Horst M. Radmacher
Mitglied
Unter den verschiedenen ärztlichen Fachrichtungen gibt es einige, die in der Allgemeinheit weniger bekannt sind, zum Beispiel die Endokrinologie, die Lehre von Drüsen und deren Sekrete. Im Bereich Tiermedizin kommt diese Disziplin noch seltener vor. Dr. Kurt Bensheim aus Göttingen gehört zu diesen wenigen Experten. In seiner knappen freien Zeit befasst er sich gerne mit Studien. So hat er kürzlich eine gelesen, in der behauptet wird, dass Lemminge doch einen gemeinsamen Suizid begehen, was seit Jahren als Narrativ gerne erzählt wird, aber eine Legende ist. Zunächst las sich die neue Erkenntnis exotisch, was Kollegen aus Freiburg diesbezüglich herausgefunden haben wollten, aber der Göttinger Spezialist fand in der Studie einen interessanten Anhaltspunkt. Es hieß dort, es würde sich bei dieser kollektiven Selbsttötung um eine hormongesteuerte Reaktion handeln. Die Lemminge würden auf diese Art einer drohenden Überbevölkerung gegenwirken. Und diese Erscheinung wurde auch nur bei einer bisher unentdeckten Population der kleinen Nager festgestellt. Es sind Lemminge auf einer der Inseln Südgeorgiens, im Südatlantik, nahe den Falkland Inseln gelegen. Es ist vorher noch nie von dort vorkommenden Lemmingen berichtet worden. Dr. Bensheim machte sich auf den Weg in diese subantarktische Gegend. Dort angekommen, musste er erst einmal einige Wochen in dieser Einöde verharren. Die scheuen Tiere sind Einzelgänger und er bekam keines von ihnen zu Gesicht. Dann war es soweit. Lemminge so weit das Auge reicht. Der Forscher war erschrocken, er sah schon die ersten Tiere die Klippen hinunterstürzen, aber nicht in Selbstmordabsicht, wie sich herausstellte. Die große Schar war durch eine Horde von Hermelinen aufgeschreckt und gejagt worden. Die meisten liefen panisch auf die Klippe zu und stürzten ab, der Rest wurde von den Raubmardern gefressen. Von wegen Selbsttötung!
Kurt Bensheim griff in das Geschehen ein, er konnte den letzten der Lemminge mit einem kühnen Sprung greifen. Für einen sechzigjährigen Nichtsportler eine gelungene Aktion. Hierbei strauchelte er und schrammte über die raue Oberfläche der scharfkantigen Felsen. Fast wäre er mit dem Lemming in der Hand über die Kante gerutscht. Er benötigte unbedingt eine Blutprobe eines der Tiere zur Hormonbestimmung, um den Unfug vom kollektiven Selbstmord widerlegen zu können, denn er war schließlich Augenzeuge des wahren Sachverhalts geworden. Die blutende Schürfwunde beachtete er nicht weiter, die würde er versorgen, nachdem er dem Lemming Blut für eine Hormonuntersuchung entnommen hätte. Das war dann schnell erledigt, er ließ den Nager danach wieder frei. Und wie Dr. Bensheim vermutete, rannte dieser nicht den anderen Tieren hinterher; Suizid wird hier, falls überhaupt, wohl nur solo begangen.
Dr. Bensheim hatte vor, seine Rückreise über Kapstadt in Südafrika vorzunehmen, was zwar zeitaufwändiger als eine über die Falkland Inseln ist, aber mit der Ehefrau Bensheims so vereinbart war. Rosa Bensheim wollte die Gelegenheit nutzen, um dort auf der Kap-Halbinsel eine botanische Fotodokumentation zu erstellen. Einige paar Tage gemeinsamer Urlaub sollten anschließend folgen. Die jetzt doch stärker schmerzende Wunde würde bis zu dem Zeitpunkt wohl verheilt sein. Das war sie dann letztlich nicht, aber mit geringfügigen Einschränkungen konnte Kurt Bensheim seine Frau auf den Pfaden durch die südafrikanische Busch- und Savannenlandschaft begleiten.
Zwei Wochen nach der Rückkehr in Deutschland verschlimmerte sich der Zustand der schlecht verheilten Wunde, sie entzündete sich. Trotz antibiotischer Behandlung war keine Besserung in Sicht. Im Gegenteil. Waren die Beschwerden zunächst auf den lokalen Bereich beschränkt gewesen, so folgte nun zusätzlich eine Beeinträchtigung seines Allgemeinbefindens. Kurt Bensheim litt unter Fieber, er wurde zusehends müder und antriebsschwach. Die meiste Zeit des Tages verbrachte er liegend, sein Interesse an alltäglichen Dingen schwand. Ehefrau Rosa war entsetzt. Sie sah die Ursache der Verschlechterung in ihren Märschen durch den afrikanischen Busch. Dort war es wohl zu einer Zweitinfektion gekommen. Sie gab sich die Schuld an dem Zustand ihres Mannes; denn sie hatte dieses Pirschen durch die Wildnis schließlich angeregt. Von einem tiefen Mitgefühl geleitet, saß sie nun täglich stundenlang neben dem Bett ihres Mannes. Sie strich über seine Hand und flüsterte: “Kurt, das kriegen wir hin, das wird schon wieder.” Diese Betreuung wurde zum Vollzeitjob, sie musste ihre berufliche Tätigkeit aufgeben. Der Zustand Kurt Bensheims veränderte sich jedoch nicht, wohl aber der seiner Ehefrau. Rosa hatte im Laufe der Zeit immer stärker mit ihrem Mann gelitten, sie fühlte inzwischen wie dieser. Die Grenze zum Zustand einer Co-Patientin war überschritten. Sie hatte seine Erkrankung zu der ihren gemacht. Für Außenstehende war es jetzt nicht mehr möglich, herauszufinden, wer von beiden der ursprüngliche Patient denn nun wirklich wäre. Kurt war tatsächlich krank, aber stabil - mit Rosa ging es gesundheitlich immer weiter bergab, auch mental. Sie war irgendwann in eine weitaus stärkere Apathie gefallen als ihr Mann. Es gab keinen anderen Weg, als den in eine stationäre Betreuung in einem Pflegeheim.
Als Kurt Bensheim zu einem späteren Zeitpunkt für eine weiterführende Untersuchung ins Tropeninstitut nach Hamburg gebracht wurde, nahm das Schicksal eine glückliche Wendung. Dort wurde er unter anderem von der Praktikantin Fredah Kamba aus Malawi betreut. Die hatte solch einen Krankheitsverlauf schon vorher einmal gesehen, und zwar bei dem Dorfschmied in ihrem Heimatort. Sie wusste daher, dass diese Erscheinung von einer im südlichen Afrika heimischen, seltenen Wurmart verursacht wird. Bei dem Schmied hatte seinerzeit eine Behandlung mit einem Wurzelextrakt einer dort endemischen Pflanze geholfen. Die deutschen Ärzte in Hamburg hörten sich dieses interessiert an. Sie beschlossen, dieses Verfahren bei Kurt Bensheim als ultimativen Heilungsversuch anzuwenden. Der Extrakt aus der afrikanischen Pflanze wurde nach Deutschland eingeflogen. Was dann geschah, grenzte an ein Wunder. Die Medizin wirkte, zunächst nur langsam, aber dann, nach sechs Wochen, war Dr. Bensheim wieder in der Lage, seinen Alltag ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Bald konnte er wieder seiner Arbeit nachgehen. Die meiste seiner freien Zeit verbrachte Kurt im Pflegeheim bei seiner Frau Rosa. Er saß dort stundenlang neben ihrem Bett und hielt ihr die Hand. In ihren seltenen klaren Momenten strich diese ihm über seinen Handrücken und flüsterte: “Kurt, das kriegen wir hin, das wird schon wieder.”
Kurt Bensheim griff in das Geschehen ein, er konnte den letzten der Lemminge mit einem kühnen Sprung greifen. Für einen sechzigjährigen Nichtsportler eine gelungene Aktion. Hierbei strauchelte er und schrammte über die raue Oberfläche der scharfkantigen Felsen. Fast wäre er mit dem Lemming in der Hand über die Kante gerutscht. Er benötigte unbedingt eine Blutprobe eines der Tiere zur Hormonbestimmung, um den Unfug vom kollektiven Selbstmord widerlegen zu können, denn er war schließlich Augenzeuge des wahren Sachverhalts geworden. Die blutende Schürfwunde beachtete er nicht weiter, die würde er versorgen, nachdem er dem Lemming Blut für eine Hormonuntersuchung entnommen hätte. Das war dann schnell erledigt, er ließ den Nager danach wieder frei. Und wie Dr. Bensheim vermutete, rannte dieser nicht den anderen Tieren hinterher; Suizid wird hier, falls überhaupt, wohl nur solo begangen.
Dr. Bensheim hatte vor, seine Rückreise über Kapstadt in Südafrika vorzunehmen, was zwar zeitaufwändiger als eine über die Falkland Inseln ist, aber mit der Ehefrau Bensheims so vereinbart war. Rosa Bensheim wollte die Gelegenheit nutzen, um dort auf der Kap-Halbinsel eine botanische Fotodokumentation zu erstellen. Einige paar Tage gemeinsamer Urlaub sollten anschließend folgen. Die jetzt doch stärker schmerzende Wunde würde bis zu dem Zeitpunkt wohl verheilt sein. Das war sie dann letztlich nicht, aber mit geringfügigen Einschränkungen konnte Kurt Bensheim seine Frau auf den Pfaden durch die südafrikanische Busch- und Savannenlandschaft begleiten.
Zwei Wochen nach der Rückkehr in Deutschland verschlimmerte sich der Zustand der schlecht verheilten Wunde, sie entzündete sich. Trotz antibiotischer Behandlung war keine Besserung in Sicht. Im Gegenteil. Waren die Beschwerden zunächst auf den lokalen Bereich beschränkt gewesen, so folgte nun zusätzlich eine Beeinträchtigung seines Allgemeinbefindens. Kurt Bensheim litt unter Fieber, er wurde zusehends müder und antriebsschwach. Die meiste Zeit des Tages verbrachte er liegend, sein Interesse an alltäglichen Dingen schwand. Ehefrau Rosa war entsetzt. Sie sah die Ursache der Verschlechterung in ihren Märschen durch den afrikanischen Busch. Dort war es wohl zu einer Zweitinfektion gekommen. Sie gab sich die Schuld an dem Zustand ihres Mannes; denn sie hatte dieses Pirschen durch die Wildnis schließlich angeregt. Von einem tiefen Mitgefühl geleitet, saß sie nun täglich stundenlang neben dem Bett ihres Mannes. Sie strich über seine Hand und flüsterte: “Kurt, das kriegen wir hin, das wird schon wieder.” Diese Betreuung wurde zum Vollzeitjob, sie musste ihre berufliche Tätigkeit aufgeben. Der Zustand Kurt Bensheims veränderte sich jedoch nicht, wohl aber der seiner Ehefrau. Rosa hatte im Laufe der Zeit immer stärker mit ihrem Mann gelitten, sie fühlte inzwischen wie dieser. Die Grenze zum Zustand einer Co-Patientin war überschritten. Sie hatte seine Erkrankung zu der ihren gemacht. Für Außenstehende war es jetzt nicht mehr möglich, herauszufinden, wer von beiden der ursprüngliche Patient denn nun wirklich wäre. Kurt war tatsächlich krank, aber stabil - mit Rosa ging es gesundheitlich immer weiter bergab, auch mental. Sie war irgendwann in eine weitaus stärkere Apathie gefallen als ihr Mann. Es gab keinen anderen Weg, als den in eine stationäre Betreuung in einem Pflegeheim.
Als Kurt Bensheim zu einem späteren Zeitpunkt für eine weiterführende Untersuchung ins Tropeninstitut nach Hamburg gebracht wurde, nahm das Schicksal eine glückliche Wendung. Dort wurde er unter anderem von der Praktikantin Fredah Kamba aus Malawi betreut. Die hatte solch einen Krankheitsverlauf schon vorher einmal gesehen, und zwar bei dem Dorfschmied in ihrem Heimatort. Sie wusste daher, dass diese Erscheinung von einer im südlichen Afrika heimischen, seltenen Wurmart verursacht wird. Bei dem Schmied hatte seinerzeit eine Behandlung mit einem Wurzelextrakt einer dort endemischen Pflanze geholfen. Die deutschen Ärzte in Hamburg hörten sich dieses interessiert an. Sie beschlossen, dieses Verfahren bei Kurt Bensheim als ultimativen Heilungsversuch anzuwenden. Der Extrakt aus der afrikanischen Pflanze wurde nach Deutschland eingeflogen. Was dann geschah, grenzte an ein Wunder. Die Medizin wirkte, zunächst nur langsam, aber dann, nach sechs Wochen, war Dr. Bensheim wieder in der Lage, seinen Alltag ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Bald konnte er wieder seiner Arbeit nachgehen. Die meiste seiner freien Zeit verbrachte Kurt im Pflegeheim bei seiner Frau Rosa. Er saß dort stundenlang neben ihrem Bett und hielt ihr die Hand. In ihren seltenen klaren Momenten strich diese ihm über seinen Handrücken und flüsterte: “Kurt, das kriegen wir hin, das wird schon wieder.”