten und Posaunen verdeutlichen und begleiten eine Wald- und Jagdszene. Eine Polka führt zu einer fröhlichen Bauernhochzeit. In den leiser werdenden Phasen des heulenden Sturms, in denen er neue Kraft zu holen scheint, ersetzt der stärker agierende Regen die scheinbare nur Sekunden dauernde Ruhe.
In geheimnisvoller Stille, beleuchtet von fahlem Mondschein, tanzen die Nymphen und Nixen und Elfen ihren Reigen über den silbrig glänzenden Wellen. Fast scheint es mir, als sehe ich sie in den Zweigen des sich wiegenden Mammutbaumes.
Der Sturm, pfeifend und wieder aufbrausend wirkt Furcht einflößend, als wolle er den Menschen zeigen, welche Gefahren lauern, wolle man ihm zu entkommen versuchen.
Die Jagd des Sturmes auf die hilflosen Wesen und den Mammutbaum an unserem Haus hat begonnen. Trotzdem bleibe ich ruhig, wohl wissend, dass ich durch die Mauern des Hauses geschützt bin vor den Angriffen der Naturgewalten. Fast heiter verfolge ich die Versuche des Sturms im Angriff auf mein Heim und mich.
Nach weiteren Kilometern erscheint der Fluss lebendig und kraftvoll, gleichzeitig heiterer und quirliger, um anschließend beim Durchfließen einer Schlucht und dem herabstürzenden Wasser in einer Stromschnelle sich als wild und gefährlich, wirbelnd und tobend dar zu stellen, wie es die Blechbläser im Zusammenwirken mit Pauken und Becken in ihrer Gesamtheit vermitteln. Der Sturm scheint an Intensität noch zugenommen zu haben.
Fast drängt sich mir das Gefühl auf, Musik und Sturm seien eine Symbiose eingegangen, so, als habe ein unsichtbarer Dirigent es vermocht, beide in einen gemeinsamen Orchestergraben zu zwingen. Das Auf und Ab der Bläser harmoniert mit dem Johlen des zum Orkans angewachsenen Sturms und bildet eine Einheit der nie enden wollenden Naturkräfte in einem crescendo voller Leidenschaft.
Plötzlich dann ein Schweigen des Getöses um mein Haus. Ist das die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm? Hat sich die Natur verausgabt ob des gerade stattgefunden Spuks? Mitnichten! Oder doch? Leiser werdend hechelt der Sturm mit letzter Kraft weiter um das Gebäude und will mir Leb-Wohl sagen, denke ich.
Aufbrausend und kraftvoll bahnt sich derweil die Moldau ihren weiteren Weg.
In der letzten Phase fließt sie in majestätischer Ruhe weiter nach Prag, strömt unter den Brücken der Stadt dahin, vorbei an der alten Königsburg Vysˇehrad. Majestätisch verlässt der Strom die Stadt und entschwindet in der Ferne, um schließlich in die Elbe einzumünden. Derweil spielt das ganze Orchester, die Musik klingt weit und festlich, immer leiser werdend.
Gerade in diesen Moment der Stille hinein sendet die Natur ihre weiteren Getreuen. Ein greller Blitz, auf den im Abstand nur weniger Sekunden ein gewaltiger Donnerschlag ertönt, dem ich mich mit einem ängstlichen Zucken entziehen kann, erhellt gespenstisch die vor mir liegende Landschaft.
Zwei überraschend laute Schlussakkorde beenden den Lauf der Moldau und deuten die Mündung in die Elbe an. Mir kommt in den Sinn, die Musik habe den Sturm umworben oder war es doch anders herum?
Die beiden Kräfte Musik und Natur sind sich nahe gekommen, eins geworden, in einem Kuss vereint.
 



 
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