Der Mäusefänger von Arkendorf

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freibian

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Ein Mann, wohl in den besten Jahren seines Lebens, umrundete einen halb verrotteten Baumstamm, der mitten in einer Gruppe von Haselbüschen lag. Bereits seit Stunden tat Arwin kaum etwas anderes. Nur gelegentlich blieb er kurz stehen, stemmte beide Hände auf seine Hüften, und starrte gen Osten, wo er zwischen den Bäumen des Waldes den Sonnenaufgang herbei sehnte.
Dieser schien ausgerechnet heute länger auf sich warten zu lassen, als an jedem anderen Tag. Immerhin dämmerte es bereits. Der bärtige Mann seufzte vor Ungeduld so laut, dass ein Kauz, der eben mit einer Maus im Schnabel auf dem Ast eines nahe gelegenen Baumes gelandet war, kurz aufhorchte.
Arwin setzte seine Wanderung, um den Baumstamm herum, fort. Es war ihm nichts Besseres eingefallen, womit er seine Nervosität in den Griff hätte bekommen können. Den Haselbüschen ständig ausweichen zu müssen, half ihm dabei, sich zu konzentrieren. Er durfte nicht müde werden.
Nicht so kurz vor dem bedeutendsten Moment seines Lebens.
Nur einmal alle sieben Jahre, bei Tagesanbruch zur Wintersonnenwende, war es möglich, den Azakaran zu rufen. Ein merkwürdiges Fabelwesen, über den Sagen unterschiedliches schilderten. Einen Wunsch soll er jenen Menschen erfüllen, die reinen Herzens zu ihm kamen, wird in manchen Erzählungen verkündet, während andere behaupteten, dass dem Bittsteller gar schreckliche Dinge widerfahren.
Ein Monster mit vier Hörnern - zwei kurzen und zwei längeren - sei diese Kreatur. Der Schädel ähnle dem eines Bären, doch sei seine Haut so ledrig wie die einer Echse. Glatt und manchmal schleimig, da eine übel riechende Substanz durch mehrere Drüsen ausgeschieden wurde.
Aufrecht gehe dieses Geschöpf, so erzählte man sich. Auf Hufen wie ein schrecklicher Dämon. Statt Armen und Händen habe es eine Vielzahl von Tentakeln.
Doch Arwin hatte keine Angst vor dem Azakaran. Egal wie es aussehen oder riechen mochte. Er sorgte sich nur darum, ob er diese Kreatur überhaupt finden würde. Das war nur wenigen vergönnt gewesen.
Geblendet vom ersten Sonnenstrahl des Tages blieb Arwin plötzlich stehen. Sein Herz pochte schneller. Er fühlte, wie das Blut beschleunigt in seinen Kopf strömte.
Endlich war es soweit. Das Warten hatte ein Ende. Aufgeregt blickte er sich um.
„Im Licht der ersten Sonnenstrahlen wirst du den Riesenvogel erkennen. Er wird dir den Weg weisen.“
So stand es in den alten Schriften. Arwin wusste nicht, welche Art von Riesenvogel erscheinen würde. Mehrmals drehte er sich im Kreis, blickte sich suchend in alle Richtungen um.
Wo blieb er denn nur?
Der einzige Vogel weit und breit, den er entdecken konnte, war der Kauz, der seinen Nachwuchs mit dem Fleisch der Maus fütterte.
Verzweifelt, mit den Tränen kämpfend, verbarg der muskulös wirkende Mann sein Gesicht hinter seinen Händen. Die Geschichten mussten einfach wahr sein, dachte er sich. Der Azakaran war seine einzige Hoffnung. Wie sollte er weiterleben, wenn er ihn heute nicht treffen würde?
Er reckte beide Hände mit geballten Fäusten gen Himmel und rief so laut er konnte: „Wo bist du, du verdammter Vogel! Zeig dich!“
Doch da war kein Vogel. Selbst der Kauz hatte sich, wohl durch das Rufen des Mannes erschrocken, mit seinen Kleinen im Nest verkrochen. Verbittert, die Arme noch immer nach oben gestreckt, ließ sich Arwin auf die Knie fallen und kroch, wie von Sinnen, einige Meter. Er wusste nicht mehr, was er tun sollte.
Allmählich schlug die Hoffnungslosigkeit in Wut um. Mit zuckenden Gesichtsmuskeln stand er auf, rannte rastlos umher, schlug und trat auf einen wehrlosen Strauch ein. Es schien, als wollte er ihn in kleine Stücke zerfetzen.
Doch dann blieb er auf einmal wie angewurzelt stehen.
Mit hoch gezogenen Augenbrauen starrte er die ineinander verflochtenen Äste und Zweige zweier riesiger Bäume an. Ja, das war es, wonach er gesucht hatte! Das Geflecht ergab das Bild eines großen Vogels mit ausgebreiteten Flügeln, durch die das Licht der Sonne genau auf einen Felsen fiel.
Sofort rannte Arwin, so schnell er konnte, in diese Richtung los.
Die schweren Stiefel und der Rucksack auf seinem Rücken erwiesen sich dabei als recht hinderlich. Arwin blieb an einem Wurzelwerk hängen, verlor das Gleichgewicht und kam ins Stolpern. Er fiel nicht, schaffte es aber auch nicht, wieder einen sicheren Stand zu erlangen. Das Gewicht des Gepäcks verrenkte seinen Oberkörper. Akrobatisch wand er sich, kämpfte gegen den Sturz an, doch am Ende wäre er wohl doch noch spektakulär gefallen, wäre er nicht schon nah genug beim Felsen gestanden, so dass er sich mit beiden Händen darauf abstützen konnte.
Kam es ihm nur so vor, oder amüsierte seine peinliche Lage den Kauz, der, wie er aus den Augenwinkeln erkennen konnte, wieder hervor gekommen war und ihn beobachtete? Er musste wohl auch ein belustigendes Bild abgeben. Die Füße so fest ins Erdreich gestemmt, dass er eine kleine Mulde geschaffen hatte, der Körper im fünfundvierzig Grad Winkel nach vorne geneigt, die Nasenspitze und die Hände gegen den Felsen gelehnt. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich wieder aufzurichten.
Wie sollte es jetzt weiter gehen?
Auf dem Felsen fiel ihm nichts Außergewöhnliches auf. Konzentriert taste er jeden Quadratzentimeter darauf ab. Ergebnislos.
Da spürte er die Sonne in seinem Nacken. Er trat einen Schritt zur Seite. Sobald die Sonnenstrahlen wieder den Felsen erreichten, enthüllten sie darauf das Symbol eines Vogels mit ausgebreiteten Flügeln. Es leuchtete rötlich, mit Ausnahme der auffallend großen Augen, die grün waren.
Das musste der Öffnungsmechanismus sein, dachte er sich. Er legte seine Hand auf das Symbol, doch es tat sich nichts.
Er drückte das linke Auge. Wieder nichts. Ebenso tat sich nichts, nachdem er das rechte Auge gedrückt hatte.
Schon wollte er zu fluchen beginnen, doch dann kam ihm ein Einfall.
Er legte Zeige- und Mittelfinger gleichzeitig auf beide Augen. Und siehe da – ein Stück des Felsens schob sich langsam nach unten in die Erde hinein und gab einen höchstens halben Meter breiten Durchgang frei.
Arwin holte die Fackel aus dem Rucksack und wollte sie rasch mit dem Zunderkästchen entfachen. Doch er war viel zu zappelig und brauchte etliche Versuche. Schließlich gelang es ihm aber. Nun hielt ihn nichts mehr auf.
Fast nichts.
Arwin war zwar nicht dick, doch recht kräftig gebaut. Mit dem Rucksack kam er auf keinen Fall durch den engen Gang. Er musste die Objekte, die er für das Ritual benötigte, auspacken und in den Taschen seiner Hose und Jacke verstauen. Erst dann konnte er sich durch die Öffnung zwängen.
Nur mit größter Anstrengung gelang es ihm, sich seitlich Zentimeter für Zentimeter vorwärts zu bewegen. Nach einigen Metern steckte er jedoch fest.
Es tat ihm richtig gut, jetzt das Fluchen nachzuholen. Wie ein Rohrspatz schimpfte er vor sich hin. Nur gut, dass ihn der Kauz jetzt nicht sehen konnte. Der hätte sich bestimmt halb tot gelacht.
Das war aber auch zu lächerlich! Da hatte er sich solange auf dieses wichtige Ereignis vorbereitet, hatte an alle möglichen Szenarien gedacht, nur nicht daran, wie eine Sardine in der Dose festzustecken.
Er hätte so gerne gegen die Felswand getreten, doch nicht einmal dafür war Platz genug.
Mit dem Mut der Verzweiflung zog er seinen Bauch soweit wie möglich ein und wetzte seinen Körper mit aller Gewalt hin und her. Es war ihm ganz egal, wenn er seine Kleidung dabei beschädigte.
Die Fackel fiel ihm aus der Hand.
Darauf achtete er nicht. Wie ein wild gewordener Stier rieb er seinen Körper weiter an den Felswänden.
Einige der Gegenstände fielen ihm aus den Taschen.
Auch das kümmerte ihn in diesem Moment nicht.
Er war bereit, sich zu Tode zu scheuern, wenn es sein musste. Aufgeben kam für ihn nicht mehr in Frage.
Während seines verzweifelten Bemühens war ihm gar nicht aufgefallen, dass er sich tatsächlich ein Stück nach vorne bewegt hatte. Auf einmal wurde der Durchgang breiter. Arwin machte einen kleinen Schritt seitwärts und trat plötzlich ins Leere.
Diesmal gelang es ihm nicht mehr, einen Sturz zu vermeiden. Zu seinem Glück stürzte er nicht direkt nach unten. Vielmehr war er offenbar auf eine steile Rampe geraten, umgekippt und rollte nun wie ein Fass Bier, sich mehrmals überschlagend, abwärts.
Mit den Abschürfungen, die er sich zuzog, konnte er besser leben, als mit seinem verletzten Stolz. So tolpatschig war er doch eigentlich gar nicht. Irgendwie schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben.
Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich zum Stillstand kam. Jede Muskelfaser schmerzte. Oder zumindest jene, die er noch spürte. Immerhin schien er sich nichts gebrochen zu haben.
Er drehte sich ein Stück und blickte unvermittelt dem Azakaran ins Gesicht, der über ihm stand und ihn anstarrte.
Er sah genau so aus, wie ihn sich Arwin vorgestellte hatte. Nur roch er noch viel strenger als in seinen schlimmsten Befürchtungen.
Vor Verblüffung wusste Arwin gar nicht, was er zuerst tun oder sagen sollte. So hatte er sich die Begegnung wahrlich nicht vorgestellt. Eigentlich hatte er gedacht, der Azakaran würde erst erscheinen, nachdem er eine aufwendige Zeremonie durchgeführt hatte.
So gut Arwin es aus seiner Lage vermochte, kauerte er sich in eine demutsvolle Haltung zusammen und sprach: „Ehrwürdiger Azakaran, ich bin gekommen, um Euch zu dienen. Bitte nehmt mein ...“
Mitten im Satz hielt er inne. Seine Opfergaben hatte er ja gar nicht mehr bei sich. Fieberhaft dachte er nach. Doch das fremdartige Geschöpf kam ihm zuvor.
„Ist es also mal wieder soweit? Ja?“, fragte es mit einer unerwartet angenehmen Stimme. „Warum belästigt ihr unwürdigen Menschen mich immer wieder? Ich will nichts mit euch zu tun haben. Wann kapiert ihr das endlich?“
Verächtlich schnaufte der Azakaran und bewegte einige seiner Tentaklen bedrohlich über dem Kopf des Kauernden.
Arwin wagte es nicht, aufzublicken. Er wollte sich aber in keinem Fall abwimmeln lassen.
„Verzeiht Ehrwürdiger“, sprach er mit fester Stimme, „es war nicht meine Absicht, Euch zu belästigen. Alles, was ich möchte, ist Euer Untertan zu sein. Sagt nur, was Ihr wünscht, und ich werde es ausführen.“
„Ach ja, werdet Ihr das?“, fragte die Kreatur mit unverhohlenem Spott in ihrer Stimme. Sie packte den Eindringling mit einigen Tentakeln und hob ihn mühelos hoch, ließ sie zappeln und amüsierte sich offenbar königlich. Erst nach einer Weile forderte sie den Menschen auf, ihr zu erklären, was er sich davon versprach, ihr Diener zu werden.
Auf diesen Moment hatte der Bittsteller gewartet. Entschlossen sprach er seinen einstudierten Text: „Ihr seid ein gerechtes und allmächtiges Wesen, ehrwürdiger Azakaran. So steht es in den alten Schriften und daran glaube ich fest. Macht mich zu Eurem Werkzeug. Ich werde mich in Eurem Namen an jenen rächen, die Ihr in Eurer gütigen Weisheit gerichtet habt.“
An dieser Stelle hielt er kurz inne und holte tief Luft. Dann sprach er flüssig weiter: „Gebt mir die Stärke, als gnadenloser Scharfrichter Eure Urteilssprüche zu vollstrecken. Ich werde meine Aufgabe mit größter Gewissenhaftigkeit erledigen. Das verspreche ich Euch.“
„Soso, versprecht Ihr mir das“, wiederholte der Richter mehr denn je mit einem spöttischen Unterton. „Aber ich weiß noch immer nicht, was Ihr davon habt, mir treu zu dienen. Mordet Ihr etwa so gerne?“
Genüsslich schaukelte der Azakaran sein Opfer, das gegen zunehmende Übelkeit kämpfen musste.
„Wenn ich Euch diene, werde auch ich mich an jenen rächen, die mir und meiner Familie Böses angetan haben“, offenbarte Arwin seine wahren Absichten. „Dies ist mein sehnlichster Wunsch.“
Das ungewöhnliche Geschöpf hörte damit auf, sein Opfer zu bewegen und fragte mit wachsendem Interesse: „Es geht also um Rache. Wen wollt ihr rächen und warum?“
„Meine Familie“, antwortete der Mann in seinen Tentakeln. „Die Akshins haben alle Tojanskas ermordet. Ich bin der letzte Überlebende meines Geschlechtes. Gebt mir die Macht, meine Feinde zu vernichten und meine ewige Dankbarkeit ist Euch gewiss.“
„Warum haben die Akshins Eurer Familie das angetan?“, wollte der Azakaran wissen.
„Unsere Familien bekämpfen sich seit Generationen. Es ist eine lange Blutfehde, die nun entschieden scheint. Doch das werde ich nicht hinnehmen. Die Akshins müssen ausgerottet werden.“
Der Richter stellte den Mann auf den Boden und überlegte eine Weile. Dann sprach er: „Und Ihr erwartet Euch nun von mir, dass ich Euch Fähigkeiten verleihe, mit denen Ihr andere Wesen mit Leichtigkeit vernichten könnt. Verstehe ich das nun richtig?“
„So ist es“, bestätigte der Rachsüchtige. „In den alten Schriften steht, dass Ihr ein mächtiger Richter seid. Unbarmherzig, aber gerecht. Ihr werdet keinen finden, der Euch loyaler dienen könnte, als ich.“
„Das glaube ich Euch“, erwiderte der Azarkan. „Und es ist wahr, ich bin wohl das, was Menschen einen Richter nennen. Doch ich kümmere mich selten um die Belange Eurer Art. In meiner Welt haben wir unsere eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit. Aber gut, Ihr habt den Weg zu mir gefunden, Ihr habt Eure Bitte vorgetragen, so will ich Euch tatsächlich helfen.“
Ergeben kniete sich Arwin nieder, beugte sein Haupt und streckte beide Arme nach oben. Kurz darauf fühlte er zwei Tentaklen auf seiner Schulter, starke Hitze strömte durch seinen Körper, doch er spürte keinen Schmerz. Nur ein berauschendes Gefühl. So als hätte er eine ganze Flasche Schnaps ausgetrunken. Alles um ihn herum verschwamm.
Er hatte wohl für eine Weile sein Bewusstsein verloren. Als er wieder aufwachte, fühlte er sich verändert. Er blickt an sich herab und erkannte, dass er nun ein Kater war. Mit pechschwarzem Fell.
„Du darfst mir dienen, wie du es gewünscht hast“, sprach der Azakaran, der unweit von Arwin auf einem Stuhl saß. „Fortan ist es deine Aufgabe, Mäuse, Ratten und alle Schädlinge zu jagen und zu vernichten. Tobe dich nur aus, mein treuer Diener, ganz nach Herzenslust. Das wolltest du doch, nicht wahr? Töten! So soll es deine Aufgabe für den Rest deines Katerlebens sein. Und damit ist wohl auch endgültig die unselige Blutfehde zwischen zwei Familien beendet. Und Kater!“
Mitten im Satz macht der Azakaran eine Pause und verzog seine Mimik offenbar zu einem breiten Lächeln, was jedoch sehr bizarr bei ihm wirkte. Schließlich fuhr der Richter fort: „Gegen dieses Urteil gibt es keine Berufung.“
Darauf ließ das Wesen Laute ertönen, die möglicherweise ein Lachen darstellten, aber sich eher wie das Grunzen eines Schweines anhörten.
Noch nie in seinem Leben war Arwin so zornig gewesen. Aber was hätte er machen sollen? Selbst als Mensch hätte er gegen dieses mächtige Geschöpf nichts ausrichten können. Als Kater schon gar nicht.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen. Als er zum ersten Mal eine Maus getötet hatte, war das tatsächlich ein befriedigendes Gefühl für ihn.
Und so entstand die Legende vom Mäusefänger von Arkendorf. Die Leute erzählten sich, dass ein schwarzer Kater nicht nur mit großem Eifer Mäuse und Ratten tötete, sondern sie mit besonderer Grausamkeit in Stücke zerfetzte. Hunderte, wenn nicht sogar Tausende soll er vernichtet haben. Manche berichteten, dass er einige Male auch Menschen angefallen haben soll. Seltsamer Weise war das Opfer stets ein Familienmitglied der Ashkins gewesen. Doch das konnte auch nur ein Gerücht sein.
 



 
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