sesch nesut
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Der letzte Zug
Beladen wie ein Packesel kämpfe ich mich durch die miefige Innenstadt Richtung Bahnhof.
Werkssirenen heulen. Ich bin nahe daran, es ihnen gleich zu tun.
Werde ich es wirklich schaffen?
Hastig schaue ich zur Uhr, 11:32 Uhr. Um 5 vor 12 geht mein Zug.
Nach ein paar Straßenecken stehe ich vorm Bahnhof. Ein schwefelgelbes Ungetüm aus Vorkriegstagen. Ich haste hinein. Jetzt noch ein Ticket kaufen und dann die lange Fahrt. Ich merke, wie mir der Schweiß auf die Stirn tritt.
Am Schalter hat sich eine lange Schlange gebildet, doch es geht schnell.
Der Schalterbeamte schiebt mir das Ticket rüber: "Gleis 1".
Ich sehe ihn an. "Was macht es?"
"Nichts!", murmelt er lustlos, "dafür wird die Rückfahrt richtig teuer".
Ich würge ein "Aha" hervor, bevor ich mich im Laufschritt zum Bahnsteig begebe.
Selten bin ich einer größeren Menschenmenge begegnet als hier. Dicht gedrängt stehen sie herum. Ich bahne mir den Weg zum Gleis.
"Du wirst mir fehlen, Heinz" schnappe ich auf, dann ein Rothaariger: "Noch kannst du mitfahren. Überleg’s dir!".
Ein Satz aus einem Kriminalroman fällt mir ein: Die wichtigsten Dinge im Leben muss ein Mann allein erledigen.
Ein Pfiff, der Zug fährt ein.
Ich trete meine Zigarette aus und kämpfe mich hinein.
Gerangel um einen Sitzplatz. Ich habe Glück und finde ein Abteil mit einem Paar und einem dünnen Mann darin. Ich quetsche mich neben ihn. Während ich meine Koffer mit der Ferse unter den Sitz schiebe, sende ich ein Dankgebet gen Himmel.
Ein weiterer Pfiff, die Fahrt beginnt. Ich habe Sodbrennen.
Warum kriege ich jetzt Sodbrennen? Wut steigt in mir auf. Als habe ich es nicht schwer genug.
Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Erstaunt sehe ich sie an.
Wie nutzlos mir plötzlich diese Hände erscheinen, fast fremd.
Um mich abzulenken taxiere ich das Paar gegenüber.
Er ist ein Fettsack. Sein Doppelkinn hängt über dem viel zu engen Kragen des durchschwitzten Hemdes.
Sie hat ein Frettchengesicht. Ihr Blick ist huschig und ständig nagt sie an ihrer Unterlippe.
Der Mann neben mir starrt aus dem Fenster. Ich ahne, dass er nicht ansatzweise wahrnimmt, was dort draußen vorüberzieht. Ich folge seinem Blick und sehe in der Scheibe jemanden, der ich ist und doch ein anderer. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit mir. Das dunkle Haar, das über die etwas zu groß geratenen Ohren fällt, der sensible Mund... und doch. Das Gesicht ist bleich und die Augen weit aufgerissen.
Als das Frettchen beginnt, sich die Fingernägel abzukauen, greife ich zum Buch in meiner Jackentasche.
'16 Uhr 50 ab Paddington'. Hoffentlich bewahrt es mich vorm Durchdrehen.
Bevor ich es aufschlagen kann, öffnet sich die Tür. Ein Schaffner mit einem Bauchladen tritt herein. "Süßwaren, Zigaretten, Alkohol, Rauschmittel?", fragt er schmierig grinsend.
Der Dicke erwacht aus seinem Koma und starrt den Schaffner an. Wir alle starren ihn an.
Während der Dicke aufspringt und sich unter lautem Protest des Frettchens einen Schokoriegel kauft, springe ich zum Fenster und reiße es auf. Der eiskalte Zugwind scheint mir das Gesicht zu zerfetzen, während sich hinter mir ein Drama abspielt. Das Frettchen weint und zetert auf den Dicken ein und ohne mich umzudrehen weiß ich, dass kein Wort davon zu ihm dringt.
"Kommen Sie", sagt der dünne Mann und zieht mich am Pullover vom Fenster weg. "Sie haben doch wohl nicht diesen Zug genommen, um sich den Tod zu holen".
Wortlos lasse ich mich auf meinen Platz sinken.
Das Frettchen weint in ein Taschentuch. Der Dicke starrt wortlos ins Leere.
Ich verstehe sie. Oh Gott, wie sehr ich sie verstehe.
Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Der Schaffner von vorhin öffnet das Abteil und greift den Koffer des Paares. "Ich bedaure sehr, dass Sie uns beim nächsten Halt verlassen müssen. Ich hoffe, Sie beehren uns bald wieder".
Die Frau weint noch immer, sie scheint untröstlich zu sein.
Am Bahnhof verlassen eine Menge Leute den Zug.
"Wie weit es wohl noch ist?" murmle ich vor mich hin und starre auf meine seltsamen Hände.
"So weit, wie es Ihnen erscheint!", erwidert der dünne Mann.
"Sind Sie Philosoph?", spotte ich und reibe mir das müde Gesicht.
"So was Ähnliches, mein Junge, so was Ähnliches".
Ich überlege kurz, wer mich zum letzten Mal "Junge" genannt hat, als die Tür zum Abteil aufgerissen wird.
"Süßwaren, Zigaretten, Alkohol, Rauschmitt...!"
Mit zwei Schritten bin ich beim Schaffner, packe ihn am Schlafittchen und presse ihn an die Wand.
"Was fällt Ihnen ein", schreie ich ihn an. "Wissen Sie eigentlich, was Sie da tun?".
Mit einem Stoß befördere ich ihn aus dem Abteil und lehne mich erschöpft an die geschlossene Tür.
"Beim nächsten Mal schmeiße ich ihn aus dem Zug".
Der dünne Mann lacht.
"Was gibt's da zu lachen? Ich meine es ernst!"
"Sind Sie wirklich ärgerlich auf ihn, oder sind Sie es selbst, der Sie so rasend macht? Sehen Sie, er tut doch nur seinen Job".
"Ach, was weiß denn ich". Trotzig lasse ich mich in den Sitz fallen. "Vielleicht ist es besser, wenn ich an der nächsten Station aussteige".
"Obwohl Sie wissen, dass Sie eine Rückreise teuer zu stehen kommt? Außerdem bringt es nichts. Ihr Problem nehmen sie mit".
"Ach, und was ist mein Problem, Herr Neunmalklug?"
"Sie, mein Junge. Sie!"
Tag reiht sich an Tag, Station an Station.
Ich starre in den Himmel, der sich nach Wochen gräulicher Düsternis aufzuklären beginnt.
Manchmal dringt sogar ein Sonnenstrahl hindurch. Und vermag er mich auch nicht zu wärmen, so hinterlässt er doch ein leises Ahnen auf Hoffnung in meinem Herzen.
"Süßwaren, Zigaretten…", tönt es in bekannter Manier.
"Danke, wir haben alles was wir brauchen", höre ich mich sagen.
Der Schaffner schließt die Tür, neben mir kichert es.
"Was ist so lustig? ", frage ich den dünnen Mann.
"Och, nichts weiter. Ich freue mich nur".
Komischer Vogel, denke ich, und schlage mein Buch auf.
Gerade als Miss Marple den Heiratsantrag Luther Ackenthorpes ausschlägt, bremst der Zug.
"Schon wieder eine Station", sage ich zum dünnen Mann. "Mal gucken, wie viele heute aussteigen".
"Drei", antwortet dieser, ohne von seiner Zeitschrift aufzusehen. "Hier ist Endstation".
"Endstation?", flüstere ich und starre ihn an. "Sie meinen, wir sind am Ziel; wir haben es endlich geschafft?"
Der dünne Mann schmunzelt: "Ja, genau das meine ich".
Ich stürze zur Bank, ziehe die Koffer hervor und feuere ihn an.
"Kommen Sie, kommen Sie, wir sind am Ziel! Worauf warten Sie denn noch?"
"Irrtum, mein Junge, Sie sind am Ziel. Ich fahre wieder zurück".
"Zurück? Aber wozu dann all die Strapazen? Das ist doch widersinnig… und teuer, haben Sie gesagt".
"Kostet gar nichts für mich. Ich habe ein Freundschaftsticket".
"Oh", stammele ich. Mehr fällt mir gerade nicht ein.
"Leb wohl, mein Junge, und das meine ich auch so". Sein gespielt strenger Blick folgt mir zur Tür.
"Ach, noch eine Frage", ich drehe mich zu ihm um. "Woher wissen Sie, dass nur noch drei übrig sind?".
"Och, es sind selten mehr als drei", antwortet er und vertieft sich wieder in die Zeitschrift.
Draußen scheint die Sonne und es duftet leicht nach Lavendel und Rosen. Hier werde ich also zu Hause sein. Ich sehe mich um und entdecke eine alte Frau und einen Typ mit Rucksack, die sich ebenso ungläubig umsehen wie ich.
Ich winke ihnen kurz zu, schnappe meine Koffer und begebe mich in eine nikotinlose Zukunft voller Farben und Wohlgerüche.
Die Reise war hart. Zu hart, um sie noch einmal zurückzulegen.
Die Reise von Wardochimmerso nach Neu-Denken.
Beladen wie ein Packesel kämpfe ich mich durch die miefige Innenstadt Richtung Bahnhof.
Werkssirenen heulen. Ich bin nahe daran, es ihnen gleich zu tun.
Werde ich es wirklich schaffen?
Hastig schaue ich zur Uhr, 11:32 Uhr. Um 5 vor 12 geht mein Zug.
Nach ein paar Straßenecken stehe ich vorm Bahnhof. Ein schwefelgelbes Ungetüm aus Vorkriegstagen. Ich haste hinein. Jetzt noch ein Ticket kaufen und dann die lange Fahrt. Ich merke, wie mir der Schweiß auf die Stirn tritt.
Am Schalter hat sich eine lange Schlange gebildet, doch es geht schnell.
Der Schalterbeamte schiebt mir das Ticket rüber: "Gleis 1".
Ich sehe ihn an. "Was macht es?"
"Nichts!", murmelt er lustlos, "dafür wird die Rückfahrt richtig teuer".
Ich würge ein "Aha" hervor, bevor ich mich im Laufschritt zum Bahnsteig begebe.
Selten bin ich einer größeren Menschenmenge begegnet als hier. Dicht gedrängt stehen sie herum. Ich bahne mir den Weg zum Gleis.
"Du wirst mir fehlen, Heinz" schnappe ich auf, dann ein Rothaariger: "Noch kannst du mitfahren. Überleg’s dir!".
Ein Satz aus einem Kriminalroman fällt mir ein: Die wichtigsten Dinge im Leben muss ein Mann allein erledigen.
Ein Pfiff, der Zug fährt ein.
Ich trete meine Zigarette aus und kämpfe mich hinein.
Gerangel um einen Sitzplatz. Ich habe Glück und finde ein Abteil mit einem Paar und einem dünnen Mann darin. Ich quetsche mich neben ihn. Während ich meine Koffer mit der Ferse unter den Sitz schiebe, sende ich ein Dankgebet gen Himmel.
Ein weiterer Pfiff, die Fahrt beginnt. Ich habe Sodbrennen.
Warum kriege ich jetzt Sodbrennen? Wut steigt in mir auf. Als habe ich es nicht schwer genug.
Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Erstaunt sehe ich sie an.
Wie nutzlos mir plötzlich diese Hände erscheinen, fast fremd.
Um mich abzulenken taxiere ich das Paar gegenüber.
Er ist ein Fettsack. Sein Doppelkinn hängt über dem viel zu engen Kragen des durchschwitzten Hemdes.
Sie hat ein Frettchengesicht. Ihr Blick ist huschig und ständig nagt sie an ihrer Unterlippe.
Der Mann neben mir starrt aus dem Fenster. Ich ahne, dass er nicht ansatzweise wahrnimmt, was dort draußen vorüberzieht. Ich folge seinem Blick und sehe in der Scheibe jemanden, der ich ist und doch ein anderer. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit mir. Das dunkle Haar, das über die etwas zu groß geratenen Ohren fällt, der sensible Mund... und doch. Das Gesicht ist bleich und die Augen weit aufgerissen.
Als das Frettchen beginnt, sich die Fingernägel abzukauen, greife ich zum Buch in meiner Jackentasche.
'16 Uhr 50 ab Paddington'. Hoffentlich bewahrt es mich vorm Durchdrehen.
Bevor ich es aufschlagen kann, öffnet sich die Tür. Ein Schaffner mit einem Bauchladen tritt herein. "Süßwaren, Zigaretten, Alkohol, Rauschmittel?", fragt er schmierig grinsend.
Der Dicke erwacht aus seinem Koma und starrt den Schaffner an. Wir alle starren ihn an.
Während der Dicke aufspringt und sich unter lautem Protest des Frettchens einen Schokoriegel kauft, springe ich zum Fenster und reiße es auf. Der eiskalte Zugwind scheint mir das Gesicht zu zerfetzen, während sich hinter mir ein Drama abspielt. Das Frettchen weint und zetert auf den Dicken ein und ohne mich umzudrehen weiß ich, dass kein Wort davon zu ihm dringt.
"Kommen Sie", sagt der dünne Mann und zieht mich am Pullover vom Fenster weg. "Sie haben doch wohl nicht diesen Zug genommen, um sich den Tod zu holen".
Wortlos lasse ich mich auf meinen Platz sinken.
Das Frettchen weint in ein Taschentuch. Der Dicke starrt wortlos ins Leere.
Ich verstehe sie. Oh Gott, wie sehr ich sie verstehe.
Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Der Schaffner von vorhin öffnet das Abteil und greift den Koffer des Paares. "Ich bedaure sehr, dass Sie uns beim nächsten Halt verlassen müssen. Ich hoffe, Sie beehren uns bald wieder".
Die Frau weint noch immer, sie scheint untröstlich zu sein.
Am Bahnhof verlassen eine Menge Leute den Zug.
"Wie weit es wohl noch ist?" murmle ich vor mich hin und starre auf meine seltsamen Hände.
"So weit, wie es Ihnen erscheint!", erwidert der dünne Mann.
"Sind Sie Philosoph?", spotte ich und reibe mir das müde Gesicht.
"So was Ähnliches, mein Junge, so was Ähnliches".
Ich überlege kurz, wer mich zum letzten Mal "Junge" genannt hat, als die Tür zum Abteil aufgerissen wird.
"Süßwaren, Zigaretten, Alkohol, Rauschmitt...!"
Mit zwei Schritten bin ich beim Schaffner, packe ihn am Schlafittchen und presse ihn an die Wand.
"Was fällt Ihnen ein", schreie ich ihn an. "Wissen Sie eigentlich, was Sie da tun?".
Mit einem Stoß befördere ich ihn aus dem Abteil und lehne mich erschöpft an die geschlossene Tür.
"Beim nächsten Mal schmeiße ich ihn aus dem Zug".
Der dünne Mann lacht.
"Was gibt's da zu lachen? Ich meine es ernst!"
"Sind Sie wirklich ärgerlich auf ihn, oder sind Sie es selbst, der Sie so rasend macht? Sehen Sie, er tut doch nur seinen Job".
"Ach, was weiß denn ich". Trotzig lasse ich mich in den Sitz fallen. "Vielleicht ist es besser, wenn ich an der nächsten Station aussteige".
"Obwohl Sie wissen, dass Sie eine Rückreise teuer zu stehen kommt? Außerdem bringt es nichts. Ihr Problem nehmen sie mit".
"Ach, und was ist mein Problem, Herr Neunmalklug?"
"Sie, mein Junge. Sie!"
Tag reiht sich an Tag, Station an Station.
Ich starre in den Himmel, der sich nach Wochen gräulicher Düsternis aufzuklären beginnt.
Manchmal dringt sogar ein Sonnenstrahl hindurch. Und vermag er mich auch nicht zu wärmen, so hinterlässt er doch ein leises Ahnen auf Hoffnung in meinem Herzen.
"Süßwaren, Zigaretten…", tönt es in bekannter Manier.
"Danke, wir haben alles was wir brauchen", höre ich mich sagen.
Der Schaffner schließt die Tür, neben mir kichert es.
"Was ist so lustig? ", frage ich den dünnen Mann.
"Och, nichts weiter. Ich freue mich nur".
Komischer Vogel, denke ich, und schlage mein Buch auf.
Gerade als Miss Marple den Heiratsantrag Luther Ackenthorpes ausschlägt, bremst der Zug.
"Schon wieder eine Station", sage ich zum dünnen Mann. "Mal gucken, wie viele heute aussteigen".
"Drei", antwortet dieser, ohne von seiner Zeitschrift aufzusehen. "Hier ist Endstation".
"Endstation?", flüstere ich und starre ihn an. "Sie meinen, wir sind am Ziel; wir haben es endlich geschafft?"
Der dünne Mann schmunzelt: "Ja, genau das meine ich".
Ich stürze zur Bank, ziehe die Koffer hervor und feuere ihn an.
"Kommen Sie, kommen Sie, wir sind am Ziel! Worauf warten Sie denn noch?"
"Irrtum, mein Junge, Sie sind am Ziel. Ich fahre wieder zurück".
"Zurück? Aber wozu dann all die Strapazen? Das ist doch widersinnig… und teuer, haben Sie gesagt".
"Kostet gar nichts für mich. Ich habe ein Freundschaftsticket".
"Oh", stammele ich. Mehr fällt mir gerade nicht ein.
"Leb wohl, mein Junge, und das meine ich auch so". Sein gespielt strenger Blick folgt mir zur Tür.
"Ach, noch eine Frage", ich drehe mich zu ihm um. "Woher wissen Sie, dass nur noch drei übrig sind?".
"Och, es sind selten mehr als drei", antwortet er und vertieft sich wieder in die Zeitschrift.
Draußen scheint die Sonne und es duftet leicht nach Lavendel und Rosen. Hier werde ich also zu Hause sein. Ich sehe mich um und entdecke eine alte Frau und einen Typ mit Rucksack, die sich ebenso ungläubig umsehen wie ich.
Ich winke ihnen kurz zu, schnappe meine Koffer und begebe mich in eine nikotinlose Zukunft voller Farben und Wohlgerüche.
Die Reise war hart. Zu hart, um sie noch einmal zurückzulegen.
Die Reise von Wardochimmerso nach Neu-Denken.