Der lange Abschied von uns selbst oder wie wir wurden, was wir sind.

Der lange Abschied von uns selbst oder wie wir wurden, was wir sind.
Von Friedwart Peukert

1 Stuart kommt
1.1 Das Treffen 17.09.2019

Ich rannte über die Autobahn westlich von Berlin, ohne Gepäck, keine Waffen.
Obwohl ich ohne Begleitung unterwegs war, lief ich nicht allein. Eine Horde Wandler war mir auf den Fersen, ich konnte sie deutlich hören und riechen. Ihr warmer, erdiger Geruch, ein wenig nach Harz und frischen Pilzen duftend verfolgte mich ebenso, wie das Stampfen und Schlurfen ihrer Füße. Der Wind stand günstig, ich hatte Rückenwind.
Trotz der Windverhältnisse, dessen war ich mir sicher, würden sie mich erwischen.
Eine endlose Fahrzeugschlange zog auf der Gegenfahrbahn in Richtung Süden. Die Wandler dort wurden durch die schrillen Schreie der Pitcher, die zu meinen Verfolgern gehörten, alarmiert und schnitten mir so den Fluchtweg ab.
Auf meiner Bahn herrschte zwar kein Stau, dafür spannte sich ein circa 2,50 Meter hoher Maschendrahtzaun kilometerweit entlang der Waldseite und versperrte mir die Zuflucht, die der Wald versprach.
Ein Parkplatz tauchte auf, doch auch dort gab es Wandler, allerdings nur wenige.
Die Pitcher kündigten ihnen mein Kommen an und die Wandler bewegten sich zur Fahrbahn. Nur mit einem beherzten Zwischenspurt entkam ich der Meute.
Das Rudel hinter mir rückte näher, ich hörte die Pitcher lauter und deutlicher. Nicht, dass sie an Speed zulegten, das kräftezehrende Fluchttempo zwang mich, die Geschwindigkeit kontinuierlich zu reduzieren. Mein Körper war ein einziger, brennender Schmerz, die Muskeln krampften und die Luft in der Lunge brannte.
Links von mir rauschte es kaum vernehmbar und eine Stimme erkundigte sich: "Taxi gefällig?"
Irritiert warf ich einen Blick in die Richtung, ohne mein Tempo zu verlangsamen. Eine Frau streckte mir ihre Hand aus einer offenen Seitentür zu. Woher kam die Fremde und das Gefährt auftauchten, erschloss sich mir nicht.
Sie warf einen Blick auf das Rudel, das mich verfolgte, und sagte: "Wenn Sie weiter leben wollen, greifen Sie zu."
Ich griff zu und sie zog mich in den Kleinbus. Ihre Kraft war beeindruckend. Ich schlug auf dem Boden des Autos auf und es beschleunigte ohne jedes Geräusch.
Die wütenden Schreie der Pitcher verfolgten uns und das Rudel fiel langsam zurück, um schließlich zu verschwinden. Die Seitentür blieb offen, ein Luftzug wehte durch das Fahrzeug. Schwer atmend, schwitzend und stinkend schaute ich mich um.
Ich lag in einem Nissan eEvalia, einem elektrischen Lieferwagen. Drei Frauen saßen im hinteren Teil, eine vierte vorne neben dem Fahrer. Alle trugen Gesichtstarnung, Uniformen und Sturmgewehre.
Niemand sprach, aber meine Retterin und ihre beiden Begleiterinnen betrachteten mich wachsam. Ich dankte ihr auf Englisch.
Ihre linke Augenbraue hob sich und sie fragte, ob ich Amerikaner sei, was ich verneinte. Ich fügte hinzu, dass ich ursprünglich aus England stamme. Nochmals dankte ich ihr.
Ein spöttisches Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Dafür nicht!“ Lautete ihre Erwiderung.
Meine Nase fing an zu triefen. Ich versuchte, ein Taschentuch aus der zu Hosentasche holen. Unvermittelt blickte ich in die Mündungen dreier Sturmgewehre.
Was zur Hölle ich da vorhätte, wollte meine Retterin von mir wissen. Sie sprach unaufgeregt und dennoch äußerst bestimmend.
Meine Antwort, dass ich ein Taschentuch benötigte, um nicht noch erbärmlicher zu wirken, erheiterte sie.
Ein fast nicht wahrnehmbares Lächeln glitt für eine Millisekunde um ihre Mundwinkel, viel freundlicher als ihr erstes Schmunzeln. Ähnlich kurz und doch so anders.
Sie erlaubte mir, das Sacktuch herauszuholen. Nebenbei wies sie darauf hin, dass sie kein Problem damit hätte, mir eine Kugel zwischen die Augen zu setzen, sollte ich etwas anderes aus der Tasche holen als ein Schnäuztuch.
Nachdem ich das Taschentuch herausgezogen hatte, entspannten sich die Damen wieder.
Ich lehnte den Kopf an den Fahrersitz und ließ den Blick über das Land schweifen. Wucherndes Gras, Bäume und Büsche geschmückt mit den ersten, bunten Blättern des Jahres. Städte und Dörfer, die still dalagen und wohl niemals mehr voller Leben pulsieren würden. Straßen, die bald nie wieder ein Auto sehen würden.
Die fünf Fremden retteten an diesem Tag nicht nur mich, sondern ebenso meine Frau Victoria. Ich war damals und bin heute der einzige Mensch, der sich noch an sie, an ihre Schönheit und ihren Intellekt erinnert. Der Letzte, der sie trotz der vielen Jahre noch immer vermisst.
Erstmals seit Monaten befand ich mich nicht mehr in Todesgefahr und in Gedanken kehrte ich zu meiner Frau Victoria zurück. Sie starb auf unserem Weg nach Berlin, getötet von den Wandlern, verblutet in meinen Armen. Mir kamen die Tränen.
Die Frau, die mich in den Wagen gezogen hatte, legte ihre Hand auf meine Schulter und sagte leise zu mir: „Alles, was war, wird niemals zurückkommen. Du kannst es nur akzeptieren.“
Ich nickte, griff ihre Hand, drückte sie und registrierte verblüfft, dass sie meine Hand festhielt und erst wieder losließ, als sie den Wagen verlassen musste.
Damals sah ich nur Dunkelheit und Verzweiflung.


1.2 Karlsson 17.09.2019

Ein gutes Stück vor uns versperrten ausgebrannte Fahrzeuge die Fahrbahn. Das erklärte den fehlenden Stau auf dieser Seite. Vor der Karambolage erreichten wir ein Tor im Zaun, das die Beifahrerin mit einer Brechstange öffnete.
Die Frauen, die bei mir saßen, sprangen aus dem Van und sicherten uns. Sie nutzen die Leitplanke und den Wagen als Deckung, zwei lagen flach auf dem Asphalt, eine kauerte hinter der Leitplanke und beobachtete die überwucherten Felder auf der anderen Seite des Zauns. Der Fahrer lenkte den Wagen auf einen Feldweg.
Wir fuhren über Land, auf schmalen Straßen, durch Dörfer und an Gehöften vorbei. Es dauerte eine Weile, bis wir einen mächtigen Gutshof erreichten. Auf dem Dach des Hauptgebäudes lagen großflächig Solarmodule.
Die Zufahrt versperrten ein Traktor und eine Drahtsperre. Ein Soldat schlenderte zum Fahrzeug, sein Gewehr locker in der Hand. Nach einem kurzen Wortwechsel öffnete sich der Stacheldraht und unser Van rollte auf den Hof.
In den vergangenen Wochen hatte ich gelernt, mich von Menschen mit Waffen fernzuhalten. Damals bedeuteten Waffen nichts Gutes.
Auf diesem Hof führten alle Waffen mit sich, was mein Alarmlevel deutlich ansteigen ließ. Und sie trugen Uniform. Das ganze Setting wirkte offiziell. Meine Furcht sank etwas, vielleicht hatte ich Glück gehabt und eine Patrouille der Bundeswehr hatte mich gerettet?
Zwei Lieferwagen hingen an einer Ladestation für e-Fahrzeuge, montiert auf einen PKW-Anhänger. Mich überraschte, dass die deutsche Armee über einen so umfangreichen E-Fuhrpark verfügte. Sogar die Ladesäule war passend lackiert. In einer Scheune parkten Militärlastwagen mit einheitlichem Tarnmuster.
Die Frau ließ meine Hand los, klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Welcome home.“
Sie stieg aus. Ein Mann stand mit zwei Frauen im Gespräch im Hof. Meine Retterin zischte: „Karlsson, du Bastard“ und eilte zielstrebig zu ihm.
„Ohoh“, meinte unserer Fahrer und ich warf ihm einen fragenden Blick zu.
Seine Kameradin erreichte ihren Mitstreiter, packte ihn bei der Feldjacke, schüttelte ihn wie einen Welpen und fauchte etwas, was ich nicht verstand. Klappernd fiel dem Mann sein Sturmgewehr aus der Hand, das erste, laute Geräusch seit unserer Ankunft. Ebenso plötzlich, wie sie begonnen hatte, ihn zu schütteln, zog sie ihn in eine feste, enge Umarmung, die der Mann erwiderte.
„Was hat er getan“, erkundigte ich mich.
„Er wurde gestern von seiner Gruppe getrennt und ist erst heute hier im Safepoint aufgetaucht. Sie ist vor Sorge um ihn fast durchgedreht. Isabell hasst es, wenn ein Mitglied der Herde verloren geht. Sie muss im vorigen Leben ein Schäferhund gewesen sein.“
Ich fand es interessant, wie sich ihre Sorge ausdrückte, aber auch einschüchternd.
Meine Anspannung ließ nach und ich erholte mich etwas. Von der Einfahrt rollten zwei weitere E-Fahrzeuge an uns vorbei, völlig geräuschlos, nur die Reifen knirschten auf dem unebenen Boden. Die Leute in den Autos schienen mir sehr jung für Soldaten zu sein. Sie winkten freundlich, während sie an uns vorbeischwebten.
Die absolute Lautlosigkeit irritierte mich. Auf dem Hof befanden sich viele Menschen, Fahrzeuge, es herrschte ein geschäftiges Treiben.
Obwohl ich die letzten Wochen in völliger Stille verbracht hatte, fiel mir das Fehlen von Geräuschen an diesem Ort auf. Bei einer derartigen Ansammlung von Menschen und Fahrzeugen hätte ich eine deutlich höhere Geräuschkulisse erwartet, Motoren die brummen, Rufe, laute Unterhaltungen. Doch nichts dergleichen gab es hier.
Meine Aufmerksamkeit kehrte zurück zu dem Paar einige Meter entfernt von mir. Die Umarmung endete, die Frau stieß ihren Freund von sich und wandte sich uns zu. Kopfschüttelnd hob ihr Kamerad seine Waffe aus dem Staub des Hofes auf und schloss sich meiner Retterin an.
Er trat näher und reichte mir die Hand. Ein Mann mittlerer Größe, durchtrainiert, stoppelige, dunkelblonde Haare, braun gebrannt und Lachfalten um die Augen. Um den Mund jedoch jene tiefen Furchen, die Sorgen und Stress widerspiegeln, eingerahmt von einem 3+ Tagebart.
Ich ergriff seine Hand und empfing einen männermordenden Händedruck. Die anderen der Gruppe umarmten ihn, sie schienen alle erleichtert über seine Rückkehr.
Die Frau sagte: „Wir haben etwas mitgebracht, nicht das, was wir planten, aber immerhin.“ An mich gewandt, stellte sie sich vor: „Mein Name ist Isabell Werninger, der Mann hier ist Karlsson Bildt, der Fahrer unserer Combo ist Reinhard Kern, die Frau mit der Brechstange heißt Marie Unsold, meine beiden Sidekicks sind Alice Jenner und Milena Heilmann.“
Karlsson musterte mich lange und nachdenklich.
„Ohne Gepäck, keine Waffen?“
„Mein Messer steckte im Backpack, aber das habe ich auf der Autobahn verloren. Bei der Flucht vor den Wandlern.“
Irgendwie fühlte es sich merkwürdig an, nach so vielen Wochen wieder unter freiem Himmel zu stehen und mit Menschen zu reden.
„Du hattest ein Messer im Rucksack?“ Karlsson warf mir einen mitleidigen Blick zu.
Das Mädchen, das Isabell als Milena vorgestellt hatte, erkundigte sich, wie lange ich schon alleine unterwegs war.
„Das kommt darauf an, welches Datum heute ist. Ich habe ein wenig die Kontrolle über die Zeit verloren.“
Nach einem Blick auf sein Smartphone antwortete Karlsson: „17.09.2019.“
Er bemerkte meinen konsternierten Gesichtsausdruck beim Anblick des iPhones und erläuterte: „Ja, wir nutzen noch Mobiltelefone allerdings nicht mehr vollumfänglich. Das Internet macht seit einigen Monaten Probleme und die internationalen Anrufe sind selten geworden.“
„Ihr könnt noch weltweit telefonieren?“
Die Blicke, die ich mit diesem Statement erntete, beantworteten die Frage.
„Oh, okay, das war Humor, Entschuldigung, das hatte ich hier nicht erwartet. Mein Name ist Stuart Penbaker. Ich bin britscher Journalist.“
Reinhard Kern schüttelte den Kopf und brummte: „Die Briten, stets auf der Suche nach kontinentalen Freunden.“
Milena schaute mich fragend an und während ich die Zeit seit Victorias Tod überschlug. Geschockt stellte ich fest, dass ihr Tod bereits zwei Monate zurücklag, was ich dem Mädchen mitteilte.
Isabell wandte sich an Karlsson und erklärte ihm, wie sie mich gefunden hatten.
„Stuart rannte an dem Stützpunkt vorbei, den wir aufklärten. Leider war jemand vor uns da, ein zweiter Besuch lohnt sich nicht. Wir hielten uns im hinteren Teil der Basis auf, wollten eigentlich gerade den Rückzug antreten, als wir die Pitcher hörten. Die Wandler, die sich vorne am Parkplatz aufhielten, liefen zur Autobahn hin und gaben so den Blick frei zur Straße. Da sahen wir Stuart rennen eine ganze Rotte von Wandlern auf den Fersen. Stuart war so gut wie tot. Er lief schnell, aber machen wir uns nichts vor, in dem Abschnitt gibt es nicht viele Möglichkeiten, eine Horde Wandler abzuhängen. Ich schätzte unser Risiko als beherrschbar ein und der Rest der Crew stimmte zu, ihn zu retten. Wir haben den Pulk abgewartet und sind dann von hinten kommend an dem Rudel vorbei und haben ihn eingesammelt. Er war clever genug, einzusteigen und keine Dummheiten zu begehen.“
Mit dem Ende ihrer Erzählung erhielt ich die Möglichkeit meinerseits Fragen an Isabell und Karlsson zu stellen: „Seit ihr eine Einheit der Bundeswehr?“
Kopfschüttelnd verneinte Karlsson: „Nicht wirklich.“
„Was seit ihr dann, eine Art Miliz?“
Die beiden wirkten überrascht von dieser Annahme, letztlich bestätigte er: „Trifft in etwa den Kern.“
„Und wieso ist es hier so still, das ist eher ungewöhnlich für eine Miliz?“
„Wir haben schnell gelernt, dass Lärm Aufmerksamkeit nach sich zieht. Egal ob von Wandlern oder anderen Überlebenden. Von daher bemühen wir uns, unseren Lärmpegel so gering wie möglich zu halten. Wir kommunizieren überwiegend elektronisch per Messenger und nutzen wo immer möglich E-Fahrzeuge. Was man nicht hört oder sieht, kann man nicht bekämpfen. Reduziert den Stresslevel deutlich.“
Damit endete die Fragerunde und Karlsson wandte sich an Isabell. Er verriet meiner Retterin, dass er ebenfalls jemanden mitgebracht hatte. Grinsend stellte er fest, dass wir überrascht sein würden und führte uns zum Hauptgebäude. Seine Arme hatte er um Alice und Milena gelegt, Reinhard Kern und Marie folgten, den Schluss bildeten Isabell und ich, die sich bei mir untergehakt hatte.
Während wir zum Haupthaus liefen, analysierte ich die fremde Gruppe. Für eine Miliz wirkten sie verhältnismäßig zivil. Überwiegend junge Leute, sehr viele Frauen was ich als deutlich beruhigend wahrnahm. Sie trugen Waffen und Uniformen aber keine Rang- oder Verbandsabzeichen. In straff geführten Milizen ist es eher ungewöhnlich, den Anführer zu umarmen. Sie wirkten auf mich wie zivilisierte Menschen, die wussten, was sie taten. Beim Betreten des Haupthauses fiel mir auf, dass alle die Magazine aus ihren Waffen nahmen. Auch die Patronen in den Gewehren wurden ausgeworfen und wieder in die jeweiligen Magazine eingeführt. Wir betraten die Küche.
Eine junge Frau in einem braunen Overall, mit einem Tuch auf ihren Haaren, stand am Fenster, ihr Blick ging nach draußen über die verwilderten Felder. Zwei Soldatinnen leisteten ihr Gesellschaft, lösten sich bei unserem Eintreten von ihr und wandten sich uns zu. Sie begrüßten die Ankommenden herzlich, auch mich empfingen sie freundlich.
Karlsson trat neben die Person am Fenster. Er fragte die Frau, ob sie bereit sei für die letzte Gruppe des Tages und sie nickte, drehte sich um und ich fühlte, wie eine eisige Panik in mir aufstieg. Zurückweichend starrte ich auf dieses „Ding“, halb Mensch, halb Wandler. Mein Fluchtreflex übernahm und ich rannte nach draußen.


2 Die Tagebücher von Karlsson Bildt – Wie alles begann
2.1 Spuren 03.02.2019

Du bist tot, gestorben vor drei Wochen. Am 11.01.2019 fuhrst Du einkaufen, ohne zurückzukommen. Ein Lastwagen, 40 Tonnen, beladen mit Stahl für eine Baustelle. Dann eine Kurve, Schneeglätte und nichts ist mehr, wie Sekunden zuvor. Ein normaler Tag, und unsere Zukunft kam zu einem abrupten Ende.
Heute, fast einen Monat später bin ich zum ersten Mal alleine. Mein Bruder ist nach Paris zurückgereist. Er musste wieder zur Arbeit. Es hat mich gewundert, dass er überhaupt kam, da unser Verhältnis nicht eng ist. Die zehn Jahre Altersunterschied scheinen selbst jetzt unüberbrückbar. Wie unterschiedlich Roman und ich sind, habe ich gesehen, als er nach Deinem Tod zu mir kam.
Er öffnete sämtliche Fenster und Türen im Haus, wollte Deiner Seele die Chance geben, zu gehen.
Ich stelle bis heute jeden Abend eine Kerze für Dich ins Küchenfenster, damit Deine Seele den Weg nach Hause findet.
Ich kann noch nicht einmal sagen, dass mich sein Kommen freute. Dennoch schätze ich die Geste, dass er die Zeit investierte, und versuchte ein guter, großer Bruder zu sein.
Zum Abschied gab er mir den Rat zu schreiben. Er meinte, Deine Spuren werden verwehen, anfangs unmerklich, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie weg sind. Schriftlich festhalten, wie Du warst, was Du gesagt, geliebt oder gehasst hast, würde eine Entlastung sein. Aufgeschriebene Erinnerungen sind dem Vergessen entrissen. Ich muss mich nicht daran erinnern.
Ich glaub nicht, dass ich das brauche, da ich weiß, wie Du warst. Dich zu vergessen, ist unvorstellbar. Wie sollte das möglich sein? Alles hier atmet Deinen Geist, immer wieder überfällt mich Dein Duft. Gelegentlich meine ich, noch einen Blick auf Dich zu erhaschen.
Solange Du bei mir warst, haben du und ich lange und oft gesprochen. Es gab eine Menge zu lachen zwischen uns, jetzt ist es sehr still geworden in den Trümmern eines einstmals guten und glücklichen Lebens, in unserem Haus.
Da Du nicht mehr bei mir bist, schreibe ich Dir, erzähle, was geschieht, jetzt, wo Du weg bist. Auf diese Art nimmst Du noch teil an dem, was weiter kommt.
Roman meinte es zwar anders, aber das ist egal. Vielleicht hilft es trotzdem, Dich noch etwas bei mir zu behalten.


2.2 Geiselnahme 18. März 2019

Heute, eigentlich gestern, hatte ich ein surrealistisches Erlebnis. Normalerweise hätte ich am Mittwoch arbeiten müssen, aber ich konnte nicht. Stattdessen verbrachte ich den Tag im Wald hinter unserem Haus. Ziellos wanderte ich durch den Forst, bis ich an Deinem Grab stand. Ich vermisse Dich so sehr. Irgendwann gegen Abend entschloss ich mich, zu Ricardo zu gehen.
Dort zu sein, wo wir glückliche Zeiten erlebten, macht es nicht leichter, dennoch fällt mir das Atmen bei ihm nicht ganz so schwer. Durchgefroren empfand ich das Bedürfnis, allein unter Menschen zu sein.
Bei Ricardo bestellte ich eine Cassata und einen Cappuccino, größeren Appetit verspürte ich nicht.
Seit Deinem Tod bin ich selten in „Ricks Trattoria“. Wenn ich auftauche, lässt mich der Maître nicht mehr weg, denn er meint ich esse zu wenig und sehe schlecht aus. So auch diesmal.
Unser Freund platzierte mich abseits an einem Tisch in einer kleinen Nische. Er murmelte etwas von einer Familienfeier und schien nicht sonderlich gut drauf zu sein.
Ich konnte seine Stimmung verstehen, die Gäste wirkten komisch, neureich. Um Sympathieträger handelte es sich eindeutig nicht. Ich war traurig, dass Du nicht dabei warst. Du hättest Ricardo sicherlich mit Deiner scharfen Beobachtungsgabe und den Dir eigenen, spitzen Bemerkungen aufgeheitert.
Meine Bestellung kam, ich hatte das iPad auf dem Tisch, blätterte durch die Bilder unseres Lebens. Dabei versuchte ich, mir vorzustellen, wie neue Aufnahmen ohne Dich aussehen. Es gelang mir nicht.
Plötzlich verstummte das Lokal. Sogar die Musik-Combo hörte auf zu spielen.
Aufblickend entdeckte ich vier Männer, mitten in der Gaststube, drei davon trugen automatische Waffen. Wärst Du bei mir gewesen, wäre ich aus Angst um Dich gestorben. Da ich alleine war, blieb ich merkwürdig distanziert. Die Szene betrachtete ich wie aus weiter Ferne. Nichts was dort geschah, schien mich zu berühren.
Dennoch empfand ich die Situation als irritierend. Es ist das 21. Jahrhundert und wir sind in Deutschland. Da marschieren nicht irgendwelche Herrschaften mit Maschinenpistolen oder Sturmgewehren in Restaurants.
Der Mann, der keine sichtbare Waffe trug, begrüßte den Gastgeber fast schon überschwänglich. Höflich äußerte er sein Bedauern, die Geburtstagsfeier zu stören.
Der Angesprochene erwiderte den Gruß, allerdings nicht ganz so enthusiastisch wie der Mann mit Hut. Er sprach ihn mit „Baron von Austerlitz“ an und erkundigte sich, ob der Herr Baron plane, einen Krieg anzuzetteln.
Die Ansprache fand ich merkwürdig, vom Dialekt her klang der Fremde eher wie ein Österreicher, nicht wie ein Tscheche. Außerdem haben die Tschechen noch Adlige?
Der Angesprochene lachte. Irgendwie erschien er sympathisch in seinem tadellos sitzenden Zweireiher. Nicht einmal der Hut, den er trug, wirkte übertrieben. Dabei bin ich, wie Du weißt, kein Freund von Hüten.
Der österreichische Tscheche erwiderte, dass er diese Auseinandersetzung nicht gewollt beziehungsweise angefangen hatte. Da der Onkel des Geburtstagskindes nun Mal den ersten Schuss abgefeuert habe, wolle er den Krieg gewinnen.
Einer der Bewaffneten forderte eine Frau mit zwei kleinen Mädchen auf, ihm in Ric´s Separee zu folgen.
Der Baron erläuterte fürsorglich, dass es hier gleich zu unschönen Szenen kommen würde, da wollte er die Kinder nicht dabei haben.
Ich fragte mich, wie hässlich der Vorgang wohl werden würde bei all den ausgetauschten Freundlichkeiten. Dennoch empfand seine Fürsorge den Kindern gegenüber als zuvorkommend. Da im Separee die Fenster vergittert sind, ist eine Flucht unmöglich. Ich hörte, wie der Gangster die Gardinen vorzog. Danach kehrte er in den Gastraum zurück und nickte seinem Boss zu.
Mit der Rückkehr des Mannes nahm der Baron das Gespräch wieder auf. In einem umgänglichen Plauderton erläuterte er bedauernd, dass der Jubilar keinen weiteren Geburtstag mehr feiern könne.
In den nächsten Sekunden starben ein Gast und der Gastgeber. Ersterer versuchte, eine Waffe zu ziehen. Eine lausige Idee bei einem Verhältnis von drei zu eins.
Einige der Besucher wollten fliehen, andere suchten Schutz unter den Tischen und manche blieben, schreckensstarr, einfach sitzen. Letztere starrten verständnislos auf die Szene. Die Angreifer unterbanden die Fluchtversuche, ohne, dass weitere Menschen zu Schaden kamen.
Baron von Austerlitz bat, nachdem die Schreie verebbten und die Sterbenden endgültig verstummten, um die Aufmerksamkeit der Gäste. Mit derselben gespenstischen Freundlichkeit wie zuvor ersuchte er die Anwesenden, ruhig zu bleiben. So wie er es darstellte, plante er, zu diesem Zeitpunkt, nicht mit weiteren Toten. Somit lag, nach seiner professionellen Einschätzung, kein Grund vor, aufgeregt zu sein. Der Baron forderte die Gäste des Verstorbenen auf, ihre Taschen zu leeren und sich vor die Fenster und die beiden Türen zu stellen. Dort, so lautete die Anweisung, hatten sie die Arme hinter den Köpfen zu verschränken. Sein Dialekt brandmarkte ihn geradezu als Österreicher.
Einer der Mörder begab sich zu der Leiche des Jubilars, entnahm das Smartphone des Toten aus der inneren Jackentasche. Eine kleine, braune Lederaktentasche neben dem Stuhl ergriff der Mann ebenfalls. Beides übergab er dem Baron.
Fairerweise muss ich feststellen, dass der jüngst Verstorbene für diese Dinge in der Tat keine weitere Verwendung mehr hatte. Dennoch empfand ich die Plünderung einer noch blutenden Leiche pietätlos.
Beachtlich fand ich, was bei der Durchsuchung der übrigen Gäste zu Tage gefördert wurde. Insgesamt drei Revolver und zwei Pistolen wurden auf einen der Tische gelegt. Die Waffen verstaute einer der Männer in einem separaten Koffer.
Ich saß abseits der ganzen Szene und hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Beachtung gefunden. Wie Du dir sicherlich vorstellen kannst, hätte ich diesen Zustand gerne konserviert, was aber nicht gelang.
Da mir bislang niemand Aufmerksamkeit schenkte, widmete ich mich wieder der Cassata. Ich versuche, mir vorzustellen, was Du zu diesem Verhalten sagen würdest. Wie ich so dasitze, in unserem Restaurant, den Pulvergeruch der Maschinenpistolen in der Nase, esse Cassata, trinke Cappuccino und unweit von mir liegen zwei Leichen.
Du fändest mein Benehmen vermutlich extrem irritierend, geht mir ebenso. Ich hoffe, Du verstehst, was ich anfangs mit „surrealistisch“ meinte.
Etwas anderes empfand ich noch bemerkenswerter. Ich wollte nicht sterben. Die letzten Wochen seit deinem Tod kommen mir rückblickend vor, als ob ich dem Tod selbst sehr nahekam. Dort, in unserem Restaurant, mit einer geradezu körperlichen Präsenz des Todes, verspürte ich keinen Drang, ihm zu folgen beziehungsweise um seine Aufmerksamkeit zu buhlen. Am irritierendsten fand ich den Gedanken, dass mit meinem Tod niemand mehr da ist, der dich vermisst.
Schließlich wandte der Baron mir sein Augenmerk zu, sprach mich mit „gnädiger Herr“ an, verlangte höflich, dass ich mich zu den anderen stelle.
Abermals fiel mir die überbordende Freundlichkeit des Mannes auf. Ich lenkte mein Interesse vom frostigen Dessert zum Geiselnehmer. Nach einem Schluck Cappuccino erwiderte ich, dass die Türen und Fenster besetzt wären und ich nicht davon ausging, dort eine große Hilfe zu sein. Ich verwies darauf, dass es sich hier augenscheinlich um eine österreichisch-italienische, eventuell auch um eine tschechisch-italienische Angelegenheit handle. Da ich die Damen und Herren nicht kannte und, zum jetzigen Zeitpunkt, nicht die Lust nach deren Bekanntschaft verspürte, äußerte ich Wunsch, bei meinem Gedeck zu bleiben.
Der Baron zeigte Verständnis für die Bedenken, bestand jedoch auf der geäußerten Bitte. Der kleine Disput tat seiner Freundlichkeit keinen Abbruch.
Ein Mann mit einer AK 47 trat neben den Anführer, erkundigte sich, ob es Probleme gibt.
Der Baron schüttelte den Kopf, meinte vermutlich nicht, musterte mich, ergänzte ein „oder“. Mittlerweile hielt der Mann ebenfalls eine Pistole in seiner Hand. In dem Moment wirkte er wesentlich weniger freundlich als noch Augenblicke zuvor. Dem Aussehen nach schätzte ich, dass es sich um eine 45er handelte. Eine beeindruckende Waffe, insbesondere wenn man am gebenden Ende sitzt und die Mündung auf das eigene Herz zielt.
Schnell, ohne hastig zu wirken, versicherte ich, dass alles in bester Ordnung wäre. Allerdings wollte ich gerne noch meine Cassata und den Cappuccino zu mir nehmen. Da die Nacht lange zu werden drohte, bot ich dem Gast aus dem Süden an, ihn zu einer Portion einzuladen.
In diesem Augenblick schien sein Gesicht völlig nichtssagend. Der Mann musterte mich ohne jede Regung.
Es heißt, bei einem Stirnrunzeln benötigt man 40 Muskeln, beim Lächeln nur 17. So wie bei dem Chef der Geiselnehmer bewegte sich auch bei mir im Gesicht nicht ein Muskel. Ich fixierte den Baron von Austerlitz genauso ausdruckslos wie er mich. Dass es bei mir totale Erschöpfung und keine Abgebrühtheit war, musste ich dem Fremden ja nicht sagen.
Unerwartet zog ein Strahlen über sein Antlitz. Es nahm seien Ausgang in den Augen des Mannes, er warf den Kopf zurück und lachte ein unglaublich sympathisches Lachen.
Sieht man davon ab, dass er ein Mörder ist, glaube ich, Du hättest ihn ebenfalls gemocht.
Mit der freien Hand zog er sich einen Stuhl heran, legte die Waffe auf dem Tisch ab. Gesichtsausdruck und Blick veränderten sich innerhalb von Sekunden völlig. Er gab zu, dass er damit nicht gerechnet hatte, eine Einladung zu Kaffee und Eis zu erhalten. Er äußerte die Vermutung, dass einem so etwas nur in Berlin widerfährt.
Ob es sich dabei um ein Kompliment für die Stadt handelte, lasse ich mal dahingestellt.
Mit einem Blick streifte ich die Pistole des Mannes. Mein Gegenüber bemerkte es, musterte mich tiefschürfend und erkundigte sich, dass ich doch wohl keine Dummheiten planen würde. Fürsorglich fragte der Baron, ob ich überhaupt mit einer Schusswaffe umzugehen in der Lage sei.
Die erste Frage vermochte ich leicht zu verneinen, die zweite musste ich bejahen. Ich wies ihn darauf hin, dass dieser Krieg nicht mein Krieg sei. Auch wenn ich grundsätzlich mit einer Waffe umgehen könne, fuhr ich fort, erreichte ich doch die Virtuosität seiner Männer beim Umgang mit Schusswaffen bei weitem nicht. Ich winke Ricardo und bestellte zwei Cappuccino mit Cassata.
Während wir auf die Bestellung warteten, fragte mich mein Gast, ob ich keine Angst vor dem Tod verspürte.
Mit der Erwiderung ließ ich mir Zeit. Was sollte ich einem Fremden, noch dazu einem Verbrecher antworten? Dass ich weiterleben musste, da, sterbe ich, Du endgültig tot bist? Dass ich trotz meiner Verzweiflung so müde und erschöpft von den vergangenen Wochen bin, dass es mir letztlich egal ist? Dass verlasse ich diese Welt, wenigstens eine minimale Chance besteht, Dich wieder zu sehen? Sind das Dinge, die einen Gangster etwas angehen? Sicherlich nicht. Dennoch antwortete ich meinem Gast genau so. Ich erzählte ihm von Deinem Tod Anfang des Jahres und wie ich den Tag heute, statt auf Arbeit im Wald und auf dem Friedhof zubrachte.
Der Baron musterte mich abermals lange mit einem völlig ausdruckslosen Gesicht. Die Vermutung liegt nahe, dass er mit einer solchen Antwort ebenfalls nicht rechnete.
Ricardo hatte mittlerweile schnell und unauffällig unsere Bestellung gebracht. Mein Gast genehmigte sich einen Schluck vom Cappuccino, probierte das Eis und meinte dann, offensichtlich überrascht: „Ich gebe Ihnen nicht gerne Recht, aber sowohl der Cappuccino als auch die Cassata ist hervorragend.“
Daran schloss sich die Frage an, ob ich etwas bereuen würde, sollte ich heute sterbe.
In diesem Moment beschlich mich das Gefühl, dass Verbrecher merkwürdige Menschen sind. Wir saßen hier, in einem exzellenten Restaurant, genossen Eis und Café, unweit von uns lagen zwei Leichen die langsam ausbluteten. Beiläufig fragte ich mich, wie Ricardo das Blut zwischen seinen frisch abgezogenen Eichendielen heraus bekommen wollte. Die Spritzer an der dunklen Holztäfelung schätzte ich nicht als problematisch ein. Da es sich bei der Reinigung dieser Sauerei nicht um ein Problem handelte, für dessen Lösung ich zuständig sein würde, kehrte ich gedanklich zu der Frage des Barons zurück.
Verwundert stellte ich fest, dass der Haupttäter mit mir philosophieren wollte.
Andererseits warum nicht? Da ich nicht davon ausging, dass der Abend besser werden würde, entschloss ich mich, das Angebot anzunehmen.
Mit Ende der Denkpause erläuterte ich dem Baron, dass ich, auch wenn das für ihn vielleicht überraschend klingen mag, nichts in meinem bisherigen Leben bereue. Erhielte ich die Chance, dieses Leben nochmals zu führen, kein Detail wollte ich ändern.
Du stelltest selbst einmal fest, dass es ein Wunder ist, dass ich wurde, wie ich bin, wenn man um meine Kindheit weiß. Nachdem Du meinen Vater kennen lerntest, hast Du den Kontakt mit ihm vermieden, wo immer möglich. Meine Mutter lerntest Du ja nie kennen, vermisst hast Du nichts, so sagtest Du es zumindest einmal zu mir.
Was wäre gewesen, wenn ich eine normale Kindheit gehabt hätte? Hätten wir uns dennoch geliebt? Obwohl ein Leben ohne Dich unvorstellbar ist, wusste ich doch keine Antwort auf diese Frage.
Da Du mir dazu nichts mehr sagen wirst, übernahm der Baron den Part. Er widmete sich seinem Eis, bemerkte mit einem kurzen Blick zu mir, dass es da niemals Gewissheit geben wird.
Ein Lächeln kräuselte mir die Lippen, denn es gab bzw. gibt eine Sache, die empfände ich, im Falle eines vorzeitigen Ablebens, trotz allem als äußerst betrüblich. Den Gedanken äußernd, genoss ich die ganze Aufmerksamkeit meines merkwürdigen Gastes. Er blickte zu mir, den Kopf leicht schräg gelegt.
Ich erzählte ihm von der Flasche 35-jährigen Duncan Taylor Whisky, den Du mir zu Weihnachten schenktest. Diesen nicht wenigstens probiert zu haben, würde mich schwer treffen.
Überraschenderweise äußerte er Verständnis für meine Sorge, bestätigte, dass Duncan Taylor ein ausgezeichnetes Destillat abfüllt. Er verwies allerdings darauf, dass er selbst seit geraumer Zeit japanische Whiskys bevorzuge. Die Yamazaki-Brennerei aus der Nähe von Kyoto schlägt, nach Meinung des Barons, mittlerweile die etablierten Destillerien aus Schottland um Längen. Lächelnd bat er mich, diesen Umstand nicht weiter zu erwähnen, insbesondere nicht gegenüber der Polizei oder der Presse. Das würde ihn in nicht unerhebliche Schwierigkeiten mit seinen britischen Geschäftspartnern bringen. Anschließend folgte eine ausführliche Geschichte über seine Zusammenarbeit mit den Yakuza. An die Details erinnere ich mich nicht mehr, aber ich empfand die Erzählung äußerst unterhaltsam – und sehr blutig.
Draußen nahmen die Dinge währenddessen ihren Lauf. Die Polizei rollte an, SEK / MEK bezogen Stellung und irgendwann kam ein Anruf im Restaurant. Der Verhandlungsführer verlangte, den Chefgeiselnehmer zu sprechen. Einer seiner Schergen rief den Baron zum Telefon. Da Cassata und Cappuccino mittlerweile aufgegessen bzw. leer getrunken waren, verabschiedete sich der Österreicher.
Bevor er ging, fragte ich nach den Wurzeln seiner Familie. Der Mann schien überrascht, dass ich noch nie von ihm gehört hatte.
Freundlicherweise klärte er mich über Herkunft und die Zusammenhänge auf. Mit Ende des II. Weltkriegs zog sich die Dynastie (er gebrauchte tatsächlich diesen Ausdruck), in die österreichischen Stammlande zurück. Die Ländereien verblieben hinter dem Eisernen Vorhang, einzig der klangvolle Name reiste mit.
Damit wandte er sich den Pflichten zu, welchen er als Geiselnehmer unterlag. Er bat um Verständnis und darum, dass ich sitzen blieb. Freundlich verwies er auf meine eigene Erkenntnis, dass dieser Krieg nicht mein Krieg sei. Außerdem forderte er, dass ich potentiell feindliche Handlungen unterlasse, da er eine derartige Entwicklung nach einem so netten Plausch bedauerlich fände.
Mit derselben maliziösen Höflichkeit, wie er sie praktizierte, wies ich ihn auf die Beschäftigungsmöglichkeiten hin, die sich mir dank des mitgeführten iPads boten. Kurz legte ich dar, dass meine wilden Jahre hinter mir lägen. Wobei ich mir den Seitenhieb nicht verkniff, dass ich es nie so exzessiv getrieben hätte, wie er und seine Combo.
Er warf mir einen undefinierbaren Blick zu, antwortete: „Wer weiß, was vor ihnen liegt, vielleicht kommen die turbulenten Zeiten ja erst jetzt.“ Mit einem knappen Kopfnicken verschwand er.
Ich sah in an diesem Abend noch einmal. Ungefähr zwei Stunden später, er hatte zwischenzeitlich die Frau mit den beiden Kindern frei gelassen, kam er nochmals an meinen Tisch.
Charmant fragte der Baron, womit ich mich beschäftigen würde.
Ich zeigte ihm ein Video, dass ich kurz vor Deinem Tod bei Youtube entdeckte. Zu der Zeit, Du lebtest und ich war glücklich mit Dir, fand ich den Song zu schwermütig. Mit Deinem Tod erschien er mir wiederum äußerst passend. Ich hörte es mir stundenlang wieder und wieder an. Die Sängerin heißt Giulia Armato, das Lied „The day after Mondays tomorrow“.
Er sah es sich an und stellte fest, dass es angemessen sei für die Situation in der ich mich befinde.
Mit dem Ende des Videos verabschiedete er sich, meinte, dass seine Gegenwart an anderer Stelle erwartet würde. Auf Grund der hohen Polizeidichte bevorzugte er ohnehin alternative Örtlichkeiten.
Auf die Frage, wie er dort denn hinkommen wolle, beantwortete er mit einem Lächeln und dem Satz: „Wenn ich Ihnen antwortete, müsste ich sie töten – und das fände ich sehr bedauerlich.“
Auf einer Entgegnung beharren wollte ich unter diesen Umständen nicht. Mit einem kräftigen Händedruck erwiderte ich, dass er ja mal auf einen Whisky vorbeischauen könne, falls er sich in der Gegend befände. Bevor die Frage nach der Adresse auftauchte, reichte ich ihm eine unserer Visitenkarten.
Er dankte erfreut, dann war er weg. Ich meine wirklich weg, er, seine Männer, nur die Geiseln, die Leichen und ich blieben zurück. Einige Zeit später stand ich auf, da es mir komisch vorkam, keinen von der Truppe mehr zu sehen bzw. zu hören. Ich warf einen Blick in die Küche, schaute ins Separee, stieg in den Wein- und Vorratskeller hinunter - niemand da.
Bei der Rückkehr in den Gastraum läutete gerade das Telefon, der Verhandlungsführer der Polizei rief an. Du fragst Dich, woher ich das weiß? Nun ja, in Ermangelung anderer Alternativen nahm ich das Gespräch an.
Der Unterhändler schien äußerst verwirrt, mit einer Geisel zu sprechen und von mir zu erfahren, dass seine Geiselnehmer sich zurückgezogen hatten. Bei mir verdichtete sich der Eindruck, dass der Beamte über eine relativ geringe Stressresistenz verfügt. Was ihn dann, als Verhandlungsführer der Berliner Polizei qualifizierte hat sich mir nicht erschlossen. Das weitere Vorgehen der Einsatzkräfte stärkte nicht unbedingt mein Vertrauen in die Behörden.
Die Zeit zog sich, wie Kaugummi, bis die Kollegen das Gebäude betraten. Nachdem sie endlich drin waren, zeigten sie sich nicht erkenntlich dafür, dass ich bereits die Aufklärung der Räumlichkeiten übernommen hatte. Sie behandelten mich wie einen der Geiselnehmer, keine schöne Erfahrung. Erst gegen vier Uhr morgens durfte ich nach Hause gehen.
Einerseits bin ich froh, dass Du nicht dabei warst. Andererseits, habe ich Dich vermisst und, das klingt vielleicht komisch, ich finde es schade, dieses Erlebnis nicht mit Dir teilen zu können. Zumindest habe ich Dir jetzt davon geschrieben.


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jon

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Hallo Friedwart,

ich wollte schon ewig an den Text ran, bin aber immer wieder aus dem Lektorat rausgerissen worden. Vielleicht kann ich es etwas beschleunigen, wenn ich nicht alles rauspuhle und auch Fehler nur erwähne, wenn sie inhaltliche Auswirkungen haben.

Also dann los:

Ich rannte über die Autobahn westlich von Berlin, ohne Gepäck, keine Waffen.
Hier sehe ich jedesmal beim Lesen, dass er/sie von einer Seite auf die andere rennt. Dem ist wohl aber nicht so, wie der Text dann nahelegt.

Obwohl ich ohne Begleitung unterwegs war, lief ich nicht allein. Eine Horde Wandler war mir auf den Fersen, ich konnte sie deutlich hören und riechen. Ihr warmer, erdiger Geruch, ein wenig nach Harz und frischen Pilzen duftend verfolgte mich ebenso, wie das Stampfen und Schlurfen ihrer Füße. Der Wind stand günstig, ich hatte Rückenwind.
Das empfinde ich als "zu gewollt" - da wird ein Rätsel gestellt, dessen Auflösung in höchstem Maße banal ist. Dass er/sie allein läuft, schließt man daraus, dass vorher "ich rannte" steht; man kann also direkt mit "Eine Horde Wandler war mir ..." weitermachen.

"duftend" – Duft ist was Angenehmes, das scheint mir nicht zur Situation zu passen.

Bei "schlurfen" sehe ich jemanden eher schwerfällig (also langsam) gehen - in meinem Kopfkino rennt er/sie den Wandlern also spielend leicht davon. (Man muss ja nicht alles "schön farbig" erzählen - dass er/sie die Wandler hören kann, steht da ja schon.)

... ehem ... Wenn er/sie Rückenwind hat, haben die Wandler ihn auch. Das ist also kein Vorteil, nichts, was man als "günstig" erwähnen sollte.

Trotz der Windverhältnisse, dessen war ich mir sicher, würden sie mich erwischen.
siehe eben: Die Windverhältnisse bieten gar keinen Vorteil, das "trotzdem" ist also falsch.

Eine endlose Fahrzeugschlange zog auf der Gegenfahrbahn in Richtung Süden. Die Wandler dort wurden durch die schrillen Schreie der Pitcher, die zu meinen Verfolgern gehörten, alarmiert und schnitten mir so den Fluchtweg ab.
Nein, sie schnitten den Weg nicht ab, indem sie alarmiert wurden; das "so" ist hier falsch.

Es gibt ein Film-Ablauf-Problem: Ich sehe ihn/sie rennen - und zwar offenbar schon ein Weilchen. Die ganze Zeit ist auf der Gegenfahrbahn diese Autoschlange (sie ist endlos). Problem A: Wo sind "dort" die Wandler? Muss ich sie mir in den Autos vorstellen oder soll ich sie zwischen den Autos sehen? (Wenn zwischen: Was machen die da?) Problem B: Ich bin immer noch im "Ein-Weilchen-Modus", die Pitcher alarmieren also schon ein Weilchen - er/sie müsste also längst von den Wandler abgefangen worden sein. Idee: ... Richtung Süden. In der Ferne waren zwischen den Autos Wandler aufgetaucht, die sich besorgniserregend schnell näherten. Einige von ihnen wechselten jetzt auf meine Seite, wahrscheinlich hatten sie ein Signal von den Pitchern hinter mir bekommen ...

Auf meiner Bahn herrschte zwar kein Stau, dafür spannte sich ein circa 2,50 Meter hoher Maschendrahtzaun kilometerweit entlang der Waldseite und versperrte mir die Zuflucht, die der Wald versprach.
Moment bitte! Also in meinem Kopfkinofilm gibt es nicht nur keinen Stau, sondern gar keine Fahrzeuge auf ihrer/seiner Seite.

Wie: "dafür"? Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. (Falsch: "Ich habe für meinen Apfelkuchen zwar keine Äpfel, aber dafür fehlt mir die Margarine." Richtig: "Ich habe für meinen Apfelkuchen zwar keine Äpfel, dafür aber Birnen - ich mache also einen Birnenkuchen.")

Klingt, als hätte ihm/ihr ein Stau genützt. Was?

Besser: zweieinhalb Meter

Das ist recht umständlich (er/sie rennt um sein/ihr Leben!) für ... Fluchtweg ab. Ein hoher Zaun neben der Autobahn hinderte mich daran, in den schützenden Wald auszuweichen.

Ein Parkplatz tauchte auf, doch auch dort gab es Wandler, allerdings nur wenige.
Woher weiß er/sie das? Kann er den Platz komplett einsehen? Das wäre ungewöhnlich.

Die Pitcher kündigten ihnen mein Kommen an und die Wandler bewegten sich zur Fahrbahn. Nur mit einem beherzten Zwischenspurt entkam ich der Meute.
Das ist jetzt aber unlogisch: Der Parkplatz ist VOR ihm/ihr, die Wandler von dort müsste ihm/ihr also entgegenkommen. Er/Sie kann nicht entkommen.

Das Rudel hinter mir rückte näher, ich hörte die Pitcher lauter und deutlicher. Nicht, dass sie an Speed zulegten, das kräftezehrende Fluchttempo zwang mich, die Geschwindigkeit kontinuierlich zu reduzieren. Mein Körper war ein einziger, brennender Schmerz, die Muskeln krampften und die Luft in der Lunge brannte.
Das fand ich irgendwie … unsinnlich. "Speed" fand ich unpassend; das Unterstrichene ist so umständlich analysierend wie von Data aufgesagt. Da klingt die nachgeschobene Leidensbeschreibung wie aufgesetzt.

zugelegt hätten

Irritiert warf ich einen Blick in die Richtung, ohne mein Tempo zu verlangsamen. Eine Frau streckte mir ihre Hand aus einer offenen Seitentür zu. Woher kam die Fremde und das Gefährt auftauchten, erschloss sich mir nicht.
Der letzte Satz erzeugt extrem viel emotionalen Abstand. Und: Was ist merkwürdig, dass hinter ihm/ihr ein Auto die Autobahn lang kam? Er/Sie hatte sich die ganze Zeit, in der ich nun schon zusehe, nicht umgedreht.

Sie warf einen Blick auf das Rudel, das mich verfolgte, und sagte: "Wenn Sie weiter leben wollen, greifen Sie zu."
Warum zögert er/sie??

Die wütenden Schreie der Pitcher verfolgten uns und das Rudel fiel langsam zurück, um schließlich zu verschwinden. Die Seitentür blieb offen, ein Luftzug wehte durch das Fahrzeug. Schwer atmend, schwitzend und stinkend schaute ich mich um.
"um" zeigt eine Absicht an - es ist ganz sicher nicht das Ziel oder die Absicht des Rudels, zu verschwinden.

Das "stinkend" ist extrem irritierend - er/sie merkt das nicht nur, er/sie macht es quasi so "aktiv" wie atmen und schwitzen.

Ich lag in einem Nissan eEvalia, einem elektrischen Lieferwagen. Drei Frauen saßen im hinteren Teil, eine vierte vorne neben dem Fahrer. Alle trugen Gesichtstarnung, Uniformen und Sturmgewehre.
Moment mal: Als er/sie erkennt den Autotyp erst, als er/sei drin ist?

Und noch einmal Moment bitte: Er/Sie sieht erst jetzt, dass (auch) die Frau, die ihn/sie reinzog eine "Gesichtstarnung" (Was ist das?) trug?


Ich dankte ihr auf Englisch.
Warum?

Ihre linke Augenbraue hob sich und sie fragte, ob ich Amerikaner sei, was ich verneinte. Ich fügte hinzu, dass ich ursprünglich aus England stamme. Nochmals dankte ich ihr.
Das ist jetzt aber arg berichtend - "lebendig" geht anders. Das als Dialog?

Heißt "Amerikaner", dass ich ein "er" ist?


Ein spöttisches Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Dafür nicht!" Lautete nicht!", lautete ihre Erwiderung.
Warum Spott?

Was zur Hölle ich da vorhätte, wollte meine Retterin von mir wissen. Sie sprach unaufgeregt und dennoch äußerst bestimmend.
Das dennoch suggeriert einen Widerspruch, der nicht existiert.

Das "Dafür nicht" steht als wörtliche Rede da, das hier (Spannung!) aber nicht? Keine gute Entscheidung.

Meine Antwort, dass ich ein Taschentuch benötigte, um nicht noch erbärmlicher zu wirken, erheiterte sie.
Der hier anklingende Humor durch ihn/sie kommt mir nicht glaubhaft vor. Es ist noch früh zum Flirten.

Schade - das wäre eine so schöne Miniszene gewesen!

Im Übrigen warte ich noch immer darauf, definitiv zu erfahren, ob "ich" Mann oder Frau ist. Ein Dialog wäre ein elegantes Mittel, das zu klären.

"Danke", sagte ich zu der Frau, die mich reingezogen hatte.
Sie runzelte die Stirn. "Sind Sie Amerikaner?"
"Wie kommen Sie darauf?"
"Ihr Akzent."
"Nein, ich bin ursprünglich Engländer. Danke nochmal."
"Das sagten Sie schon mal." Sie lächelte.
Ich merkte, dass meine Nase lief, und versuchte, ein Taschentuch aus meiner Hose zu holen. Unvermittelt blickte ich in die Mündungen dreier Sturmgewehre.
"Was zur Hölle haben Sie vor, Mister?", fragte eine der Frauen, die auf mich angelegt hatten.
"Ich brauche nur ein Taschentuch, mehr nicht. Okay?"



Ein fast nicht wahrnehmbares Lächeln glitt für eine Millisekunde um ihre Mundwinkel, viel freundlicher als ihr erstes Schmunzeln. Ähnlich kurz und doch so anders.
Das ist zu viel "wenig" - eins davon reicht.


Sie erlaubte mir, das Sacktuch herauszuholen. Nebenbei wies sie darauf hin, dass sie kein Problem damit hätte, mir eine Kugel zwischen die Augen zu setzen, sollte ich etwas anderes aus der Tasche holen als ein Schnäuztuch.
Was ist ein Sacktuch??

Statt lauter neue Worte für Taschentuch zu benutzen (das klingt gewollt*), versuche lieber, Sätze zu schreiben, in denen du auf das Wort verzichten kannst.

* Man soll Wortwiederholungen vermeiden, das stimmt. Aber wenn man für banale Dinge einen bunten Strauß Wörter benutzt, wirkt das eher albern oder kitschig, bestenfalls "gewollt".


Ich lehnte den Kopf an den Fahrersitz und ließ den Blick über das Land schweifen. Wucherndes Gras, Bäume und Büsche geschmückt mit den ersten, bunten Blättern des Jahres. Städte und Dörfer, die still dalagen und wohl niemals mehr voller Leben pulsieren würden. Straßen, die bald nie wieder ein Auto sehen würden.
Das Komma hier muss weg. Sonst sind es die ersten Blätter, deren zweite Eigenschaft "bunt" ist. Du meinst "die ersten bunten Blätter"!

Der letzte Satz ist verunglückt - entweder "bald" oder "nie wieder".

Die fünf Fremden retteten an diesem Tag nicht nur mich, sondern ebenso meine Frau Victoria. Ich war damals und bin heute der einzige Mensch, der sich noch an sie, an ihre Schönheit und ihren Intellekt erinnert. Der Letzte, der sie trotz der vielen Jahre noch immer vermisst.
Warum sagst du das hier einfach nur an, während das vorher echtes Kopfkino war?

Abgesehen davon: Ich verstehe das nicht. Die drei Frauen haben also irgendwann auch Victoria aufgesammelt. Wann? Wo? Und wieso ist er der Einzige, der sich an diesem Tag - als Victoria gerettet wurde - an sie erinnert? Sie ist doch dann da - was soll das also mit der Erinnerung?

Erstmals seit Monaten befand ich mich nicht mehr in Todesgefahr und in Gedanken kehrte ich zu meiner Frau Victoria zurück. Sie starb auf unserem Weg nach Berlin, getötet von den Wandlern, verblutet in meinen Armen.
Was?? Sagtest du nicht gerade, die drei im Auto haben sie gerettet??

Die Frau, die mich in den Wagen gezogen hatte, legte ihre Hand auf meine Schulter und sagte leise zu mir: „Alles, was war, wird niemals zurückkommen. Du kannst es nur akzeptieren."
Ich nickte, griff ihre Hand, drückte sie und registrierte verblüfft, dass sie meine Hand festhielt und erst wieder losließ, als sie den Wagen verlassen musste.
Damals sah ich nur Dunkelheit und Verzweiflung.[/QUOTE]

… das sah er, weil sie ihm die Hand hielt? Versteh ich nicht.


1.2 Karlsson 17.09.2019
Ein gutes Stück vor uns versperrten ausgebrannte Fahrzeuge die Fahrbahn. Das erklärte den fehlenden Stau auf dieser Seite. Vor der Karambolage erreichten wir ein Tor im Zaun, das die Beifahrerin mit einer Brechstange öffnete.
Wieso?? Wenn in Fahrtrichtung vor mir etwas die Straße blockiert, wird sich an der Blockade der Verkehr stauen - und ich fahre in den Stau rein (oder stecke schon drin).

Sie öffnet es vom Auto aus? Ich sehe jedenfalls nicht, dass sie aussteigt

Die Frauen, die bei mir saßen, sprangen aus dem Van und sicherten uns. Sie nutzen die Leitplanke und den Wagen als Deckung, zwei lagen flach auf dem Asphalt, eine kauerte hinter der Leitplanke und beobachtete die überwucherten Felder auf der anderen Seite des Zauns. Der Fahrer lenkte den Wagen auf einen Feldweg.
MOOMENT! Es waren drei Frauen im Auto. Eine steigt aus und öffnet das Tor. Sind noch zwei drin. Zwei springen raus und sichern - wenn zwei von denen auf dem Asphalt liegen, wer hockt dann an der Planke? Und wer ist dieser Fahrer? Wo kommt der plötzlich her??


Nach einem kurzen Wortwechsel öffnete sich der Stacheldraht und unser Van rollte auf den Hof.
Wortwechsel mit wem?

In den vergangenen Wochen hatte ich gelernt, mich von Menschen mit Waffen fernzuhalten. Damals bedeuteten Waffen nichts Gutes.
Klingt angehängt.

Auf diesem Hof führten alle Waffen mit sich, was mein Alarmlevel deutlich ansteigen ließ. Und sie trugen Uniform. Das ganze Setting wirkte offiziell. Meine Furcht sank etwas, vielleicht hatte ich Glück gehabt und eine Patrouille der Bundeswehr hatte mich gerettet?
"Setting" klingt unpassend - niemand (außer Autoren und Filmemacher) benutzt dieses Wort.


Zwei Lieferwagen hingen an einer Ladestation für e-Fahrzeuge, montiert auf einen PKW-Anhänger.
Da streikt meine technische Vorstellung: Die Ladestation braucht doch "Saft" - wo kommt der her?

Die Frau ließ meine Hand los
, klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Welcome home."
MOOOOMENT! Jetzt erst? Das heißt ja, dass sie gar nicht mit ausgestiegen war, um das Tor zu öffnen und zu sichern. Also von den drei Frauen im Auto öffnete eine das Tor, eine sprang raus und sicherte (dreifach: 2x Asphalt, 1x Planke) und die hier hat die ganze Zeit Händchen gehalten. - ???

Und noch ein "Moment!": Heißt das, das ist gar nicht die Bundeswehr, sondern es sind englische Truppen?


Seine Kameradin erreichte ihren Mitstreiter, packte ihn bei der Feldjacke, schüttelte ihn wie einen Welpen und fauchte etwas, was ich nicht verstand. Klappernd fiel dem Mann sein Sturmgewehr aus der Hand, das erste, laute Geräusch seit unserer Ankunft. Ebenso plötzlich, wie sie begonnen hatte, ihn zu schütteln, zog sie ihn in eine feste, enge Umarmung, die der Mann erwiderte.
Was für ein - sorry - Würstchen ist das denn, dass ihm das Gewehr aus der Hand fällt von dem bisschen Schütteln?


Von der Einfahrt rollten zwei weitere E-Fahrzeuge an uns vorbei, völlig geräuschlos, nur die Reifen knirschten auf dem unebenen Boden. Die Leute in den Autos schienen mir sehr jung für Soldaten zu sein. Sie winkten freundlich, während sie an uns vorbeischwebten.
Sie schweben doch gar nicht. Lautlosigkeit und Schweben sind zwei verschiedene Dinge, die zwar gleichzeitig auftreten können, aber nicht müssen.

Die absolute Lautlosigkeit irritierte mich. Auf dem Hof befanden sich viele Menschen, Fahrzeuge, es herrschte ein geschäftiges Treiben.
Mich auch: Grade knirschten noch Reifen, Leute unterhielten sich und offenbar sind noch ein paar mehr Leute unterwegs, deren Schritte sicher auch knirschen.

Obwohl ich die letzten Wochen in völliger Stille verbracht hatte, fiel mir das Fehlen von Geräuschen an diesem Ort auf. Bei einer derartigen Ansammlung von Menschen und Fahrzeugen hätte ich eine deutlich höhere Geräuschkulisse erwartet, Motoren die brummen, Rufe, laute Unterhaltungen. Doch nichts dergleichen gab es hier.
Eine höhere Kulisse? Eine lautere!


Die Frau sagte: „Wir haben etwas mitgebracht, nicht das, was wir planten, aber immerhin." An mich gewandt, stellte sie sich vor: „Mein Name ist Isabell Werninger, der Mann hier ist Karlsson Bildt, der Fahrer unserer Combo ist Reinhard Kern, die Frau mit der Brechstange heißt Marie Unsold, meine beiden Sidekicks sind Alice Jenner und Milena Heilmann."
Welche? Wenn das die wiedergeborene Schäferhündin ist: Die hat schon einen Namen.

Karlsson musterte mich lange und nachdenklich.
„Ohne Gepäck, keine Waffen?"
Keinen Absatz machen!


„Ihr könnt noch weltweit telefonieren?"
Die Blicke, die ich mit diesem Statement erntete, beantworteten die Frage.
Das ist kein Statement, das ist eine Frage.

Und wie lautete die Antwort?


Milena schaute mich fragend an und während ich die Zeit seit Victorias Tod überschlug.
??

Geschockt stellte ich fest, dass ihr Tod bereits zwei Monate zurücklag, was ich dem Mädchen mitteilte.
Was teilt er mit? Dass er "geschockt" ist? - Hässliches Modewort, das auch noch falsch ist; ein Schock ist ein medizinischer Zustand, der den Kreislauf so ausknockt, dass Lebensgefahr besteht.


Isabell wandte sich an Karlsson und erklärte ihm, wie sie mich gefunden hatten.

„Stuart rannte an dem Stützpunkt vorbei, den wir aufklärten. Leider war jemand vor uns da, ein zweiter Besuch lohnt sich nicht. Wir hielten uns im hinteren Teil der Basis auf, wollten eigentlich gerade den Rückzug antreten, als wir die Pitcher hörten. Die Wandler, die sich vorne am Parkplatz aufhielten, liefen zur Autobahn hin und gaben so den Blick frei zur Straße. Da sahen wir Stuart rennen eine ganze Rotte von Wandlern auf den Fersen. Stuart war so gut wie tot. Er lief schnell, aber machen wir uns nichts vor, in dem Abschnitt gibt es nicht viele Möglichkeiten, eine Horde Wandler abzuhängen. Ich schätzte unser Risiko als beherrschbar ein und der Rest der Crew stimmte zu, ihn zu retten. Wir haben den Pulk abgewartet und sind dann von hinten kommend an dem Rudel vorbei und haben ihn eingesammelt. Er war clever genug, einzusteigen und keine Dummheiten zu begehen."
Keinen Absatz machen!

Wir (die Leser) waren dabei, als sie ihn "gefunden" haben - warum erzählst du uns das nochmal?

„Was seit ihr dann, eine Art Miliz?"
Die beiden wirkten überrascht von dieser Annahme, letztlich bestätigte er: „Trifft in etwa den Kern."
Warum sind sie dann überrascht?

Was ist mit den anderen - sind die inzwischen weggegangen?

„Und wieso ist es hier so still, das ist eher ungewöhnlich für eine Miliz?"
Wieso für eine Miliz? Machen die normalerweise extra viel Krach?

Eine junge Frau in einem braunen Overall, mit einem Tuch auf ihren Haaren, stand am Fenster, ihr Blick ging nach draußen über die verwilderten Felder. Zwei Soldatinnen leisteten ihr Gesellschaft, lösten sich bei unserem Eintreten von ihr und wandten sich uns zu. Sie begrüßten die Ankommenden herzlich, auch mich empfingen sie freundlich.
Ich denke, das sind keine Soldaten.



Ich unterbreche hier mal. Bei Gelegenheit mehr.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Ich merke gerade, dass ich bei der Personenzahl im Auto ein falsches Bild abgespeichert hatte. Du schreibst ja
Drei Frauen saßen im hinteren Teil, eine vierte vorne neben dem Fahrer.
Allerdings kommt dann:
Niemand sprach, aber meine Retterin und ihre beiden Begleiterinnen betrachteten mich wachsam.
und an der Stelle hat mein Bild auf "drei Frauen" umgeswitched (die Retterin hat ja drei Begleiterinnen und einen Begleiter).
 



 
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