der leser

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
[ 4]der leser


experimentelle gedichte
sie leben von experimenten
der leser mit dem was sie lesen
die tauchen hinein in die zeichen

und deuten verborgene worte
sie lösen der frau in den versen
die fesseln sie öffnet die augen
und singt das gedicht der gedichte

der leser vernimmt ihre rede
und antwortet ganz von alleine
in lockerem fluß seine sätze
sind tanzende versmelodien

gespräche sind sprüche sind wechsel
des du mit dem wir mit der allheit
vom leser entdeckt der die nachricht
im radio hört und versteht sie

die stimme die sachlich verkündet
den weltuntergang und die rettung
die dichterin prustet im leser
den abgesang auf die geschichte

schalt aus sagt sie ihm schalt den kasten
jetzt aus und komm zeig mir dein leben
darin will ich schwimmen wo wohnst du
in dir lebt mein leben dein leben

der leser folgt ihr doch sie springt schon
hinein in sein zimmer und küßt ihn
er kommt ihr entgegen und schlüpft schon
hinein in ihr sein und ihr wesen

und gleitet und fällt durch die meere
des endlosen sinns ihres singsangs
und weiß er schon was es bedeutet
so ist es doch neu und verwirrend

denn nie hat er früher vernommen
gedanken die sie ihm verkündet
doch kennt er das lied ihres hierseins
ich immer bin allgegenwärtig

ich bin ja mein leser wer wäre
denn sonst gegenwärtig und fänd mich
wenn ich mir nicht zeigte die wahrheit
so wahr wie mein ich nur ein ich ist
 

Perry

Mitglied
Hallo Mondnein,

eine Auseinandersetzung mit lyrischen Experimenten ist spannend, aber auch problematisch, weil für mich jeder lyrische Text eine Art Experimentieren mit Aussagen und Worten ist.
Aus deinen Zeilen lese ich das Experimentieren weniger im formalen Bereich sondern mehr im Ausdruck bzw. der Aussage.

Im Text setzt Du dich mit einem theoretischen Austausch zwischen Lyriker (her die Dichterin) und dem Leser (der Allheit der Leser) auseinander.
Ich finde Bilder wie

"sie lösen der frau in den versen / die fesseln"
"die dichterin prustet im Leser"

für gelungen, die meisten muten aber mehr wie eine Fiktion an,
weil Lyrik für die meisten Schreibenden eher ein monogames Unterfangen ist bzw. der Austausch mit Lesern selten im Dialog geschieht.

Gern gelesen!

LG
Manfred
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Musen schmusen

Dankeschön, Manfred!
Nun, ich gehe davon aus und lande in den letzten beiden Strophen ebenda: daß jeder Autor zugleich sein erster Leser ist, und daß jeder Mensch in einem permanenten inneren Dialog steht.
Die innere Muse nicht zu vergessen - die "Dichterin" - die der "erste Leser" in sich weckt bzw. von der er sich wecken läßt.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
thanx

Danke fürs Lesen und erste Kommentieren, Perry.

Ich vermute, durch meine Antwort - nämlich, daß mit "Leser" hier vor allem der dem Autor immanente Hörer gemeint ist, in den sich der Autor versetzen muß, um sein Gedicht von außen, wie ein Fremder wahrzunehmen - hat sich keiner mehr als "Leser" so angesprochen gefühlt, daß er hier gewertet, kommentiert oder gar weiter analysiert hätte.

So gings sang- und klanglos unter.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
weil Lyrik für die meisten Schreibenden eher ein monogames Unterfangen ist bzw. der Austausch mit Lesern selten im Dialog geschieht
Nein, Perry,

Du hast nicht verstanden, was ich über den Autor als (ersten) Leser eröffnet habe, denn sonst wäre es klar, daß Schreiben, auch das von Lyrik, niemals ein "monogames Unterfangen" sein kann.

Vielmehr ist jedes Gedicht ein dialogimmanentes Gebilde, wobei das Hauptgewicht im Schwanken der Gesprächswaage liegt - es spricht ja immer eine Person, dann hört diese zu während die andere spricht, und selbst dann, wenn sie sich in den Gedanken (oder ins Wort) fallen und einander zum gemeinsamen Gedanken (Satz) ergänzen, schwingt die Kommunikation hin und her.

Es geht dabei nicht zwischen Autor und Leser hin und her, sondern zwischen Leser und Leser. Das ist genau der springende Punkt in diesem Gedicht.

Und auch in allen anderen.

grusz, hansz
 

Jaron

Mitglied
...ein sanft aber gleichzeitig prägnant ausgeleuchtetes Spiegelbild. Das gefällt mir richtig gut.

LG
Jaron
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Danke, ja, Jaron.

Nicht zu vergessen die Bewegung der inspirierenden Muse zwischen den Lesern. Es ist ja nicht so sehr ein Zustand als vielmehr ein neckisches Spiel, sogar mit der Scheinlogik (dem halbgelogenen Scherz) eines nur einzigen "Ich".

grusz, hansz
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Dankeschön, Jaron,
und Dankeschön, Klaatu,
für die hohen Wertungen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Es wird Zeit, das alte Hündchen hervorzuholen, insbesonderes deshalb, weil in der Sparte der Festen Formen die Meinung ihre Herrschaftsansprüche durchdrückt, es gäbe "Anforderungen" an den Autor. Wenn man zum Beispiel ein Sonett schreibt, müsse man dabei vorgegebene strenge Regeln einhalten.
Das bedeutet: Definitionen richten über das Gedicht. Was nicht aus den Definitionen deduziert werden kann, fällt raus.

Ich lasse mich gerne von anderen Auffassungen überzeugen, - aber ich entgehe dem Definitionenzwang
1. dadurch, daß das induktive Prinzip (von dem auszugehen, was sich vorfindet) die Sachbestimmung und die spezifizierende Formenverästelung freihält,
2. dadurch, daß ich alle opuscula allein von der Leserseite sehe, seien es die der anderen Leser, sobald die durch die Veröffentlichung hinter ihr Werkchen zurückgetreten sind, seien es meine "eigenen" (und nun nicht mehr als Eigentum beanspruchten, deshalb auch ohne den kapitalistischen Warencharakter).

Bisher war das ein überaus fruchtbares Kopulieren. Und lustvoll.

"Der Leser macht das Gedicht."

Grüß Dich, revilo,

grusz, hansz

P.S.: Interessant, daß die autorenzentrierte Anforderungsdeduktion den Werken einen Warencharakter gibt, weil sie das Werk entfremdet. Ausgerechnet ...
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
ich bin ja mein leser wer wäre
denn sonst gegenwärtig und fänd mich
wenn ich mir nicht zeigte die wahrheit
so wahr wie mein ich nur ein ich ist
Hallo Hansz,

ich habe das Gedicht jetzt erst durch dein Hervorholen entdeckt.
Nichts könnte mein eigenes Empfinden besser ausdrücken als das obige Zitat.

Liebe Grüße
Manfred
 
G

Gelöschtes Mitglied 19299

Gast
Hallo Mondnein,

bitte korrigiere mich, falls ich falsch liege:
Ich lese in den Strophen die Inhärenz von Autor, Muse, Gedicht und Leser.
Und zugleich deren Aufhebung wie im folgenden Zitat:

schalt aus sagt sie ihm schalt den kasten
jetzt aus und komm zeig mir dein leben
darin will ich schwimmen wo wohnst du
in dir lebt mein leben dein leben

der leser folgt ihr doch sie springt schon
hinein in sein zimmer und küßt ihn
er kommt ihr entgegen und schlüpft schon
hinein in ihr sein und ihr wesen
Ist dem so, dass es hierbei um diesen Widerspruch geht?
Ich fand das interessant, daher die Sterne von mir.

Gruß,
Keram
 
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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Es sind, Keram,

mehrere Schleifenbewegungen, wie ein lockerer Knoten.

Das "Radio" kann metaphorisch verstanden werden, es gibt dann mehrere mögliche Interpretationsebenen. Dann können diejenigen, denen das Gedicht zu schwer verständlich ist, es als "Dreck" qualifizieren, und diejenigen, denen es trivial zu sein scheint, mir wieder mal die Selbstverbrennung empfehlen.

Beide haben Recht, zumal sie sich auch noch in Personalunion selbst widersprechen (siehe "Der Stein aus Indien"), und ich "requiesziere in der Patsche".

Deshalb Danke für Dein Lesen und Nachfragen. Ich habe diesen Krieg der Spießer gegen die Phantasie verloren und ziehe mich nun zurück.

grusz, hansz
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Dankeschön, Manfred,

ja, die letzte der Interpretations- und Identifikations-Schleifen, zwischen denen das Spiel hin- und hergeht, schiebt die Interpretationsebenen transparent übereinander.

Vermute ich zumindest.

grusz, hansz
 
G

Gelöschtes Mitglied 19299

Gast
Danke, hansz, für die Antwort.

Gruß,
Marek
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Danke Dir auch, Marek;

ich bin dann mal weg. Dies hier ist mein letzter Eintrag.

grusz, hansz
 



 
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