Der Likörschrank meiner Großmutter

Hagen

Mitglied
Der Likörschrank meiner Großmutter

Zu meinen Kindertagen in der Nachkriegszeit war der Likörschrank, pardon, ‘Cave de Liqueur’ meiner seligen Frau Großmutter das Schmuckstück unseres Wohnzimmers.
Der ‘Cave de Liqueur‘ meiner Großmutter besteht aus erlesenem Kirschbaumholz und ist mit wunderbaren Intarsien sowie einer Boulle-Marketerie – eine Rose aus Schildpatt darstellend – versehen. Im Inneren befinden sich 4 ziselierte Karaffen noch immer geheimnisvollen Inhalts, sowie 16 ebenfalls ziselierte Likörgläschen. Auf der Innenseite der zu damaligen Zeiten stets sorgsam verschlossenen Tür befindet sich ein Spruch in französischer Sprache, welcher frei übersetzt lautet:

Sei zufrieden mit dem, was Dir beschieden,
entbehre nicht was Du nicht hast.
Ein jeder Stand hat seinen Frieden,
ein jeder Stand hat seine Last.

Mein Großvater übersetzte die zweite Zeile stets mit: ‘Entbehre gern was du nicht magst‘, woraufhin er – so ich zugegen war – stets mächtig gerügt wurde, denn, und meine Frau Großmutter hob Stimme und Zeigefinger:
„Mein Cave de Liqueur hat zwei Weltkriege überstanden!“
Ob die feinen Damen aus der weitläufigen Nachbarschaft das auch so sahen, wenn sie zur Verkostung der Liköre bei uns einfielen ‘wie die Krähen auf dem frisch eingesäten Acker‘, wie mein Vater es zu formulieren pflegte, bevor er sich in Sicherheit bringen konnte, vermochte ich auch im Nachhinein nicht in Erfahrung zu bringen.
Die ‘feinen Damen‘ habe ich lediglich nebulös in Erinnerung, bis auf Fräulein von ‘Süßlich‘. Ihren richtigen Namen habe ich erfolgreich verdrängt, weil sie mich, den ‘goldigen Knaben‘, stets, umweht von süßlichem Mundgeruch, erbarmungslos niederknutschte, so sie meiner habhaft werden konnte.
Und dann war da noch Tante Schukow!
Tante Schukow beteuerte oft und gerne nicht mit General Georgi Konstantinowitsch Schukow verwandt zu sein. Allerdings brachte Tante Schukow hin und wieder mal ein Fläschchen Wodka oder andere Bestandteile für die selbstgemachten Liköre meiner Großmutter mit, die von dieser umgehend konfisziert und vor und ganz besonders nach ihrer ‘Veredelung‘ unter strengstem Verschluss gehalten wurden.
Die Beschaffung der Grundstoffe für einen ordentlichen Liqueur war in der Nachkriegszeit immer ein echtes Problem. Mein Großvater, seinerzeit als Buchhalter bei einer Lagerhausgesellschaft im Hafen angestellt – in gehobener Position, wie meine Frau Großmutter mit eindringlichem Blick und erhobenem Zeigefinger stets betonte – nutzte sein Insider-Wissen und kam hin und wieder mit ansonsten schwer zu beschaffenden Ingredienzien für den einen oder anderen ausgesprochen delikaten Liqueur nach Hause.
Ich erinnere mich noch an den Jubelschrei meiner Großmutter, als mein Großvater einmal eine Flasche Enzian, Orangen, richtigen Bohnenkaffee und weißen Kandiszucker mitbrachte. Meine Großmutter pflegte die Orange mit 20 bis 30 Kaffeebohnen zu spicken, ein halbes Pfund Kandiszucker in ein Ansatzglas zu geben, die Orange noch einige Male einzustechen, auf den Zucker zu legen und solange Enzian dazu zugießen, bis die Orange etwa einen Fingerbreit bedeckt war. Dieses Konglomerat reifte dann 3 Monate zugedeckt hoch oben auf dem Küchenschrank.
Die feinen Damen, die uns stets zu Ostern zur ‘Verkostung des himmlischen Orangenlikörs‘ heimsuchten, verdrehten stets vor Verzückung die Augen, was den Überbiss von Fräulein von Süßlich markant hervorhob.
Als der Bedarf an ‘Selbstgemachtem‘ drastisch anstieg, denn meine Großmutter pflegte hin und wieder mal ein gutes Fläschen zu verschenken, war mein Großvater zur Beschaffung der Grundsubstanzen erneut gefragt.
Zeitgleich bekam ich von meinem Großvater den Bausatz einer richtigen, kleinen Dampfmaschine, die ich gemeinsam mit ihm zusammenbaute und in Betrieb nahm. Ein wunderbares Stück mit hochglanzpoliertem und vernickeltem Messingkessel, sowie als Schauglas ausgebildetem Wasserstandsanzeiger. Das altkupferfarbene Kesselhaus mit Ziegelsteinmuster barg Messingschwingzylinder und Kolben, Domdampfpfeife und ein Schwungrad mit Antriebsscheibe. Befeuert wurde das Maschinchen mit Trockenspiritus vom Typ Dampfmaschinen 01020 Esbit-Trockenbrennstoff - Z 81.
Einen Zusammenhang erkannte ich erst Jahrzehnte später, als ich erfuhr, dass man beim Destillieren trinkbaren Alkohols den Alterungsprozess erheblich verkürzt, indem man ein Stück Trockenspiritus beigibt. Bei welchem Arbeitsgang der Trockenspiritus allerdings hinzugefügt werden sollte, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Fakt ist jedoch, dass mein Großvater und ich die Dampfmaschine sehr oft in Betrieb nahmen, was von meiner Großmutter nicht sonderlich gerne gesehen wurde; - vermutete sie bereits ‘Ansätze von präsentiller Demenz‘ bei ihrem geliebten Gatten, weil er sich öfter als altersgerecht zu diesen Spielchen mit mir herab ließ.
Mein Großvater indes nahm es mit Gelassenheit, denn auf diese Weise war der Einkauf von Trockenspiritus in größeren Mengen ebenso problemlos wie unauffällig zu bewältigen.
„Ja, ja, ich habe meinem Enkel eine kleine Dampfmaschine geschenkt. Die lässt er jetzt ständig laufen. Daher der erhöhte Bedarf an Trockenspiritus Trockenspiritus vom Typ Dampfmaschinen 01020 Esbit-Trockenbrennstoff - Z 81.“
So oder so ähnlich mochte er dem Spielwarenhändler begegnet sein, der dumme Fragen nach den Unmengen von Trockenspiritus stellte, die mein Großvater erwarb.
Auf fiel mir erst, dass etwas nicht ganz in Ordnung war, als mein Großvater mit einer Flasche, die eine klare Flüssigkeit enthielt, von der Parzelle heimgekehrt, von meiner Großmutter gefragt wurde, ob er den letzten Gang auch durch ein Stück Brot gefiltert hatte.
Natürlich hatte er; - aber Brot?!
Meine Großmutter schaute zunächst etwas skeptisch drein und nahm dann etwas von der Flüssigkeit in homöopathischer Dosis zu sich.
Es passierte eine Weile gar nichts.
Doch dann schnalzte sie mit der Zunge, nickte und nahm die Flasche sorgsam im Cave de Liqueur unter Verschluss.
In mir kroch die Gewissheit hoch, dass hier irgendetwas Mystisches ablief.
Brot!
Schließlich beteten wir jeden Tag: „Unser täglich Brot gib uns heute.“
Brot aß man, andachtsvoll und feierlich, man durfte es nicht umkommen lassen!
Als mein Großvater dann noch den Auftrag erhielt, bis zum Johannistag das Walnussbäumchen unserer Parzelle abzuernten, war mein Interesse geweckt.
Irgendwann – lange nach besagtem Johannestag – bemerkte ich, dass meine Frau Großmutter den Schlüssel zum Cave de Liqueur hatte stecken lassen.
Also probierte ich mal einen Schluck aus einer der Karaffen.
Ich war bitter enttäuscht von dem schauderhaften Zeug, welches die Erwachsenen tranken, und zudem von meiner Frau Großmutter beobachtet worden. Die rannte nämlich sofort zu meinen Eltern und petzte; - und sie fügte eine düstere Prophezeiung an: „Der Junge landet nochmal in der Trinkerheilanstalt!“
Glücklicherweise ist diese düstere Prophezeiung meiner Frau Großmutter bis heute noch nicht eingetroffen.“
„Aber den ‘Likör von grünen Walnüssen‘ nach dem Rezept deiner Frau Großmutter“, meinte die Wunderbare Ulrike, „sollten wir gelegentlich mal nachvollziehen!“
„Ja“, meinte ich, „es gibt da so ein mündlich überlieferten Rezept. Das können wir in der Tat mal nachvollziehen, natürlich auf der Basis eines guten Korns einer namhaften Brennerei aus meiner neuen Heimat Haselünne. Ich rekapituliere mal:
"Zwei Dutzend grüne, unreife Walnüsse, die vor dem Johannistag gepflückt werden müssen.
Die Walnüsse, so wie sie vom Baume kommen, mit Wasser aus einem fließenden Gewässer waschen und mit einem Messer, welches noch nie mit Fleisch oder Fisch in Berührung gekommen ist, in kleine Stücke schneiden und mit einem Kilogramm Zuckerstücke, von denen in jedes siebente ein Kreuz geritzt sein soll, vermischen und in einen irdenen Topf tun.
Dieses mit einem Liter trockenem Rotwein, dessen Jahrgang mit ungerader Zahl enden soll, sowie mit einem Liter trockenem Rotwein, dessen Jahrgang mit gerader Zahl enden soll, übergießen.
Hinzufügen ein Liter Korn. Dreizehn Mal gegen den Urzeigersinn mit dem kleinen Finger der linken Hand, die Herzseite, umrühren und gut zugedeckt 48 Tage ruhen lassen, jedoch alle 7 Tage 13 Mal gegen den Urzeigersinn umrühren.
Am 49. Tag den so entstandenen Likör durch einen Nonnenschleier seien.“
Wir hatten zwar keinen Nonnenschleier, aber das Ergebnis war trotzdem sehr lecker. Die düstere Prophezeiung meiner Frau Großmutter hielt uns allerdings bislang davon ab, weitere Liköre herzustellen.
 

onivido

Mitglied
Ja , was bin ich doch fuer ein Banause. Ich trinke alles , was man mir hinstellt. Trotzdem sehr gerne gelesen.
Gruesse///Onivido
 

Hagen

Mitglied
Hallo Hans,
besser spät als nie mit der Antwort.
Details beweisen immer dass es sich bei meinen Erinnerungen um die Wahrheit und nichts als die Wahrheit handelt.

Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleib' schön fröhlich, gesund und munter, weiterhin positiv motiviert sowie negativ getestet, guten Willens und stets heiteren Gemütes!
Herzlichst
Yours Hagen

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Man darf die dicke Frau nicht auf den kaputten Stuhl setzen!
 

Hagen

Mitglied
Hallo Onivido,
da Du alles trinkst was man (wer ist eigentlich 'man'?) Dir hinstellt, möchte ich Dir die Cocktails der ScheinBAR sowie die Liköre nach Rezepten meiner Großmutter doch mal warm ans Herz legen.

Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleib' schön fröhlich, gesund und munter, weiterhin positiv motiviert sowie negativ getestet, guten Willens und stets heiteren Gemütes!
Herzlichst
Yours Hagen

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Darin aber liegt die höchste Weisheit, dass ihr weise werdet durch die Cocktails an der ScheinBAR!
Alles Wissen aber ist ohne die Cocktails an der ScheinBAR nichts nütze!
Darum bekümmert euch zunächst nicht so sehr um ein vieles Wissen um das Karma,
sondern genießt viele Cocktails!
So werden euch die Cocktails das geben, was euch ohne diese nichts und niemand je geben kann!

Meister Tofu (Meister der absoluten Ignoranz)
 
G

Gelöschtes Mitglied 24019

Gast
Liköre empfinde ich persönlich zwar generell als nicht so sehr köstlich, dafür diese Geschichte aber umso mehr.

Viele Grüße.
 

Hagen

Mitglied
Hallo Martin,
danke für das Lob, aber die Geschmäcker sind leider, gottseidank subjektiv. Sett Dir mal vor alle und alles (auch die Frauen) wären gleich!
Wie furchtbar (FurchtBAR)!

Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleib' schön fröhlich, gesund und munter, weiterhin positiv motiviert sowie negativ getestet, guten Willens und stets heiteren Gemütes!
Herzlichst
Yours Hagen

Kein Tier hat jemals so etwas schlechtes wie die Trunkenheit erfunden - und keines so etwas Schönes wie einen guten Cocktail an der ScheinBAR“
 



 
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