Der letzte Gast

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Lars Lang

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Der letzte Gast


Dies war einer der besseren Abende. Ich hatte reichlich Trinkgeld eingefahren, und das, obwohl ich meine weiße Bluse bis zum letzten Knopf geschlossen hatte. Draußen herrschte eine lauwarme Sommernacht, und die meisten Gäste waren freundlich bis unauffällig. Eine angenehm zu versorgende Herde, die sich nun langsam auf den Weg in die Nacht trollte. Ich erlaubte mir einen Seufzer, als sich die Tür hinter einer etwas größeren Gruppe schloss, von der ich wusste, dass ich sie gut bedient hatte, und wischte mir die Hände an meiner Schürze ab. Dann griff ich nach dem hölzernen Eispickel, ein Werkzeug, welches wirklich erstaunlich gut in der Hand lag und an der Spitze nur durch eine winzige Metallspitze verstärkt wurde, und bearbeitete damit das letzte Eis des Abends für einen soeben bestellten Cocktail. Der Feierabend rückte Stück für Stück näher und ich sehnte mich nach einer langen, heißen Dusche. Das Küchenpersonal hatte sich bereits vor einigen Minuten mit einem hämischen „einen schönen Abend noch“ verabschiedet, worauf ich ihnen dezent aber deutlich mit dem Mittelfinger den Weg zur Tür wies. Wir liebten diese Spielchen.
Es war sein Atem – oder genauer - sein Mundgeruch – der mir innerhalb eines Augenblicks klarmachte, dass dieser Abend nun verdorben war – so verdorben, wie das Innere seines Magens. Ich konnte die schlechte Luft fast fühlen, die in diesem Moment wie eine Schlange über meine Schulter kroch - klebrig, süß, eklig.
Der Klang seiner Stimme hielt, was sein Atem versprach. Er schleimte: „Na Mäuschen, was haben wir denn heute Abend noch vor?“ Während ich nur kurz über die Größe meiner Schneidezähne nachdachte (von wegen Mäuschen), war mir sofort klar, dass ich ihm die Geschichte mit der Dusche sicher nicht auf die Nase binden würde. Also ließ ich die Frage unbeantwortet im Raum stehen und taxierte aus dem Augenwinkel meinen zukünftigen Gegner, wobei ich versuchte, unbeirrt meiner Arbeit nachzugehen.
Mittelgroß, mitteldick, mittelalt, aber definitiv unter dem Durchschnitt gepflegt. Für einen Moment wog ich das scharfe Messer in der Hand, mit dem ich eben noch Limetten zerstückelt hatte, wobei ich ihm immer noch meine mittlerweile eiskalte Schulter zeigte. Das viele Blut würde irgendwer aufwischen müssen. Ich legte die scharfe Klinge vorsichtig auf dem Tresen ab, drehte mich ein Stück zur Seite und lächelte ihn mit einem süßsauren Lächeln an, von dem ich wusste, dass es einer Märchenhexe zur Ehre gereicht hätte.
Er schien unbeeindruckt oder betrunken – vermutlich war er beides – außerdem in einem hohen Grade wahrnehmungsgestört. Wir konnte er mich nur mit einem derartigen Schlafzimmerlächeln fixieren, wo ich grade tonnenweise Gift verspritzt hatte?
Noch bevor seine fleischige Hand auf meinem Hintern landen würde, beschloss ich, meine Taktig zu ändern.
„Isn feines Mädchen“, lallte es plötzlich von der Seite. Eric, einer unserer Stammgäste, hatte seinen Kopf vom Tresen erhoben und war offensichtlich gegen seine Gewohnheit schon wach.
„Das isn feines Mädchen!“, wiederholte er, und diesmal betonte er jedes Wort so, als wolle er mich auf dem Fischmarkt verkaufen. Außerdem brachte er tatsächlich die Kraft auf, mit dem Finger auf mich zu zeigen, damit keine Zweifel blieben, wem diese Worte galten.
Mein Gegner ließ seinen abschätzenden Blick nur für den Bruchteil einer Sekunde zu Eric schweifen. Dann war er leider wieder ganz bei mir. Seine Augen hatten Eric gescannt und sofort für unwichtig befunden. Mich hielt er offensichtlich für interessanter, denn er betrachtete mich wie ein hungriger Wolf ein blutiges Stück Fleisch betrachten würde. Zu allem Überfluss leckte er sich auch noch über die Lippen, wobei er eine Reihe gelblicher Zähne zeigte, die jemand unordentlich in seinem Mund verteilt hatte.
Ich konnte direkt sehen, wie sein sehr wahrscheinlich zu kleines Gehirn hinter seinen Schweinsäuglein arbeitete. Offensichtlich war er dabei, den zweiten Satz seiner Anmache zu formulieren, und so, wie er guckte, hätte er beim Pokern die Karten auch gleich offen auf den Tisch legen können. Er atmete ein, wurde aber erneut von der Seite unterbrochen.
„Ja, so isses“, fügte Eric schnell im 2,0 Promilleslang hinzu, um unsere Aufmerksamkeit zurückzubekommen. Er beendete sein Plädoyer mit einem kleinen Rülpser. Für weitere Argumente war er definitiv zu blau. Er atmete theatralisch ein, schien einen Moment lang nach Worten zu suchen, die sich vermutlich hinter meinem Tresen versteckt hatten, ließ die Luft dann wie eine alte Dampflok ab und legte seinen Kopf zurück auf den Tresen, wo er augenblicklich im Takt der leisen Barmusik zu schnarchen anfing. Als Verbündeter im Kampf gegen das Böse fiel er damit definitiv aus.
Ein flüchtiger Blick durch den Raum bestätigte mir, dass nun auch die letzten Gäste das Lokal verlassen hatten, das damit zur Arena wurde.
Ich überprüfte kurz meine Kleidung im Hinblick auf sportliche Betätigungen: Sneakers, Jeans und T-Shirt waren bestens für einen erfolgreichen Nahkampf geeignet, nur die Schürze, die ich jetzt nicht unbedingt für einen Ringkampf angezogen hätte, verringerte meine Chancen etwas.
Mein Gegenüber konnte sich offensichtlich immer noch nicht entscheiden, welchen der beiden ihm bekannten Anmachsprüche er nun wählen sollte. Mit immerhin geschlossenem Mund schenkte er mir so etwas wie einen verträumten Blick, wobei es ihm kaum gelang, mir in die Augen zu sehen. Unterbrochen wurde er, noch ehe er richtig den Mund öffnen konnte, von einem Nachrichtensprecher. Ich spitzte unauffällig meine Ohren und was ich hörte, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken.
„Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe. Ein gesuchter Gewaltverbrecher ist seit dem späten Nachmittag auf freiem Fuß…“
Was folgte war eine Beschreibung, die, abgesehen von dem üblen Mundgeruch, meinem Gegenüber exakt entsprach. Ich hatte ein Problem.
Hatte er das auch gehört? Würde er dieselben Schlüsse ziehen wie ich? Nur für einen Wimpernschlag lang überlegte ich, einfach aus dem Laden zu laufen. Aber ich wollte ihm mein Reich nicht kampflos überlassen. Also versuchte ich es mit Humor.
„Muss ein Zwillingsbruder von Ihnen sein“, scherzte ich, wobei ich beim Grinsen über meinen eigenen Witz mehr Zähne zeigte als eine gesamte Grundschulklasse. Mein Gegenspieler zeigte keine Regung, wobei ich auch nicht erwartete hatte, dass er sich jetzt vor Vergnügen auf die Schenkel klopfen würde. Aber es war so, als hätte die Nachricht sein Sprachzentrum endgültig zerstört und seine Gesichtszüge eingefroren. Er starrte einfach nur noch geradeaus – und genau da stand ich. Dass ich beim Polieren der Gläser eines davon in meinem Handtuch zerlegte als wäre ich Hulk, unterstrich meine mangelnde Lockerheit.
Ich legte das kaputte Glas in dem Handtuch möglichst geräuschlos neben mir auf dem Tresen ab und schnappte mir die nächstbeste Schnapsflasche.
„Ich geb´ noch einen aus und dann gehst du nach Haus“, reimte ich im Kindergartensingsang, wozu ich die Flasche schüttelte, als würde ich gleich einen leckeren Cocktail servieren. Zum Glück gelang es mir, trotz immer noch zitternder Hände, den Deckel problemlos aufzuschrauben. Gluckernd ließ ich den Schnaps in das nächstbeste, viel zu große Wasserglas fließen und beobachtete dabei mit Genugtuung, wie die Augen meines Gegenübers tatsächlich ebenfalls größer wurden.
Grund dafür war aber wohl nicht der Alkohol, sondern das Blut, das nun langsam an meinem Finger herabtropfte. Ich hatte mich an einer der verdammten Scherben geschnitten und es zunächst nicht bemerkt.
„Ups!“, rutschte es mir heraus, bevor ich einen Blick auf seinen plötzlich beunruhigend veränderten Mund warf. Ich wickelte hektisch ein Handtuch um meinen Finger und, während seine schiefen Eckzähne meinen Blick gefangen hielten, stolperte zwei Schritte rückwärts. Jetzt hätte mich durchaus jemand kneifen können, aber ich befürchtete, dass der nächste Schmerz, der mir versichern würde, dass dies kein Traum war, irgendwo im Bereich meiner Halsschlagader zuschlagen würde.
Verdammt, was half doch gleich gegen Vampire? Mit Sonnenlicht war um diese Urzeit wohl kaum zu rechnen und Weihwasser stand bei uns auch nicht auf der Karte. Noch bevor ich diese Liste in meinem Kopf beenden konnte, war er erstaunlich sportlich (war das nicht ein Vampirmerkmal) über meinen Tresen gesprungen, nicht ohne diverse Flaschen und Gläser geräuschvoll abzuräumen, und hatte mich mit einer Hand am Kragen gepackt. Zwei Knöpfe meiner Bluse sprangen ab und legten meinen Hals frei, und im nächsten Moment drehte er angewidert den Kopf zur Seite. Dies lag sicher nicht an meinem Hals, der in einem tadellosen Zustand war, sondern vermutlich an dem silbernen Kreuz, welches ich stets an einer kurzen Kette trug – ein Geschenk meiner Großmutter, dass vermutlich älter war als irgendetwas anderes in meinem Besitz und – wie sich jetzt herausstellt – aus allerbestem Silber bestand. Er schirmte kurz die Augen ab und machte ein wirklich unschönes Geräusch (konnten Vampire kotzen?) so dass ich einen Moment meinen Blick durch den Raum schweifen ließ. Und da war die Lösung! Mit zitternden Händen griff ich zu, während mein ungebetener Gast nun laut brüllend um sich schlug, wobei er weitere Flaschen und Gläser abräumte. Eric schlief übrigens unbeeindruckt weiter und hatte beim Schnarchen lediglich die Tonlage gewechselt.
Mit beiden Händen umklammerte ich nun den Holzgriff und hielt den Eispickel, der nun gleich ein Holzpflock werden würde, ausgestreckt vor meinem Körper fest. Mein Gegner fuhr herum und stürzte sich auf mich. Um seinen Körper waberte diese eklige Wolke aus süßlicher Verwesung und – jetzt war ich mir sicher – Tod. Ich drückte einfach nur die Arme durch und musste feststellen, dass meine Waffe in seinen Körper fuhr wie ein heißes Messer durch weiche Butter.
Der Typ war ja vorher schon tot, aber im Bruchteil einer Sekunde war er viel mehr als das. Er hatte gerade genug Zeit, um ein weiteres Mal diese wirklich ekligen Geräusche zu machen, dann brach er vor mir zusammen.
Ich erlaubte mir, endlich wieder zu atmen. Dann legte ich meine Waffe zur Seite und tätschelte sie geistesabwesend wie ein braves Pferd. Mein Chef sollte recht behalten: Dieses Werkzeug leistete einem wirklich gute Dienste. Ein weiteres Mal betrachtete ich das Chaos, in dem nur Eric unverändert an seinem Platz war. Ich würde noch etwas aufräumen müssen, bevor es unter die Dusche ging. Und die hatte ich mir heute wirklich verdient.
 



 
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