Der letzte Frühling des Herrn Frank

5,00 Stern(e) 1 Stimme
Der letzte Frühling des Herrn Frank



Es war ein kalter Wintertag, nach unendlich vielen kalten Wintertagen und nur die feingerippten Heizkörper im Klassenzimmer strahlten einen letzten Rest von Wärme ab. Diese portionierte Wärme wollte nicht einmal mehr in die Herzen der Kinder dringen, so schien es, die mit ihren fliderblauen Lippen vom Hof hereingetrottet kamen, die kleinen Fäuste tief in den Taschen und noch tiefer in dicken, wollenen Handschuhen, deren Säume ihnen unter den Winterjackenärmeln hervorquollen.
Sie wirkten von der Winterkälte ganz eingefroren, so dass kein Lächeln über ihre Lippen kam, außer eines der Kinder stieß sich unvorsichtigerweise die eisigkalten Zehen am harten Metallfuß eines Schreibtisches und schluchzte leise, was die anderen Kinder in irrsinniges Gelächter ausbrechen ließ. Eine festgeklebte Zunge an einem Laternenfeiler konnte eine Woche lang zum Schulgespräch werden und erheiterte sogar die Gemüter im Lehrerzimmer, in dem sich ohnehin alle Wärme verflüchtigt hatte und ganz eisig kalter Melancholie gewichen war.
Der Winter war aus den Köpfen der Menschen nicht mehr fort zu denken und ein ganz in Winterpullover mit Winterstrickjacke und einer hellblauen, doppelt gefütterten Baumwollwinterhose eingekleideter Herr Frank, der sich auf seinem Stuhl vorne, vor der aufgeklappten Tafel wie festgefroren fühlte, sah aus dem Fenster und betrachtete eine schläfrige, fast apathische Häuserlandschaft, mit gebückten Alleebäumen, die sich unter der Schneelast knorrig niederbeugten und ganz ihrem eisigen Schicksal ergaben.
Sie hatten sich mit der eisigen Umklammerung des Winters arrangiert, so schien es. Nichts und niemand würde sie mehr aus ihrer Schläfrigkeit aufwecken können und selbst die Krähen, die sich in ihrem Geäst um ein altes Vogelhäuschen scharrten, bewegten sich nur, um sich ab und zu die Schneemützen vom Kopf zu schütteln. Welcher Maler hätte dieses Bild, so dachte Herr Frank, einfangen und diese Müdigkeit in all den vielen Nuancen von Weiß so auf eine Leinwand bringen können? Mittlerweile fühlte selbst er sich, einem Inuit oder einem Grönländer gleich; unheimlich sprachgewandt, wenn es um die vielen verschiedenen Arten von Schnee ging. Die Begriffe kamen ihm ganz natürlich von der Hand. Da gab es Schnee, der die Konsistenz von Eis angenommen hatte und der sich viele Schichten tief unter dem Neuschnee verbarg; es gab verschiedene Schattierungen von Blau, die man auf einem bis zum Grunde zugefrorenen See ausmachen konnte und bis zum Horizont erstreckten sich auf weitem Feld blaue und schwach violette Linien, die jeder Art von Schnee eine farbliche Eigenschaft zuordneten, die ihm früher nie aufgefallen wäre. Das Fehlen jeder intensiven Farblichkeit in der Natur schärfte das menschliche Auge und machte es empfänglich für das ansonsten unsichtbare. Einem Traum gleich, ähnlich der Reizlosigkeit im Innern einer mit Wasser gefüllten Röhre, unendlich still und unendlich finster, erdachte sich das menschliche Gehirn Erinnerungen an Rot, Gelb und Blau und erschuf in der eisigen Stille, Töne und Melodien, die das menschliche Ohr nicht zu hören gewohnt war.
Es war nicht einmal mehr beängstigend. Der Blick aus dem Fenster trug diese Stille und Schläfrigkeit in das Klassenzimmer herein und der dichte, fallende Schnee bedeckte nicht nur die Straßen und Häuserdächer draußen, sondern er legte sich auch wie ein dickes Federbett auf alles Leben im Inneren. Die Dinge wollten fast lautlos geschehen und alles war wie gedämmt, schalldicht und so angenehm für das Ohr, dass man jeden Augenblick einschlafen und nie mehr erwachen wollte.
Ein leises, fast unhörbares Stöhnen, dass darum auch um so deutlicher erklang, entglitt seinen Lippen und Herr Frank wandte sich müde und erschöpft der Klassen zu. Von den Schreibtischen kämpften sich nur wenige Gesichter aus der angenehmen Position des Auf-den-Unterarmen-liegens zu ihm empor. Radiergummi hoppelten über die Kunststoffplatten von einer Hand in die andere und Bleibstifte gaben fast keinen Laut von sich, wenn sie unabsichtlich auf den Boden fielen. Es war, als fiele selbst in dem Klassenzimmer Schnee.
Fast unbemerkt, ganz gegensätzlich zu allem Gebeugten da draußen, allem, was sich unter der Schneelast buckelte, hatte sich in diese Stille und Müdigkeit eine hocherhobene Hand hinein gestohlen, eine Kinderhand, die bis zum Ellenbogen aus einem grünen Pulloverarm herausragte und wie ein junger Baum, ja wie junger Baum, der seine Äste in den Himmel streckte, die fünf kleinen Finger in einen noch fernen Frühlingshimmel spreizte.
Es konnte sich hierbei nur um ein Missverständnis handelt, um ein Versehen, das der jungen noch unerfahrenen Motorik des Kindes zuzuschreiben war, denn Herr Frank hatte den Unterricht noch nicht eröffnet und es war, auch vor diesem langen kalten Winter, nicht die Art der Schüler gewesen, sich außerhalb der Unterrichtszeit, seiner doch mehr als zurückhaltenden Person zuzuwenden. Darum übersah er zunächst diesen ausgestreckten Arm und wartete, dass dem Kind müde würde und es ihn ganz von selbst zurück nahm, er ihm vor schwäche einknickte, so wie die kleinen Rücken vor Müdigkeit an ihren Schreibtischen einzuknicken gewohnt waren. Aber die Hand, die bis zum Ellenbogen aus dem grünen Pulloverärmel herausragte, blieb da stehen, ebenso, wie jener junge Baum, an den Herr Frank noch eben gedacht hatte und als wollte er den Winter nicht sehen und trotzdem so tun, als wäre es gegen jedes bessere Wissen Frühling, spreizte er seine Finger weiter von der kleinen Hand ab und zwei Augen, in einem kleinen Kopf, der an einem Hals hing, der wiederum mit dem kleinen Arm verbunden war, starrten ihn von unten unentwegt und ohne jedes Zeichen von Müdigkeit an.
Die Frage, die das Kind stellte, beschäftigte Herrn Frank noch viele Monate und er ging in der frühen Dunkelheit des Winternachmittages zu seinem Wagen, um die zugefrorene Frontscheibe mit einem Eiskratzer von seinem eisigen und milchigen Panzer zu befreien. Mit dicken Handschuhen machte er sich über die Zentimeter dicke Schicht her und kratzte schneller und schneller, bis ihm der Eiskratzer aus der Hand glitt und tief im Winterschnee verschwand. Herr Frank stand da und sprach die Frage des Kindes leise und ganz für sich noch einmal nach:
„Warum ist noch kein Frühling, Herr Frank?“
Her Frank sah sich um, sah in den finsteren Nachmittagshimmel und lachte leise, aber nicht ohne Bitterkeit. Es war nun Anfang April und die Sonne ging noch immer unter, als wäre es im Dezember. Die anderen Kinder in der Klasse hatten gelacht und auch Herr Frank hatte über die Frage gelacht. Es war eben eine dieser Fragen, die kein normaler Mensch stellte, weil die Antwort ganz natürlich war. Aber war sie denn so ganz natürlich? Er hatte sicher schon den einen oder anderen verschneiten März erlebt und auch so manchen frostigen Apriltag. Aber so einen April? Und sollte es nicht schon viel heller sein um diese Zeit im April?
In einer Woche würde Ostern sein, dachte er und sie würden mit den Kindern Ostereier in den Schulklassen verstecken, auch in den dicken Fausthandschuhen, die an den Kleiderhaken hingen, in den dicken Stiefeln und den wärmenden Mützen. Dort würden sie die Ostereier verstecken, die sie sonst immer im Schulgarten versteckt hatten. Der aber lag nun verwaist in winterweißer Stille. War das alles nicht sehr seltsam?
Herr Frank betrachtete die halb befreite Frontscheibe seines Wagens, auf der sich schon wieder der dichte niedergehende Schnee ablagerte und starrte sehr lange auf den dicken, weißen Wintermantel, der sich über das Wagendach gelegt hatte
Die Hände tief in der Winterjacke vergraben, wandte er sich ab und stapfte durch den tiefen Schnee die Straße hinunter.
Von überall drangen Dampfsäulen aus den hellerleuchteten Wohnungen auf die vom Laternenlicht beschienene, schneeweiße Straße. Die kondensierte, noch warme Luft kroch unter Türen hindurch und durch winzig kleine Spalten an den mit dichten Eisblumen bewachsenen Fenstern. Es war die schönste Winterlandschaft, die man sich vorstellen konnte. Jedes Licht, jede Kerze, die jemand irgendwo angezündet oder erleuchtet hatte, schien dem Wanderer wie ein rettendes Ufer, ein Heim mit Herd und ohne jeden bösen Willen. Wenn man schaute und ging, so konnte es keinen schlechten Menschen auf dieser Welt geben, der dort drinnen im Warmen saß und die einsamen Gestalten, die alle sehnsüchtig durch die Fenster blickten und kurz stehen blieben, nicht mit einem Lächeln und einem warmen Gedanken bedachte. Seltsam, dass sich die Welt so schnell verändert zu haben schien; der Wanderer selbst glaubte in der Wärme des Lichtes auch die Wärme eines menschlichen Herzens zu sehen. Und so stahl er sich durch die Nacht.
An einer Häuserecke blieb Herr Frank stehen und lauschte dem aufgeregten Klicken einer hin- und hergeschüttelten Farbspraydose. Ein Junge oder ein junger Mann, der sich eine dicke Wolldecke über die Schultern geworfen hatte, malte mit der Spraydose große, bunte Blumen in den Winterschnee, die fast Augenblicklich von den neuen, niedergehenden Eiskristallen verschluckt wurden.
„Was machen Sie da?“, fragte Herr Frank und betrachtete etwas pikiert die vielen weggeworfenen Dosen, die sich zu einem kleinen, verschneiten Müllberg aufgetürmt hatten.
Der Junge sah erschrocken auf, ließ die Spraydose fallen und stürzte in die Nacht hinaus. Dabei glitt ihm die Wolldecke wie ein flatternder Umhang von den Schultern und fiel wie ein leeres Blatt lautlos zu Boden.
Herr Frank blieb stehen und sah, wie die vielen bunten Blumen des Jungen langsam im niedergehenden Schnee verschwanden. Das tiefe Rot wurde rosa, das helle Gelb war bald nicht mehr zu sehen; dann verschwand das Rot und schließlich auch das Grün. Herr Frank griff in den Schnee, hob die bereits eingeschneite Farbdose, die der Junge hatte fallen lassen, heraus und schüttelte sie lange, bevor er damit zu der nahegelegenen Häuserwand ging und in großen roten Buchstaben auf den grauen Fassadenputz, WARUM IST NOCH NICHT FRÜHLING, HERR FRANK? , schrieb.
Aus einigen Schritten Entfernung betrachtete Herr Frank sein Werk. Er hatte um die Buchstaben herum rote Blumen gemalt und große, rote Blätter an langen, gewundenen Blumenstengeln. Es war ein sehr schönes Bild, fand er und er ging weiter, denn es war schon spät und die Geschäfte schlossen gerade und er hörte von weitem viele Fensterläden fallen und Motoren grummelnd starten, die sich bald in dem eisig kalten Winternachmittag entfernten.
Wie angewurzelt blieb Herr Frank an einem Blumenladen stehen, dessen Schaufenster noch immer hell erleuchtet waren und dessen Besitzer ihn einfach nicht schließen wollte. Drinnen, auf einer mit rotem Samt bedeckten Auslage, blühten die schönsten Winterblumen hinter zufrierendem Glas, so dass Herr Frank seine Hände, in den dicken Fingerhandschuhen kreisförmig über das Fensterglas reiben musste, damit sein eigener Atem, nicht den wunderbaren Blick erfror, den er auf diese Winterblumen warf. Das Leuten der Türklocke und die feuchte, dampfende Hitze, die Herrn Frank entgegenschlug, gaben ihm, dessen Winternase bereits tief rot und schnupfig war und der sich dort draußen ganz eiskalter Melancholie hingegeben hatte, die erste wärmende Hoffnung zurück. Denn es roch in dem Blumenladen nach Erde, ganz natürlicher, schwarzer, frühlingswarmer Erde. Und niemand, der nicht wie Herr Frank an solchem späten Winternachmittag einen Blumenladen betreten hatte, konnte sich vorstellen, wie intensiv so ein Geruch von frischer Erde sein konnte, wenn sich draußen in der Kälte jeder Geruch von Lebendigkeit verlor. Es musste die Hitze sein, die schwüle, feucht-warme Hitze in diesem Raum, die ihn so ganz schummrig machte und seine Knie weich werden ließ und ihm sofort Schweißperlen in die Stirn trieb. Das satte Grün in den Regalen nahm dem Lehrer allen Atem. Schwankend und berauscht von dieser allgegenwärtigen Lebendigkeit schritt er hastig vor und stützte sich an der Theke ab, wo eine altmodische Registrierkasse in einem Meer von Blumen versank.
„Das ist alles ein bisschen viel“, sagte er, „wenn´s draußen nur noch weiß und wie am Nordpol ist.“ Die junge Frau, die mit einem großen Einkaufskorb aus einem Hinterzimmer den Verkaufsbereich betreten hatte, um die empfindlichsten Sorten an einen wohl sichereren Ort zu verschaffen, ließ sich von ihm keineswegs aus ihrer geschäftigen Ruhe bringen.
„Ja, ist schon ein seltsamer Frühling“, sagte sie, ohne ihn lange anzusehen und verstaute Zierpflanzen und Blumenstauden in dem Einkaufskorb. Ohne jede Hast griff sie Paletten mit jungen Orchideen, stellte sie dicht beieinander, strich sich das dunkle Haar zurück und wurde in ihrer, mit Blumenapplikationen übersäten Schürze ganz Teil dieser blühenden und wachsenden Lebendigkeit.
„Ja“, antwortete Herr Frank unsicher und fand den Frühling letztlich nur hier, in diesem Raum, durch dickes Fensterglas vorm kalten Draußen beschützt. Ja, hier war Frühling, auch wenn es ein künstlicher und menschlicher Frühling war, aber hier war er und hier konnte er endlich atmen, wie es schien, nachdem ihm nun schon so viele Monate atemlos gewesen war. Es kam ihm in den Sinn, dass er unmöglich von hier fort gehen konnte, ohne etwas von diesem Frühling mit sich zu nehmen, denn seine Wohnung, er nannte sie lange nicht sein Zuhause, war ebenso, wie er, im Inneren spartanisch eingerichtet und ansonsten hatte es der Wohnung wie ihm genügt, das Leben vor der Tür zu finden und es passte ganz und gar nicht zu ihm, dass er es nun hineinholen wollte. Herr Frank kramte aus seinen Taschen etwas Kleingeld hervor; ein paar Cent drückten sich um einen Euro herum und er legte das Geld auf die Theke und sah sich um, wie um sich zu fragen, wie viel man für dieses Geld von diesem Frühling mitnehmen konnte und wie groß eine Einkaufstüte sein dürfte, in der man den ganzen Laden mit sich trug, um ihn am Couchtisch, gegenüber dem Fernseher auszupacken.
„Ich könnte jetzt den Frühling kaufen, wenn ich das Geld dazu hätte“, sagte er und folgte dem Blick der Verkäuferin, die sein ansonsten unwichtiges Taschengeld beschaute und deren Blick danach nicht in eines der Regale, sondern zielgerichtet in seine Augen fiel und ansonsten spöttisch gewirkt hätte, hätte Herr Frank nicht ebenfalls gelächelt.
„Viel Frühling bekommen Sie dafür aber nicht“, sagte sie.
„Viel brauche ich auch nicht“, antwortete Herr Frank und schob der jungen Frau das Geld hinüber und schaute so, als werde er ihr schon vertrauen, dass sie ihn auch mit wenig Frühling auf den kalten Heimweg schicken könnte, wenn es denn nur etwas Frühling war und dieser wenige Frühling ihm ein wenig die Erinnerung an diesen kleinen Blumenladen erhielt und er mit dem Geruch von frischer, warmer Erde einschlafen durfte.

„Crocus Albiflorus“, flüsterte der Lehrer und umschloss mit seinen Fingerspitzen den kleinen Pappbecher mit den kleinen, hellbraunen Saatzwiebeln, die schon die scheuen, grünen Hälse aus ihrer schaligen Halskrause reckten. Drei von ihnen waren ihm geblieben, nachdem er die anderen beiden unglücklich am Fenster hatte eingehen sehen, zu nah an diesem eisig kalten Firnis, in frostiger, brüchiger Blumenerde. Die Kälte kroch nun sogar bis unter die Bettdecke. Die Tage wurden weiterhin nicht länger und der Kalender belog den Juni um seine grünen Wiesen. Seit der Schulunterricht ebenfalls einen eisigen Winterschlaf hielt und der Begriff „Kältefrei“ in aller Munde war, hatte sich der Lehrer ganz der Aussaat seiner letzten Hoffnung gewidmet. Der Blumenladen und die Verkäuferin waren fortgezogen, so hieß es, so wie es die Zugvögel im Herbst taten, wenn sich die kalten, dunklen Nächte ankündigten und ähnlich einem Schwan, den es nirgendwo hinzog, hatte Herr Frank das stille Gehen der Vielen mit angesehen und sich ganz in einen Winterkokon zurückgezogen, aus dem er hoffte ,eines Tages, einem Schmetterling gleich, wieder zu erwachen.
In seinem großen, leeren Bett, der letzten Festung gegen die Kälte, lag er Tag um Tag unter Wolldecken und allem, was wärmte und getraute sich kaum, die noch wachen Krokuszwiebeln, dem Kältetod am Fenster auszusetzen. Er hatte begriffen, dass sie nur hier, wo er den letzten Rest von Wärme gab, wachsen und blühen und vielleicht die Eiseskälte draußen mit ihrer bloßen Anwesenheit vertreiben konnten. Und in einem Willensakt, der reinem Selbstmord glich, hatte er sich in die Kälte und auf die Straße hinausgewagt, war zitternd durch die allgegenwärtige Dämmerung geschlichen und hatte, ohne zu zögern, die Scheibe zu einem großen Elektrogeschäft eingeschlagen und eine Rotlichtlampe mit altertümlichen Generator entwendet.
Alles um ihn herum war still.
Und diese Stille war wie ein Bote, wie eine schreckliche Bedrohung, die allein durch ihre Anwesenheit etwas Unaussprechliches und nie da Gewesenes heraufbeschwor. Mit aller und auch letzter Kraft hatte sich Herr Frank von diesem Unaussprechlichen losgerissen, sich ganz der aus Muskelkraft gewonnenen Elektrizität gewidmet und der Rotlichtlampe sonnenlichte Energie eingehaucht, hatte freudig beobachtet, wie die jungen Krokuszwiebeln darüber zu wachsen begannen und wie sich, mit deren zweier Tod, schließlich eine, ganz Platz zum Leben verschaffte.
Sie blühte! Sie blühte, während Herr Frank Tag und Nacht den Generator mit Muskelkraft antrieb. Das elektrische Surren ersetzte ihm das Zwitschern der Vögel.
Und wie er eines Tages aus dem Fenster sah, als der junge Krokus schon wieder am Verblühen war, da sah er die Sonne, ganz klein und unscheinbar am dunklen Himmel über den Horizont kriechen
und der letzte Frühling des Herrn Frank nahm mit diesem sehnsüchtigen Blick, ein stilles und regungsloses Ende.



Nachwort:
Niemand soll mich fragen, wie lang die Erde in ihrem eisigen Grabe lag und auch nicht, wie viele sonnige Prinzen, an eisigen Dornen, schreckliches Ende fanden. Niemand soll fragen, wie oft die Sonnen kamen und gingen, und niemand, wie lange der Herr Frank an seinem Spinnrad gesessen und ins Leere gestarrt:
Die Zeit war bedeutungslos, nachdem das Leben von Neuem erwachte.
 

ENachtigall

Mitglied
Lieber Marcus,

ich habe die Erzählung sehr gerne gelesen, vielleicht weil ich mich merkwürdigerweise in allen Figuren ein wenig wiedergefunden habe: dem Herrn Frank, dem Kind mit dem grünen Arm, dem Graffitysprüher und auch in der Blumenfrau. Gewiss aber weil sich vor der kaltweissen Kulisse wie selbstverständlich eigene Illustrationen zu Deinen Worten entsponnen. Und auch ein wenig, weil mir selbst kein Winter zuvor, so wie dieser, das Gefühl gab, die Kälte kröche mir tatsächlich unter die Haut. Auch das las ich aus der Geschichte heraus.

Ein paar m.E. unstimmige Kleinigkeiten fielen mir auf. Im zweiten Absatz bindest Du das Lächeln mit dem Wort "außer" an das irrsinnige Gelächter im weiteren Satzverlauf.
Sie wirkten von der Winterkälte ganz eingefroren, so dass kein Lächeln über ihre Lippen kam, außer eines der Kinder stieß sich unvorsichtigerweise die eisigkalten Zehen am harten Metallfuß eines Schreibtisches und schluchzte leise, was die anderen Kinder in irrsinniges Gelächter ausbrechen ließ.
und zwei Augen, in einem kleinen Kopf, der an einem Hals hing,
Das paßt nicht zu dem hochgereckten grünen Arm des Kindes.
Irgendwo hast Du "augenblicklich" groß geschrieben.

Ansonsten finde ich die Erzählung wunderbar gelungen! Die Idee, die sprachliche Umsetzung und auch der logische Schluss machen sie für mich zu einem Lesegenuss, den ich mir öfter gönnen möchte.


Viele Grüße
Elke
 
Hallo Elke,
schön, dass die Geschichte bei dir so guten Anklang findet. Deine Anmerkungen finde ich sehr gut. Ich stehe da gerade vor meinen eigenen "gewachsenen" Sätzen und weiß, dass quasi dieses "junge Grün" von mir noch nicht beschnitten werden kann, aber ich ahne, dass es sich nach mehrmaligem lautem Vorlesen ein wenig selbst entzaubern wird. Du kennst sicher das Problem, das gerade die ersten Sätze lange Zeit als sehr elementar für eine Geschichte und deren Einstieg scheinen; ich will also hoffen, dass ich diesem Schein schnell entfliehen kann.
Mir selbst sind auch schon so einige andere Rechtschreibfehler aufgefallen, aber nur flüchtig, so beim ersten Lesen in der Badewanne. Der Abstand, der für eine Arbeit am Satzbau nötig ist, wird sich sicher bald finden.

Nurnoch soviel: ich habe versucht, den Winter so gegenständlich und alles erdrückend zu schreiben, dass nicht nur in mir, sondern auch im Leser, durch diesen alles verdrängenden Winter schließlich ein Platz frei wird für einen alles überstrahlenden Frühling. Der Winter erschafft sozusagen die Arena für das Bewußtsein wieder neu geborenen Lebens.

Mit freundl. Grüssen, Marcus
 

ENachtigall

Mitglied
Lieber Marcus,

Nach einiger Einwirkzeit und nochmaligem Lesen möchte ich hierzu noch was sagen. Und zwar, dass ich als Leserin so in Anspruch genommen war von diesem Ringen Herrn Franks ums letzte Blühen, dass ich am Schluss in diesem harten Winter zurückgeblieben bin. Die Idee
Der Winter erschafft sozusagen die Arena für das Bewußtsein wieder neu geborenen Lebens.
finde ich sehr gut, konnte es aber beim Lesen so nicht empfinden. Was aber den Wert der hervorragenden Erzählung in meinen Augen keinesfalls schmälert.

Viele Grüße
Elke
 
H

HFleiss

Gast
Ich habe die Geschichte sehr gern gelesen. Dennoch, ich muss es gestehen, gab es dann einen Punkt, trotz vieler schöner kleiner Szenen, wo ich mich fragte: Was soll denn das werden?
Worauf will denn der Autor hinaus? Dass es kalt in der Welt ist, hatte ich bis dahin doch schon begriffen. Was sollten die vielen, vielen Worte zum Winter noch? Ich habe auf die "Geschichte" gewartet, aber sie kam nicht, statt dessen kamen viele "Geschichtchen". Das machte die Sache dann irgendwann für mich nicht mehr spannend. Ich lächelte beim Lesen, ja, das kenn ich - aber mehr war nicht. Was mir auffiel, ist ein bemüht artistischer Ausdruck, skurril und mehr auf den Ausdruck als den Eindruck bedacht, sehr, sehr wortreich. Mir fehlte an diesem Text die Geschichte, die mich von Anfang bis Ende dranbleiben lässt. Vielleicht sehe ich da etwas falsch?

Lieben Gruß
Hanna
 
Hallo Elke,
ich wollte damit nur, etwas artistisch ausgedrückt, sagen, dass ich den Winter abschließen wollte, denn so wie am Ende der Geschichte nicht nur die Hoffnung, sondern die Gewissheit auf ein Wiedererwachen des Lebens auf der Erde steht, so steht uns ja auch das Wiedererwachen direkt vor der Haustür. Der Frühling hält Einzug und damit kann auch der Herr Frank in mir endlich dem Winter den Rücken kehren.

Mit freundl. Grüssen, Marcus





Hallo Hanna,
glaub mir, ich bin von meinen Geschichten immer nur so weit überzeugt, dass sie in jedem Fall mir und einer endlichen Gruppe von Lesern gefallen. Der artistische Stil ist ein bisschen Retro, naklar, aber ich mag ihn unheimlich gerne.
Was die Handlungsarmut angeht: du wirst als Leser natürlich während der ganzen Geschichte ziemlich allein und nur mit diesem artistischen Stil gelassen und nur am Schluss gibt es diesen noch gekünstelteren Absatz, der versucht, dem Ablauf der Geschichte eine Erklärung zu geben. Ob ich ein wenig zu weit ausgeholt habe, weiß ich nicht, aber auch das gefällt mir immer unheimlich gut. Es ist wohl meine Art.
In jedem Fall lese ich aus deiner Kritik die Frage nach dem literarischen Wollen heraus: was will der Autor, was will er damit sagen, vorallem, was will er von mir, was mir sagen?
Denn letztenendes hat Literatur ja auch immer ein Ziel, nicht wahr? Das könnte z.B. sein, authentisch zu sein, realitätsnah und nicht den Träumen von Glaspalästen auf den Alpen nachjagend. Ich seh mich da immer noch als Suchender und deine Kritik ist mir sehr willkommen.
Ob du mit deiner Kritik falsch liegst? Das würde ich nicht behaupten wollen. Es ist eine gute Frage.


Mit freundl. Grüssen, Marcus
 



 
Oben Unten