Der Mann im Turm

Heinrich VII

Mitglied
Teil I
In einer unbekannten Zeit, in einem unbekannten Land, lebte einst ein Mann. Er war von durchschnittlicher Größe und Statur, durch seine Arbeit und Ausbildung aber überdurchschnittlich stark, gebildet und handwerklich begabt. Aus diesem Grund beauftragten ihn die Leute aus dem Dorf mit allerlei Arbeiten und waren mit dem Ergebnis stets zufrieden. Der Mann hatte jedoch, bei all seiner Tüchtigkeit und Verlässlichkeit, etwas an sich, mit dem sie nicht zurecht kamen. Schwer zu sagen, was es genau war. Keiner hätte es präzise beschreiben können. „Er ist nicht wie wir“, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand, „macht seine Arbeit gut und respektabel, aber es geht etwas von ihm aus.”

Man könnte jetzt vielleicht vermuten, besagter Mann sei gemein, falsch oder gar brutal gewesen. Nein, das stimmte nicht. Er war im Gegenteil gütig, freundlich und eigentlich jedem wohl gesonnen. Und doch hinderte eine geheime Macht ihn daran, tiefer mit den Menschen in Berührung zu kommen, mit ihnen zu schwingen und sich eins mit ihnen zu fühlen. Eine unsichtbare Wand schien zwischen ihm und den anderen errichtet. Und diese war verdammt nochmal nicht zum Einsturz zu bringen, obwohl der Mann sich schon tausend Mal vorgenommen und auch probiert hatte, diesen Umstand zu ändern.
An manchen Tagen machte es Kalif weniger aus. An diesen Tagen war er mit sich und der Welt im Einklang und konnte gut alleine zurecht kommen. An anderen Tagen, wenn ihn das ganze Ausmaß seiner Isolation anbrandete, war er bekümmert, verzweifelt und manchmal - in seinen schlechtesten Stunden – sogar richtig wütend. Er konnte dann so zornig werden, dass er das ganze Dorf nebst seinen kleinkarierten Einwohnern geradewegs zum Teufel wünschte.

An einem Tag hatte Kalif bei jemandem im Dorf den Kamin repariert und gleich danach, wie stets, sein Geld bekommen. Er war guter Dinge und schlenderte auf den Markt, um Vorräte zu kaufen. Und dabei überkam ihn die Lust, mit jemandem noch ein Glas Wein zu trinken, bevor er sich zu seinem Turm aufmachte. Der dicke Kurt stand nebenan an einem Stand und kaufte Gemüse. „Hast du Lust, einen Wein mit mir zu trinken?“
„Ich muss nach Hause!“, sagte Kurt, wandte den Blick ab und war auch schon fort.
Kalif lief weiter und traf auf einen anderen Dorfbewohner, dem er das Dach seines Hauses repariert hatte. „Rudolf, hast du vielleicht Lust, einen Wein mit mir zu trinken? Ich bezahle.“ Rudolf sah ihn verdutzt an und winkte ab: „Ich hab noch was zu arbeiten!“
Kalif wollte hinzufügen, dass es ja nicht allzu lange dauern muss, aber der andere war bereits weg. Auf der Seite, gegenüber des Marktplatzes, sah Kalif noch einen Mann aus dem Dorf, der Erik hieß. Dem hatte er in tagelanger Arbeit einen Gartenzaun ums Grundstück gesetzt. Kalif lief zu ihm hin und wollte ihn per Handschlag begrüßen. Doch Erik gab ihm seine Hand nicht und musterte ihn misstrauisch. „Was willst du denn von mir?“
„Wir könnten einen Wein zusammen trinken – ich lade dich ein.“
Erik blickte ihn an, wie man einen ansieht, der nicht alle Tassen im Schrank hat.
„Du weißt doch ganz genau, dass das nicht geht.“
„Und wieso nicht?“, wollte Kalif wissen.
„Das müsstest du doch inzwischen wissen.“
Damit machte Erik auf dem Absatz kehrt und suchte das Weite. Kalif blieb nichts übrig, als sich auf den Heimweg zu machen, denn alleine trinken
mochte er nicht.

Unterwegs fiel ihm die Begebenheit mit Maria ein, einer ansehnlichen Frau in mittleren Jahren, die draußen am Dorfrand wohnte. Es war schon eine Weile her, dass er sie auf einen Kaffee einladen konnte. Dabei entspann sich eine nette Unterhaltung. Doch als Kalif, Tage später, wieder im Dorf war und Maria nach der Arbeit auf dem Markt traf, beachtete sie ihn gar nicht und lief einfach weg. „Aber Maria, was hab ich dir denn getan?“, fragte Kalif halb atemlos, als er sie eingeholt hatte.
„Am besten du lässt mich in Ruhe und gehst deiner Wege.“
Der Tonfall war so schneidend, dass es Kalif bis ins Mark traf und er tatsächlich seiner Wege ging. Vermutlich hatte es Maria erst nicht mit bekommen, dass man ihn mied. Da draußen am Dorfrand erfuhr man nicht gleich alles. Sonst hätte er sie vermutlich kaum auf einen Kaffee einladen können. Kalif verstand es nicht. Was sollte denn von ihm ausgehen? Er war doch ein ganz normaler Mann, mit ganz normalen Gefühlen und Bedürfnissen. Er tat seine Arbeit, war den Menschen nützlich und zu Diensten. Wobei letzteres vermutlich der einzige Grund war, warum sie ihn überhaupt in ihr Dorf ließen. Gute Handwerker waren rar. Und schon gar solche, die nicht auf etwas Bestimmtes festgelegt waren, sondern wie er, alles konnten und vor allem nicht zu viel dafür verlangten.

Eine Stunde Fußmarsch später war der Turm bereits von Weitem zu sehen. Hoch und schlank wie ein Minarett ragte die Spitze über die höchsten Baumwipfel des Walds hinaus. Ein erhabenes Gebäude, dachte Kalif jedes Mal an der Stelle und mein Zuhause. Ja, er liebte seinen Turm. Glücklich und zufrieden konnte er dort oben sein, aber auch oft genug einsam. Gäbe es doch jemanden, mit dem ich all das teilen könnte, dachte er nicht zum ersten Mal. Aber welche Frau will schon einen Mann, dem man allgemein aus dem Weg geht.
Schließlich angekommen, schloss Kalif als erstes die schwere, eisenbeschlagene Eichentür auf und hinter sich gleich wieder zu. Danach begann der lange Aufstieg, bis hoch in seine Wohnung. Es waren exakt zweihundert-zwanzig Treppenstufen. Mehrere Falltüren waren auf dem Weg zu öffnen und wieder zu schließen, die er selbst eingebaut hatte. Es gab Räuber und Gesetzlose im Wald, denen er nicht unbedingt Tür und Tor offen halten wollte.
Oben unter der Turmspitze angekommen, schloss er keuchend seine Wohnung auf. Einen Moment blieb er im Flur stehen, bis sein Atem sich etwas beruhigt hatte. Dann durchschritt er zielstrebig das Wohnzimmer und trat hinaus auf den Balkon, der um den ganzen Turm lief. Er stellte sich ans Geländer, um auf die endlosen Wiesen, Flure und Wälder zu blicken, die sich unter ihm ausbreiteten und atmete tief ein und aus.

Später, nachdem er in der Küche gegessen hatte, stellte er einen Stuhl nach draußen und stopfte sich eine Pfeife. Als er sie schließlich angezündet hatte, schmeckte sie ihm nicht. Auch die Landschaft, die er durch die Gitterstäbe des Balkongeländers immer noch sehen konnte, erschien ihm mit einem mal nicht mehr so glanzvoll. Er holte sich aus der Küche ein Bier, setzte sich wieder und nahm einen Schluck. Aber auch das schmeckte ihm nicht. Unlustig nippte er noch mal daran und stellte die Flasche beiseite. Die ganze Welt hatte mal wieder mit einem Schlag, ihren Glanz und ihre Faszination verloren. Es stank, er meinte es förmlich zu riechen. Und die Menschen aus dem Dorf - in seiner Missstimmung kamen sie ihm wie schwerfällige Käfer vor, die mühselig und stumpf vor sich hin krabbelten. Die Hölle ist immer in einem selbst und sie brannte auf einmal wieder grässlich heiß. Das Leben reicht einem keine helfende Hand. Verdammt einen zur Einsamkeit. Wie ein Heerhaufen Ameisen, angetreten ihn millionenfach zu piesacken, pulsierten und pochten die unguten Gedanken in seinen Gehirnwindungen. Eine Weile noch sah sich Kalif dieser unerquicklichen Flut ausgesetzt. Dann stand er auf, füllte in der Küche eine Kanne mit Wasser und begann die Kräuter im Flur zu gießen, was seine finsteren Gedanken etwas abmilderte.

Am nächsten Morgen erwachte er und wunderte sich, dass er immer noch auf dem Balkon-Stuhl saß, den er nach dem Gießen wieder aufgesucht hatte. Fröstelnd stand er auf, rieb sich die Hände und hauchte warme Luft auf die Handflächen. Dann begab er sich in die Küche und machte sich daran, den Herd anzuheizen und ein Frühstück zuzubereiten. Seine Laune war ein Stück besser geworden. Aber die Gedanken würden zurück kommen, das wusste er. Sie würden ihn immer wieder überfallen, als wollten sie ihm beibringen, dass er sein Problem endlich lösen solle und Gesellschaft finden.
Später saß er im Wohnzimmer und nahm das Frühstück ein. Danach öffnete er das Fenster, um Luft herein zu lassen. Und an der Stelle hörte er das ungewöhnliche Geräusch. Neugierig geworden, lief er raus auf den Balkon und sah sich nach allen Seiten um, aber da war nichts. Er sah nach unten - konnte aber auch dort nichts entdecken. Das Geräusch war jedoch immer noch da.
„Ich bin hier oben“, hörte er schließlich eine Frauenstimme rufen. Mit aufgerissen Augen und offenem Mund starrte Kalif nach oben und traute seinen Sinnen nicht. In Höhe der Turmspitze schwebte eine alte Frau auf einem Besen und sah zu ihm runter.
„Du hast richtig gesehen, ich bin eine Hexe.“
„Es gibt keine Hexen.“
Die Frauenstimme kicherte und antwortete: „Bist du blind, du hast doch direkt über dir eine.“
Der Besen, auf dem sie saß, senkte sich wie ein Fahrstuhl herab, so dass sie genau auf dem Balkon landete. Dort stellte sie das Fluggerät in die Ecke und setzte sich auf den Stuhl, auf dem Kalif die Nacht verbracht hatte. „Wer hat dich denn eingeladen?“
So eine alte, hässliche Schachtel hat mir gerade noch gefehlt, dachte Kalif. Schon wollte er ihr klar machen, dass sie sich wieder auf ihren Besen schwingen und das Weite suchen solle, als sie erneut kicherte und sagte: „Ich kann dir bei deinem Problem helfen.“
Kalif sah sie erstaunt an: „Was für ein Problem?“
Die Hexe kicherte wieder. „Na, dein Problem!“
Kalif starrte sie unverständlich an. Darüber konnte sie niemals etwas wissen.
„Brauchst es nicht abzustreiten – ich weiß, dass du dich einsam fühlst.“
„Tatsächlich“, antwortete Kalif und wunderte sich, was die Alte alles zu wissen schien.
„Ich bin schon öfter über deinen Turm geflogen und hab´ dich gesehen, wenn du wütend warst und zur Beruhigung deine Kräuter im Flur gegossen hast..“
„Wie kann man so etwas sehen?“
„Wir Hexen haben scharfe Sinne. Ich weiß so einiges über dich.“

Kalif hielt das nicht für sehr wahrscheinlich. Die Alte reimt sich da etwas zusammen, damit sie hier auf meinem Balkon rum sitzen und mir auf die Nerven fallen kann. Der Tatsache, dass sie auf einem Besen her geflogen war, maß er dabei nicht allzu viel Bedeutung bei. Im Stillen legte er sich bereits einen Wortlaut zurecht, mit dem er sie vertreiben konnte. Er wollte schon damit loslegen, als die Hexe plötzlich eine Glaskugel hervor holte, diese mit einem Tuch rieb, so dass sie mit einem mal leuchtete und merkwürdige Geräusche von sich gab -


Teil II
Madura legte die Kugel auf ihren Schoß und sprach ein paar unverständliche Formeln. Kalif sah, wie plötzlich Leben in die Glaskugel kam. Sie blinkte und leuchtete, und nach und nach waren Bilder in ihr zu erkennen. Erst noch verschwommen, aber dann wurden sie klarer. Schließlich sah Kalif jemanden, da blieb ihm die Spucke weg: „Das bin ja ich!”
Madura nickte. Er wartete auf eine Erklärung, aber die Hexe kicherte nur in sich hinein und schwieg. Wie gebannt starrte sie in die Kugel und schien auf etwas Bestimmtes zu warten. Unglaublich: Kalif sah sich erst als kleines Kind, dann als Junge und schließlich als Erwachsener. „Wie ist das denn möglich?“
Madura gebot ihm still zu sein. Sie könne sich nicht konzentrieren, wenn er ständig dazwischen rede. Kalif schwieg, holte sich ein Bier aus der Küche, setzte sich und trank einen Schluck. „Irgendwann in deinem Leben“, sagte Madura nach einer halben Ewigkeit, „muss etwas Ungewöhnliches passiert sein. Das ist der Ansatz, nach dem ich suche.”
Danach schwieg sie wieder und starrte wie in Trance weiter in die Kugel.

Stunden später war die Hexe immer noch über die Glaskugel gebeugt und schien nun vollkommen in Trance gefallen zu sein. Sie war nicht mehr ansprechbar und schien ihre Außenwelt nicht mehr wahr zu nehmen. Kalif hatte sich inzwischen die Zeit mit kochen und essen vertrieben. Hin und wieder riskierte er selbst einen Blick auf die Kugel. Andere Bilder waren jetzt zu sehen, andere Menschen und Orte, die er nicht kannte -
Er setzte sich ins Wohnzimmer, stopfte sich eine Pfeife, zündete sie an und begann zu rauchen. Komisch, dachte er. Jetzt ist diese Alte da draußen
und sagt, dass sie mir helfen will. Mit dieser dämlichen Glaskugel, in der eine Art Film von mir abläuft. Was soll man davon halten?

Als es kühler wurde, feuerte Kalif den Ofen im Wohnzimmer an. Madura saß noch immer draußen, über die Kugel gebeugt und war ganz in ihr versunken. Kalif holte sich noch ein Bier in der Küche und machte es sich mit einem Buch auf dem Sofa bequem. Ich lasse sie einfach mal machen. Wenn sie bis Morgen früh nichts Brauchbares in der Hand hat, kann ich sie immer noch raus werfen. Er bemerkte aber auch das positive Gefühl durch ihre Anwesenheit. Er fühlte sich nicht so einsam wie in manchen Stunden hier im Turm. Unwillkürlich sah er von seinem Buch auf und blickte nach draußen. Ein gutes Gefühl, wenn jemand bei einem ist. Selbst wenn es nur eine hässliche, alte Hexe ist, die ihren Kopf in eine Glaskugel steckt.

Am nächsten Morgen erwachte Kalif auf dem Sofa im Wohnzimmer; das Buch lag noch auf seinem Schoß. Er stand auf, reckte sich, rieb sich den Schlaf aus den Augen und lief nach draußen. Madura saß vornüber gebeugt auf dem Stuhl und schnarchte. Die Kugel stand neben ihr auf dem Boden. Sie leuchtete nicht und zeigte keine Bilder mehr. Kalif fasste die Hexe an der Schulter und rüttelte sie. ”He, aufwachen!”
Madura regte sich, setzte sich aufrecht und sagte: „Ich hab´ dein ganzes, jetziges Leben durchleuchtet.”
„Ja und?”
„Ob du´s glaubst oder nicht, es war nichts Ungewöhnliches festzustellen.”
„Soll das bedeuten, ich bilde mir alles nur ein?“
Die Hexe schüttelte ihren Kopf, so dass die große Warze auf ihrer Nase tanzte.
„Also kannst du mir nicht helfen?”, wollte Kalif wissen.
„Einerseits schon – andererseits ...”
Kalif sah sie mit großen Augen an: „Was soll das genau heißen?”
Madura kicherte „Soll heißen, dass wir in deinen anderen Leben nachsehen müssen.”
„In meinen anderen Leben?”
„So ist es.”
Schließlich erklärte Madura, dass alle Seelen aus einem Urmeer stammen. Wenn eine Seele lange genug dort war, sehnt sie sich danach, eine Identität anzunehmen und sich in einem Körper zu manifestieren. Auf die Art wird die Seele, die ansonsten einem Wassertropfen im Meer gleicht, zu einem Wesen. Ein Geschöpf, das ein Ich hat, ein Ego, das geboren wird, lebt und stirbt. So eine Seele kann viele Leben leben, bis sie die höchste Vollendung erreicht hat. Dann findet sie zurück ins Urmeer, zu Frieden und Glückseligkeit.
Kalif holte tief Luft. Das waren ja Dimensionen. Wie sollten solche Vorgänge eine Lösung für sein kleines Leben sein?
„Woher willst du das alles wissen?“
Madura kicherte. „Ich bin eine Hexe – ich weiß noch viel mehr.“
Sie sah Kalif an: „In einem der vielen Leben, die du durchlaufen hast, muss etwas passiert sein. Das wirkt sich in deinem jetzigen Leben aus
und ist die Ursache deines Problems.“
„Hast du diese anderen Leben auch in deiner Kugel?“
„Nein - ihre Zauberkraft reicht nicht aus dafür. Ich kann nur dein jetziges Leben darin sehen.“
„Dann gibt es also keine Hoffnung?“
„Es gibt eine Möglichkeit, aber dazu muss ich höhere Mächte um Hilfe bitten.“

Kalif sah die Hexe lange an. War er drauf und dran, dieser alten Schachtel auf den Leim zu gehen? Urmeer der Seelen, viele Leben gelebt, wieder zurück ins Seelenmeer? Und helfen könne sie mir nur mit Hilfe höherer Mächte? Was für Mächte, zum Teufel? Bis jetzt war mein Leben manchmal einsam und traurig, nun schickt es sich an, absurd zu werden.
„Das verwirrt dich, ich sehe es dir an. Aber ich habe einen Plan.“
Kalif wusste nicht, was er davon halten sollte. Eine Weile schwiegen sie. Dann sprang Madura auf und riss beide Arme hoch, als wolle sie einen Tanz starten.
„Wir müssen reisen, mein Lieber. Ich muss den großen Besen startklar machen.“
„Reisen, mit einem Besen?“
Kalif starrte sie entsetzt an. Die Alte muss tatsächlich verrückt sein.
Im nächsten Augenblick war Madura auf dem Balkon und hatte ihren Besen in der Hand. Sie nahm das Ende des Stiels
und zog es ein Stück heraus, so dass der Besen fast doppelt so lang wurde.

„Jetzt passen wir beide drauf.“
Sie setzte sich vorne hin und sah Kalif auffordernd an: „Auf was wartest du?“
„Jetzt gleich, ohne etwas vorzubereiten und ohne dass ich das Ziel kenne?“
„Vorräte holen wir unterwegs in meiner Behausung. Das Ziel verrate ich dir zur rechten Zeit.“
Ich muss verrückt sein, dachte Kalif, als er hinten drauf Platz nahm. Sogleich bewegte sich der Besen. Flog über die Brüstung des Balkons und dann steil
nach oben. Der Turm wurde immer kleiner unter ihnen. Schließlich hatte der Besen eine ordentliche Höhe erreicht und schoss pfeilschnell geradeaus.
Maduras lange Haare flatterten wie Segeltuch im Wind. Kalif hielt sich mit beiden Armen um ihren Bauch fest und drückte sich an ihren Rücken. Das kann ja heiter werden, dachte er. Aber es war ein großartiges Gefühl, so durch die Luft zu segeln. In Höhe der Wolken zu schweben, während die Landschaft unter einem klein und kleiner wurde.


Teil III
Eine gute Flugstunde später, kam ein Berg in Sicht. Madura drehte eine Runde um ihn herum, ehe sie, auf halber Höhe landete und vom Besen abstieg.
„Hier wohne ich.“
Sie rollte den Stein zu Seite, der den Eingang verschloss und zeigte Kalif mit einer Geste an, einzutreten. Kalif war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ihm war halb schwindlig von dem Flug und er fröstelte. Sein Steißbein tat ihm weh von dem harten Stängel, auf dem er gesessen hatte. Er bückte
sich und lief in die Höhle rein.
Drinnen sah er dunkle Wände, einen alten Herd, ein morsches, moderiges Bett in der Ecke und überall Spinnweben. An der Decke hingen Fledermäuse, von denen ein paar aufgeflogen waren, als er den Raum betreten hatte. Sie flatterten einen Moment umher, um sich dann wieder an der Decke fest zu saugen.
„Bisschen finster für meinen Geschmack.“
Madura kicherte. „Hexen lieben es auf die Art.“
Sie entzündete eine Öllampe und stellte sie auf den Tisch. Als nächstes holte sie dünne Scheiben Fleisch aus einem Steinkrug, gab Kalif ein paar davon und sagte: „Steck´ dir die ein, die werden wir dringend brauchen.“
Kalif fragte sich für was, legte die Scheiben aber auf ein Tuch, faltete es zusammen und steckte es in die Hosentasche.
„Wenn man ein Stück davon kaut“, erklärte Madura, „verleiht es einem - wenn auch nur für begrenzte Zeit - überdurchschnittliche Kräfte.“
„Überdurchschnittliche Kräfte?“
Madura nickte: „Jawohl, die werden wir brauchen.“

Später, als sie auf dem Nachtlager aus Stroh lagen, konnte Kalif nicht gleich einschlafen. Er wollte noch reden, doch die Hexe gebot ihm zu schweigen.
„Mach´ die Augen zu“, befahl sie, „und schlafe. Verschwende nicht unnötig Energie.“
Mein Gott, dachte Kalif, auf was hab´ ich mich da eingelassen. Und dabei weiß ich noch nicht einmal, ob sich die Anstrengung am Ende auszahlen wird. Und ob ich mit heiler Haut davon komme scheint ebenfalls nicht sicher zu sein. Schließlich ließ er die Gedanken, drehte sich zu Seite und schlief ein.

„Wir müssen zu den drei armen Teufeln!“, eröffnete ihm Madura am nächsten Morgen.
Sie hatte Kalif eine Schüssel mit Wasser zum Waschen hin gestellt und ein Tuch zum Abtrockenen. Während er sich wusch, stand sie am Herd und machte die Suppe heiß, die sie vor Tagen gekocht hatte. Danach füllte sie etwas davon in zwei Teller, stellte sie auf den Tisch und legte zwei Löffel dazu. Beide setzten sich. Die Hexe fing sofort an, sich die Suppe einzuverleiben. Kalif sah auf seinen Teller und versuchte heraus zu finden, was da drin schwamm und warum die Suppe so eklig grün und braun war.
„Was ist das für eine Suppe?“
Madura hielt inne und sah ihn an: „Sie gibt dir Kraft.“
Kalif sah sie an: „Und was ist da drin?“
Madura kicherte: „Musst du nicht wissen. Hauptsache sie macht dich kräftig.“
„Ich will aber wissen, was da drin ist.“
„Hör´ mal“, antwortete Madura, „wenn ich dir sage, dass sie gut für dich ist, dann ist sie gut. Und nun iss und frag´ nicht.
Wir müssen gleich los.“
Kalif tauchte den Löffel ein und probierte etwas davon. Es schmeckte gar nicht schlecht. Und wenn es einen auch noch kräftigt –
also aß er die Suppe.

„Fangen wir mit den Vorbereitungen an“, sagte die Hexe, als sie gegessen hatten.
"Wir brauchen jeder ein Kettenhemd, wir brauchen Waffen und wir müssen einiges an Proviant zusammenpacken. Zusätzliche Kleidung gegen Kälte
und Regen ist nötig.“
„Brauchen wir die Waffen wegen den Drei armen Teufeln?“
„Was denkst du denn?“
Das müssen ja Kerle sein, dachte Kalif. Er probierte das Kettenhemd, das ihm Madura gereicht hatte. „Du musst es mit dem Gürtel fest zuschnüren“, sagte sie, „die Teufel verfügen über Äxte, Säbel und Lanzen.“
„Aber ich bin kein Soldat, ich bin ein Handwerker.“
„Wir haben das Kraft-Fleisch – das wird uns helfen.“
Madura reichte ihm ein Schwert und eine Scheide, die an seinen Gürtel gehängt werden konnte. „Hier ist noch eine Axt“, sagte Madura und reichte sie ihm.
Kalif nahm die Axt, wog sie in der Hand und steckte sie in den Gürtel. Kann ja heiter werden, dachte er. Zwei Templer, die sich zum Kreuzzug auf machen.

„Wer sind die drei armen Teufel?“
„Sie wissen viel und können uns womöglich weiter helfen. Sie leben auf einem Hügel, den man die Glatze nennt. Weil er von oben aussieht, wie ein kahlgeschorener Menschenkopf.“
Kalif versuchte sich das vorzustellen.
„Vor dem Eingang zum Hügel ist ein Labyrinth, durch das wir durch müssen.“
Madura sah Kalif an: „Kommen wir von oben, töten sie uns auf der Stelle, weil sie uns für Engel halten; ihre natürliche Feinde.“
Kalif kam das alles ziemlich befremdlich vor.
„Aber einen Vorteil haben wir“, erklärte Madura, „die Teufel sehen nicht besonders gut. Wegen dem Schwefel von dem sie stets umgeben sind. Wenn wir es geschickt anstellen, kommen wir bis zum Rand des Hügels, ohne dass sie uns vorher entdecken. Wir müssen sie überraschen, dann sind sie geschockt und können uns nicht sofort den Garaus machen.“
„Haben wir eine Chance zu überleben?“
Madura zog die Stirn in Falten, als müsse sie angestrengt darüber nachdenken.
Dann kicherte sie: „Natürlich haben wir die.“

Sie packten alles in zwei Rucksäcke und hängten sie sich auf den Rücken.
Die Waffen blieben am Gürtel.
„Bist du bereit?“
Kalif nickte.
Sie gingen aus der Höhle.
Die Hexe setzte sich auf den Besen, Kalif setzte sich hinter sie, hielt sich an ihr fest und schon zischten sie ab. Die Hexe umrundete den Berg zwei mal und ließ ein lautes „Huiii, huiii“ hören, ehe der Besen an Höhe gewann und wie ein Pfeil geradeaus flog. Kalif wusste nicht, dass es einen kompletten Tag dauern würde, bis sie die Glatze erreichten. Madura hatte es ihm, aus gutem Grund, verschwiegen.


Teil IV
Als die ersten Sonnenstrahlen auf die Welt fielen, sahen sie die Glatze unter sich. Sie hatten den ganzen Tag und die ganze Nacht für den Flug gebraucht und waren nun endlich am Ziel. Der Hügel sah von oben wirklich aus wie ein riesiger kahler Menschenschädel, den man in die Erde gerammt hatte. Augen und Nase gab es anscheinend auch, das war komisch.
Madura hätte sich das gerne genauer angesehen. Aber sie hielt es für besser, nicht tiefer zu fliegen. Sie wollte sich den Teufeln lieber auf dem Landweg nähern, wie man ihr geraten hatte. Und dieser Rat einer anderen Hexe kam nicht von ungefähr. Sie landeten auf einer Wiese, direkt vor dem, was man das Teufels-Labyrinth nannte. Ein Irrgarten, dessen Ausgang, der Zugang zur Glatze war. Madura hatte bereits in der Luft einen möglichen Weg erspäht, mittels dem sie am besten hindurch kommen konnten.
Den Besen versteckte sie sorgsam in einem hohlen Baum, die Vorräte kamen in einem Gebüsch unter. Nur zwei Stücke Kraft-Fleisch packte sie aus, das von beiden an Ort und Stelle gekaut und runter geschluckt wurde. Danach legten sie die Kettenhemden an; die Waffen steckten schon am Gürtel. Kalif war heilfroh, den Fuß wieder auf festen Boden setzen zu können. Mein Gott, sein Hinterteil tat ihm vielleicht weh. So ein Besenstiel hatte es in sich. Aber müde war er nicht, das Kraftfleisch schien seinen Dienst zu tun. Als beide fertig gerüstet waren, nickten sie sich kurz zu, gingen in Richtung Labyrinth und traten ein.

Gleich am Eingang griff die Hexe in ihre Tasche und streute etwas von dem Leuchtpulver, das sie mit hatte, auf die Erde. Vorsorglich, falls es auf dem Rückweg Nacht sein sollte. Danach packte sie die lange Schnur aus und band ein Ende an einen Torpfosten. Das Schnurknäuel steckte sie in die Rocktasche, wo es sich beim weiterlaufen von selbst aufrollte. Sie waren schon ein paar Schritte gegangen, als Madura sagte.
„Wir müssen da lang.“
Dabei zeigte sie nach links. Kalif nickte, folgte ihr und sah sich nach allen Seiten um. Viel zu viele Gänge überall, in die man abbiegen könnte. Hoffentlich behalten wir den Überblick und landen nicht ungewollt mitten in der Hölle. Bedächtig, jeden Schritt abwägend, lief die Hexe voran. Ständig setzte sie das Bild - das sie von oben gesehen hatte - in das um, was man hier unten sah.
„Wir müssen da lang“, sie zeigte in eine andere Richtung nach rechts.
An der nächsten Ecke ließ sie wieder etwas von dem Leuchtpulver fallen und stellte fest, dass sich die Schnur in ihrer Manteltasche gleichmäßig aufrollte. Von ein paar kleineren Verirrungen abgesehen, kamen sie schließlich zum Ausgang des Labyrinthes und sahen die Glatze vor sich. „Wir haben es geschafft“, frohlockte Kalif. Er konnte es kaum glauben. Schickte sich an nach draußen zu gehen, doch Madura hielt ihn zurück.
Hinter ihnen waren die beiden Hunde aufgetaucht. Groß wie Pferde, mit blutunterlaufenen Augen und hochgezogenen Lefzen, die das schreckliche Gebiss entblößten, standen sie da. Einen Augenblick schien es, als seien sie selbst überrascht von der Begegnung. Madura nützte diesen Moment. „Die Höllenhunde“, schrie sie und zerrte Kalif mit sich. Beide rannten zurück in die Richtung aus der sie gekommen waren. Die Hexe legte dabei ein Tempo vor, so dass Kalifs Füße mehr über den Boden schwebten als dass er lief. Um ein paar Ecken fand sich eine Mauernische, sie drückten sich rein und kauerten sich zusammen.
„Kein Ton“, flüsterte die Hexe, „sonst sind wir Hackfleisch.“
Kalifs Herz raste vor Aufgeregtheit, der Schweiß brach ihm aus allen Poren.
Solche riesigen Hunde hatte er noch nie gesehen. Maduras Atem ging stoßweise. Sie zeichnete etwas in den Sand. Kalif konnte aber nicht sehen, was. Beide kauerten sich nieder, machten sich so klein wie möglich und verharrten reglos. „Cerberus und Ikerus, des Ober-Teufels Lieblingshunde“, flüsterte die Hexe. Sie hatte gehofft, die beiden nicht zu treffen.

Die Hunde liefen schnuppernd und spähend an ihnen vorbei. So knapp, dass man den scharfen Schwefelgeruch riechen konnte, den sie aus strömten. Kalif und Madura duckten sich noch tiefer in die Mauernische. Ob das genug Schutz für sie beide war, dessen war sich die Hexe keinesfalls sicher. Die Hunde blieben plötzlich stehen und schnupperten, hatten sie etwas gewittert? Den Mund halb offen, die furchtbaren Zähne gefletscht, die langen Zungen heraus hängend, schnellten ihre Augen hin und her. Kalif stellte sich vor, wie sie sich mit ihren höllischen Zähnen in sein Fleisch bohren, es heraus reißen, schlucken und anschließend sein Blut saufen. Sekunden vergingen wie Ewigkeiten. Dann waren die Hunde plötzlich verschwunden, ohne dass Madura und Kalif mit bekommen hatten, wohin.
Sie warteten noch eine Weile, ehe sie zögerlich aus ihrem Versteck krochen und sich nach allen Seiten umsahen. An der Stelle sah Kalif, dass Madura einen Drudenfuß in den Sand gezeichnet hatte. „Durch dieses magische Zeichen waren wir geschützt, sonst hätten uns die Mistviecher gerochen und gefressen.“
Sie sah noch mal nach links und nach rechts: Die Luft schien rein zu sein, die Hunde hatten die Platte geputzt. Hatte sie jemand zurück gepfiffen?
Es sah fast danach aus.
„Komm!“, flüsterte Madura und zerrte Kalif am Arm mit sich.
So strebten sie ein zweites Mal dem Ausgang zu, sich immer wieder nach allen Seiten umsehend. Doch die Hunde waren weg, kamen nicht wieder. Die beiden konnten den Ausgang ungehindert passieren und hatten nun den Aufstieg zur Glatze vor sich.

Wie ein riesiges, glänzendes Etwas, ragte der Hügel vor ihnen auf. Sie erstiegen ihn. Was von oben wie zwei Augen und eine Nase ausgesehen hatte, war jetzt deutlich zu erkennen: Es waren die drei Teufel selbst. Zwei von ihnen lagen oberhalb des Berges, zusammengerollt wie Augen. Einer lag etwas weiter unten, längs hingestreckt, wie eine Nase. Vorsichtig näherten sich Kalif und Madura. Als sie in Hörweite waren, rief die Hexe mit ihrer schönsten Stimme:
„Seid gegrüßt, ihr freundlichen Teufel.“
Sie blieben stehen, um die Wirkung der Worte abzuwarten. Keiner der Teufel rührte sich. Madura gab Kalif ein Zeichen, langsam und vorsichtig weiter zu gehen. Schritt für Schritt, jeden Moment auf eine Reaktion gefasst, näherten sie sich.

Überraschenderweise bot sich den beiden Besuchern ein Bild des Elends, als sie schließlich vor der Teufeln standen. Die beiden zusammengerollten Teufel sahen halb verhungert aus. Sie japsten, als pfiffen sie aus dem letzten Loch. Der dritte Teufel, die Nase, hatte nur noch einen Fuß. „Ich bin Luzifer der 16.“, sagte er, und richtete sich mühsam auf. „Wie ihr seht, kann ich nicht mal auf meinen eigenen Beinen stehen. Habt ihr Fremdlinge vielleicht etwas zu essen für mich?“
Kalif und Madura waren überrascht. Eines der Augen schrie: „Auch ich habe Hunger, gebt mir etwas zu essen. Ich bin Luzifer der 15. und habe seit Tagen nichts mehr im Magen gehabt.“ Das zweite Auge jammerte ebenfalls: „Ich habe immer einen trockenen Hals, weil mich dürstet. Ich heiße Luzifer der 14. Mein Urgroßvater, der Oberteufel, kann mich nicht leiden und hat mich mit meinen Brüdern auf die Glatze verbannt.“
Kalif und Madura waren gerührt von soviel Elend. Für einen Moment vergaßen sie alle Vorsicht und wollten nur helfen. Jetzt war Kalif auch klar, was der Name Die drei armen Teufel bedeutete. Madura holte etwas Fleisch aus der Rocktasche und reichte es der Nase.
Kalif fand eine Birne in seiner Jacke, zerteilte sie und gab sie den beiden Augen.
Wenn die erst mal etwas gestärkt sind, dachte Madura, werden sie bestimmt willig Auskunft geben. Die Teufel ließen sich Zeit, aßen das Fleisch bedächtig kauend und tranken den Saft der Birne, die sie in der Hand zusammen quetschten. Ihre Gesichter bekamen einen immer zufriedener werdenden Ausdruck. Als Madura es für angebracht hielt, fragte sie: „Wenn ein Mensch von den anderen zwar respektiert, aber ansonsten gemieden wird, woran kann das liegen?“
Die Nase blickte auf und hatte gerade das Stück Fleisch fertig gekaut. „Wer ist dieser Mensch, den sie nicht mögen?“
„Er steht vor dir“, antwortete Kalif.
Die drei Teufel berieten sich. Dabei sprachen sie so leise, dass man sie nicht verstehen konnte. Alle drei hatten inzwischen fertig gegessen und getrunken und schienen sich besser zu fühlen. Selbst das linke Auge, das bis zuletzt die Birne zusammen gequetscht hatte, um auch den letzten Tropfen Saft noch heraus zu pressen, war inzwischen fertig.
„Das ist eine komische Frage“, antwortete die Nase, „wir kümmern um so etwas nicht. Wir verführen die Menschen, einen Vertrag mit uns einzugehen und entreißen ihnen am Ende die Seelen, das ist unser höllisches Geschäft.“

Im nächsten Moment geschah Merkwürdiges: Die Nase holte auf einmal den abgeschlagenen Fuß aus der Jackentasche und schraubte ihn ans Bein. Die beiden anderen Teufel erhoben sich und blickten aus glühenden Augen auf die Eindringlinge. Alle drei Teufel standen jetzt nebeneinander und sahen alles andere als arm aus. Bedrohlich wirkten sie. Wirklich teuflisch, mit einem mal, so dass man ihren Anblick kaum ertragen konnte.
„Schnell“, sagte Madura, „nimm´ noch Kraft-Fleisch.“
Sie gab Kalif ein Stück und aß selbst noch eins. Gleich darauf konnten sie den Anblick der Teufel ertragen. Es scheint wirklich ein Wunderfleisch zu sein, dachte Kalif.
Ohne vorherige Warnung gingen die Teufel zum Angriff über. Einer riss sich ein Haar aus, das in seiner Hand zu einem Speer wurde. Diesen schleuderte er gegen Kalif und traf ihn voll auf die Brust. Das Kettenhemd jedoch, tat seine Wirkung und ließ das Geschoss nicht eindringen. Madura wurde ebenfalls von einem Spieß getroffen, der genau so wirkungslos abprallte.
Ein anderer Teufel bedrängte Kalif mit Dreizack und Netz, wie ein Gladiator. Mit bloßen Fäusten setzte der sich gegen ihn zur Wehr, wich den Schlägen aus und brachte ein paar wirkungsvolle Treffer an. „Caramba!“, schrie der wütende Teufel, und startete erneut einen Angriff. Er schwang das Netz und stieß mit dem Dreizack zu. Aber das Kettenhemd tat seinen Dienst und hielt die Stöße ab. Kalif hatte jetzt das Schwert in der Hand und schlug sich nach Kräften. Wie ein Derwisch wirbelte er herum, ließ das Schwert tanzen und bot dem Teufel ordentlich Paroli.
„Wir kriegen euch noch“, drohte ein anderer Teufel. Er schwang eine riesige Streitaxt, wie ein Ritter und ging auf Madura los.
„Gleich“, brüllte er, „wirst du in der Hölle braten.“
Er hob die Waffe mit beiden Händen und drohte der Hexe den Schädel zu spalten. Doch Madura wich dem Hieb aus, stellte dem Teufel ein Bein, so dass er hin fiel. Noch bevor er zu Boden ging, hatte sie das Schwert in Händen und schlug dem Belzebub eine satte Wunde quer über den Bauch. Höllisch schrie der Teufel auf; doch der Kampf war noch nicht zu Ende.
„Mein Großvater“, schrie der dritte Teufel, „bindet euch auf den Grillrost; ihr werdet gebraten wie Schweine. Und vorher zieht er euch beiden die Haut vom Körper.“
Das Zweihänder-Schwert hoch erhoben, rannte er auf Kalif zu und zielte auf dessen Beine, die keinen Schutz hatten. Kalif wich erst geschickt aus und schlug ihm mit dem Schwertgriff auf den Schädel, so dass es knackte und knirschte, der Teufel taumelnd umher wankte. Doch dann konnte der einen Hieb anbringen und schlug Kalif eine satte Wunde am Oberschenkel. Blut quoll heraus, wie aus einer sprudelnden Quelle.
Kalif schrie auf, musste sein Schwert senken und griff sich ans Bein. Als derselbe Teufel ihn erneut angehen wollte, kam die Hexe mit einem gezielten Schwerthieb zu Hilfe, und drängte den Angreifer zurück. Lange würde Madura nicht durchhalten gegen die Drei, jetzt, wo Kalif aus zu fallen drohte.
„Halt durch!“, schrie die Hexe, „ich werde die Wunde nachher versorgen. Halt dich aufrecht, tu einfach so, als könntest du weiter kämpfen.“
Kalif drückte eine Handfläche auf die Wunde und versuchte wieder auf die Beine zu kommen; was ihm mit Mühe gelang. Angeschlagen standen er und die Hexe schließlich nebeneinander und sahen einem erneuten Angriff entgegen.
Die Teufel hatten sich ein Stück zurück gezogen und steckten die Köpfe zusammen. Dann schienen sie wieder bereit zu sein, formierten sich nebeneinander und liefen auf die Eindringlinge zu. Überraschend ließen sie ihre Waffen fallen und einer sagte, als sie nur noch zwei Schritte entfernt waren: „Ihr habt euch gut geschlagen, also werdet ihr eure Antwort bekommen.“
Kalif und Madura behielten die Waffen vorsichtshalber noch in den Händen.
„Ihr müsst in den Nebenwelten suchen, der Fehler liegt irgendwo in der Vergangenheit. Es kommt darauf an, den richtigen Zeitabschnitt zu finden. Ihr müsst euch Zugang verschaffen, dort liegt die Lösung.“
Die anderen Teufel nickten bestätigend und ihre Blicke glühten jetzt wieder, dass es kaum auszuhalten war. Madura wollte noch fragen, was mit den Nebenwelten gemeint sei. Aber sie ließ es, denn die Teufel hatten sich vor ihnen aufgestellt und blickten auf eine Art, die ahnen ließ, dass diese Unterredung beendet war. „Geht jetzt!“, sagte einer der Teufel, „ihr seid mutig gewesen und seid dafür belohnt worden. Jetzt verschwind, sonst müssen wir euch doch noch töten und euch die Seelen entreißen.“

„Sieh mal, da liegen sie wieder.“
Kalif und Madura schwebten inzwischen wieder über der Glatze. Ohne viel Mühe hatten sie, anhand der gelegten Schnur, aus dem Labyrinth heraus gefunden, hatten den Besen startklar gemacht und waren los geflogen. Den Höllenhunden waren sie nicht mehr begegnet und Kalifs Wunde hatte die Hexe mit Kräutern behandelt, genäht und einen Verband angelegt. Kalif sah jetzt auch nach unten: „Du hast recht, es sieht wieder aus wie zuvor: Eine Glatze mit zwei Augen und einer Nase.“
Madura kicherte: „Kiek, kiek, kiek.“
Sie verzichtete, wegen Kalif´s Wunde, auf rasante Kurven, die sie an so einer Stelle gerne flog. Sanft ließ sie den Besen ansteigen und lenkte seinen Flug geradeaus in Richtung Freiland, wo sie hergekommen waren. Kalif hielt sich an ihr fest und schwor sich unterwegs, nach diesem Flug nie mehr auf einen Hexenbesen zu steigen.


Teil V
Die nächsten Tage verliefen wieder wie gewöhnlich. Kalif war ins Dorf gegangen, hatte für verschiedene Leuten etwas repariert, hatte wie stets gleich seinen Lohn bekommen und war nun, eine Tüte mit Vorräten in der Hand, auf dem Rückweg zum Turm. Dieses Mal hatte er nicht versucht, jemanden zu einem Glas Wein zu einzuladen. So klein musste er sich vor denen nicht jedes Mal machen. Maria hatte er auf dem Markt gesehen. Sie sah ihn auch, zögerte eine Sekunde, ehe sie sich umdrehte und weiter ging. Ob sie ihn doch mochte – sich aber nicht getraute zu ihm zu kommen, wegen der Dorfbewohner? Es war schwer einzuschätzen.
Er dachte auch über seine Abenteuer mit Madura nach. Diese alte, hässliche Hexe. Was hatten sie durch all das erreicht?
„Sucht in den Nebenwelten“ - für so eine Antwort riskierten sie ihr Leben.

Zuhause angekommen, machte es sich Kalif gemütlich. Er setzte sich mit einem Bier und einer Pfeife auf den Balkon und warf einen Blick in die Weite. Ich werde der Hexe sagen, dass ich nicht mehr mit mache. Ich finde mich mit der Situation ab und nehme es als mein Schicksal; was wohl das Vernünftigste sein wird. Er ging in die Küche und bereitete einen Linseneintopf vor. Zwei Würste hatte er im Dorf auf dem Markt erstanden.
Als er später am Tisch saß und einen Teller davon aß, kamen ihm wunderlich andere Gedanken in den Sinn. Ich werde Madura verlieren. Diese geschwätzige, alte Hexe, die sich inzwischen in mein Herz gestohlen hat. Sie ist mutig, das muss man ihr lassen. Sie ist der einzige Freund, den ich habe. Keiner aus dem Dorf würde mir so die Hand reichen und sagen: „Kalif, ich will dir helfen.“ Die konnten sich selbst nicht helfen, mit ihren eingefahrenen Vorstellungen. Auf der einen Seite schien ihm dieser lange Weg zur Lösung seines Problems zu mühsam und er schien ihm auch wirkungslos zu sein. Dennoch wollte er die einzige Freundin und Gesellschaft hier im Turm nicht verlieren.

Madura hatte sich für ein paar Tage von Kalif verabschiedet. Sie wollte andere Hexen besuchen und sich ein wenig umhören, wegen der Nebenwelten.
Gegen Ende der Woche wollte sie wieder zurück sein.
Komisch, dachte Kalif, als er sich nach dem Essen erneut eine Pfeife gestopft hatte und ein Bier geöffnet. Ich vermisse sie jetzt schon, gleich am ersten Tag. Er saß wieder auf dem Balkon, rauchte und sah versonnen in die Weite. Bis zum Abend saß er da, holte sich noch ein Bier. Als es immer dunkler und kühler wurde, auch eine Decke, die er sich über die Beine legte. Ich muss heraus finden, was ich wirklich will, damit ich mich richtig entscheide. Die Sterne sahen inzwischen auf ihn hinab, auch der Mond. Kalif blickte hoch in den Himmel und dachte: Mein Entschluss muss so klar sein, wie diese Gestirne - bis Madura zurück kommt, muss ich mich entschieden haben.
Die ganze Nacht saß er noch da und hing seinen Gedanken nach. Dachte über das Abenteuer mit den Drei armen Teufeln nach. „Ihr habt euch tapfer geschlagen“, hat einer der Teufel gesagt und das hatten sie wirklich. Kalif zog sich die Hose ein Stück runter, um seine Wunde zu betrachten. Sie heilte,
die Hexe hatte sich gut darum gekümmert. Ich hätte einen Beinschutz tragen sollen. Aber kann man damit noch schnell genug laufen in einem Kampf?
Wohin werden wir als nächstes fliegen?, fragte er sich. Allein diese Frage führte seinen Vorsatz, sich auf keine weiteren Abenteuer einzulassen,
ad absurdum.
In den frühen Morgenstunden erwachte er, fand sich frierend und stand auf. Fröstelnd lief er ins Schlafzimmer und zog sich aus, um noch ein paar Stunden im warmen Bett zu verbringen. Ihm träumte, er sei unten im Dorf: Säße bei den Leuten, würde Wein mit ihnen trinken. Auch zum Essen lud man ihn ein und alle im Dorf hatten ihn auf einmal lieb gewonnen. Keiner hatte mehr etwas gegen ihn. Man riss sich sogar darum, neben ihm zu sitzen und mit ihm zu plaudern. Auch Maria kam, setzte sich zu ihm und machte ihm schöne Augen.
Als Kalif gegen Mittag wach wurde, schwelgte er immer noch in diesem Gefühl. Wie sehr wünschte er sich, es würde wahr sein. Er stieg aus dem Bett, wusch sich und kleidete sich an. Beim Zähne putzen dachte er: Es gibt nichts umsonst in dieser Welt, man muss für alles kämpfen. Was wären die Dinge sonst wert, müsste man es nicht?


Teil VI
„Kalif, Kalif - wo bist du?“, rief Madura und lief suchend durch die Wohnung.
Es war zwei Tage später. Die Hexe war wieder auf dem Turm gelandet, hatte ihren Besen in eine Ecke auf dem Balkon gestellt und war durch die offene Tür eingetreten. Kalif antwortete nicht. Er hatte sich, als er zum ersten Mal an dem Tag wach geworden war, wieder umgedreht, um noch ein wenig zu schlafen. Er fühlte sich erschöpft und der Schlaf tat ihm gut. Als Madura im Schlafzimmer neben seinem Bett stand, rüttelte sie ihn wach.
„Sag´ mal“, brummte Kalif, als er zu sich kam, „warum lässt du mich nicht schlafen?“
Er drehte sich auf die andere Seite und zog sich die Decke über den Kopf.
„Verschläfst du immer den halben Tag, wenn du hier im Turm bist?“
"Wie spät ist es denn?"
"Schon fast Mittag.“
Kalif schlug mit einem mal die Decke zurück und setzte sich aufrecht. "Warum sagst du das nicht gleich?"
Er stand auf, zog sich eine Hose und ein Hemd an und ging wortlos ins Bad. Dort erleichterte er sich, wusch sich danach und putzte sich die Zähne.
Madura hatte sich in der Zeit ins Wohnzimmer gesetzt und wartete auf ihn. Als Kalif bei ihr war, sagte sie: „Ich habe gute Nachrichten.“
Kalif sah sie neugierig an. „Es gibt zweierlei Nebenwelten: Die einen enthalten die Vergangenheit, die anderen die Zukunft. Wir müssen in die Vergangenheit, wie ich schon sagte. Zuvor aber, brauchen wir Einblick in das Buch des Lebens.“
Kalif sah sie an, als würde man versuchen, ihm chinesische Schriftzeichen beizubringen.
„In diesem Buch steht alles“, erklärte Madura, „an welchen Orten du gelebt hast, in welcher Zeit, wie lange, was du getan hast.“
„Ist ja erschreckend – steht das alles wirklich über mich da drin?“
Madura nickte. „Von uns allen steht da alles drin. Aber nur die Oberhexe hat Zugang, Menschen nicht.“
„In deinem Vorleben muss irgend etwas passiert sein. Du hast Schuld auf dich geladen, hast ein schlechtes Karma. Und das wirkt fort bis in dein heutiges Leben.“
Kalif war verwundert: „Meinst du deswegen mögen mich die Leute nicht? Das können die doch gar nicht wissen.“
„Sie wissen es auch nicht, spüren aber die karmische Energie.“
Kalif zog die Stirn in Falten und sah sie ungläubig an.
„Freu´ dich doch“, antwortete Madura, „wir kommen der Sache näher.“
Kalif saß da und schwieg. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er diesen Zirkus weiter mit machen wollte. Mit einem mal begriff er, welch´ langer und mühsamer Weg vor ihnen lag. Madura sah seinen zweifelnden Gesichtsausdruck und sagte: „Garantien gibt es keine, da gebe ich dir recht. Aber wenn man es nicht versucht, bleibt alles beim Alten. Erreicht man tatsächlich nichts, hat man wenigstens die Genugtuung, dass man es probiert hat.“

Kalif holte sich ein Bier und stopfte sich eine Pfeife. Madura wollte kein Bier und rauchen wollte sie auch nicht. Beide schwiegen eine gute Weile, ehe Madura wieder das Wort an sich riss: „Das Buch des Lebens wird von der Ober-Hexe verwaltet. Es kann nur zu bestimmten Zeiten geöffnet und gelesen werden. Wir müssen uns beim nächsten Sabbat auf der Kultstätte einfinden und direkt mit ihr verhandeln. Sie allein hat Zugang und kann uns Einblick zur rechten Zeit gewähren.“
Kalif nahm einen Zug von der Pfeife und schwieg nachdenklich.

Später, saßen sie beide in der Küche am Tisch und aßen den Brei, den Kalif gekocht hatte.
„Wann und wo wird der Hexen-Sabbat stattfinden“, fragte er zwischen zwei Bissen.
„Im November natürlich, auf dem Teufelsberg. Alle Hexen aus ganz Freiland werden sich dort einfinden. Alle Teufel, Drudner, Zauberer und Gesellen.“
„Und die Ober-Hexe?“
„Ja – die natürlich auch“, antwortete Madura und kicherte.

Als der Herbst die Blätter bereits gelb und braun gefärbt hatte und es schon ganz schön kalt war, flogen sie los. Die Tage bis dahin, hatten sie zusammen im Turm verbracht. Madura hatte von Kalif etwas über Kräuter und ihre Anwendung erfahren. Über Planeten und Sterne hatte er ihr einiges näher gebracht. Unzählige Abende hatten sie auf seinem Balkon gesessen und durch´s Fernrohr gesehen. Madura hatte im Gegenzug Kalif gezeigt, wie man Kraftfleisch präpariert und wie man eine Drudner-Kutte näht für den Hexensabbat. Es war nicht ratsam, sich dort als Mensch zu outen. Man spielte mit seinem Leben.
Als letztes hatte sie ihm gezeigt, wie man einen Besen auf Hexen Art reitet.
Und jetzt, huiiii..., waren sie in der Luft, flogen ein paar Kurven, stießen senkrecht in den Himmel und nahmen die Flugrichtung auf. Sie hatten sich warme Kleidung, gefütterte Schuhe, Handschuhe und dicke Mäntel angezogen, um der Kälte zu trotzen. Kalif sah den Turm unter sich immer kleiner werden. Zum Schluss kam er ihm vor, wie eine große, spitze Nadel, die ein Riese in den Wald gesteckt hatte.


Teil VII
Das Bild war zu komplex, um es auf einmal in sich aufzunehmen. Nur nach und nach gelang es einem. Unzählbar viele Hexen tummelten sich auf dem Gelände, einige waren gerade im Anflug, andere flogen wunderlich wieder davon. Teufel sah man umher rasen. Drudner nebst ihren Gesellen hatten sich eingefunden. Links und rechts des Geländes standen unverkennbar die Reitkanonen, mit denen sie hergeflogen waren. Einige der Hexen hatten einen riesigen Kessel über einem Feuer hängen, worin eine undefinierbare Flüssigkeit kochte und brodelte. Andere tanzten, während ihnen eine ungestüme Kapelle mit Musik einheizte. Bei wieder anderen bahnte sich bereits das Buhlen mit den Teufeln an, die hinter ihnen her rannten und sie zu fassen versuchten. Opfertiere standen in der Mitte des Platzes. Vor einem großen Altar vollzogen ein paar der Hexen eigenartige Rituale. Es roch nach Kräutern, nach Duft-Kerzen und überall waren fünfzackige Kreuze zu sehen – die Drudenfüße.

Kalif kam das alles wie ein wild durcheinander laufendes Chaos vor. In Wirklichkeit passierte es nach strengen Regeln, für Menschen jedoch eher undurchsichtig. In der Mitte des Platzes saß ein großer Teufel auf einem reich verzierten Tisch. Dahinter stand eine prächtig geschmückte Hexe, die sein Gesäß küsste. „Was hat das denn zu bedeuten?, flüsterte Kalif Madura ins Ohr.
„Das ist die Oberhexe, sie begrüßt den Oberteufel mit dem traditionellen Kuss. Er soll ausdrücken, dass die Hexen den Teufeln in dieser Nacht zu Diensten sein werden.”
Zu Diensten, dachte Kalif – so heißt das also bei denen.
”Die Teufel kommen im Grunde nur, um mit den Hexen zu buhlen. Danach besaufen sie sich, geben sich der Völlerei hin, rasen und toben die ganze restliche Nacht lang. Zu der Zeit ist äußerste Vorsicht geboten. Stehst du ihnen im Weg, kann es deinen Tod bedeuten.”
Kalif nickte und schnürte die Drudner-Kutte fester zu. Die Kapuze über gestülpt, unterschied er sich in keinster Weise von all den anderen, die auf dem Platz umher liefen. „Was für eine Funktion und Stellung haben die Drudner eigentlich?“
Madura sah ihn an: „Sie sind eher passiv. Sind den Teufeln zu Diensten und geben Rat, aber nur wenn es gewünscht wird. Am Fest direkt beteiligen sie sich weniger. Sie hassen Alkohol, Ausschweifungen und Geschlechtsverkehr. Sie sind so eine Art Enthaltsamkeits-Sekte, aber dennoch präsent. Musik lieben sie wiederum und machen auch selbst welche.“ Madura zeigte in Richtung einer musizierenden Kapelle. Kalif sah genauer hin: Die Musiker waren tatsächlich allesamt Drudner, an der Kleidung leicht zu erkennen. „Sie haben außerdem große Denker, Heiler und Weissager hervorgebracht“, erklärte Madura.
Die beiden liefen auf den Festplatz und mischten sich unter die Leute. Als sie auf eine Gruppe stießen, die um ein Feuer stand, gesellten sie sich einfach dazu. Eine Diensthexe kam vorbei und brachte zwei Becher mit Glühwein. Der Trank schmeckte teuflisch stark, wärmte einen aber vortrefflich.
„Wir dürfen uns der Oberhexe noch nicht nähern“, flüsterte Madura.
„Das Fest muss erst richtig in Gang kommen, doch die Teufel dürfen noch nicht buhlen; diesen Augenblick müssen wir abpassen. Die Oberhexe ist dann im Vollbesitz ihrer magischen Kräfte und kann uns zum Buch des Lebens führen.“

„Hey, bist du nicht ein Mensch?“
Kalif lugte aus seiner Kapuze und sah nach rechts, wo das abschätzende Gesicht eines Drudners ihn ansah. Er lachte und erwiderte: „Wie kommst du denn darauf?“ Sein Gegenüber weihte zwei seiner Kameraden ein, die gerade dazu kamen. Kalif wurde von allen dreien ausgiebig gemustert. „Ein Mensch hat sich hier eingeschlichen“, wiederholte der Erste. Ein anderer sagte: „Menschen haben hier keinen Zutritt.“
Statt einer Antwort, nahm Kalif einen Stock und ritzte ein Pentagramm in den Sand. Mit einem Strich, ohne abzusetzen, wie es ihm Madura beigebracht hatte. Doch den Drudnern war das noch kein ausreichender Beweis; das konnte auch ein Mensch. Also beäugten sie Kalif noch misstrauischer. Madura, die ein Stück abseits gewesen war, kam dazu, erfasste die Situation und sagte: „Er ist mein Begleiter. Habt ihr schon mal ne Hexe gesehen, die von einem Menschen begleitet wird?“
Die Drudner zögerten mit der Antwort. Mit durchdringenden Blicken behielten sie Kalif im Auge. Dieser erwiderte deren Blick, ohne ihn abzuwenden.
„Entschuldige Bruder“, sagte schließlich der, der ihn zuerst angesprochen hatte und reichte ihm die Hand.
„Mein Name ist Bill Falkenspiegel.“
Die beiden anderen Drudner gaben Kalif ebenfalls die Hand und stellten sich vor.
Bill hielt eine Diensthexe an und sagte ihr, sie solle Tee für fünf Leute bringen. Als sie damit kam, nahm jeder ein Glas in Empfang. Bill hob seines hoch und sagte: „Auf unsere neue Freundschaft.“
„Auf unsere Freundschaft“, wiederholten Kalif und Madura.
Dann machten die Drudner den Vorschlag, noch ein wenig auf den Kanonen zu reiten, bevor das Fest richtig beginnt. Und Kalif, der neue Freund, sei dazu eingeladen. Ob er auch mit einer Kanone da sei? Da half Madura wieder und erklärte, dass sie beide auf einem Besen geflogen seien. Kalif behagte das überhaupt nicht. Das Risiko, doch noch als Mensch erkannt zu werden, war ihm zu groß. Außerdem brachte die Sache nichts, hinsichtlich dessen, was sie vor hatten. Am Ende verpassten sie vielleicht noch den rechten Zeitpunkt mit der Oberhexe. Nein - wollte er gerade sagen, aber Madura kam ihm zuvor: „Geh´ nur, es steht dem nichts im Wege.“
Kalif zögerte.
Madura nahm ihn beiseite und flüsterte: “Im Grunde kannst du´s nicht ablehnen, wir würden uns sonst verdächtig machen.“

Bill Falkenspiegel klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und fragte:
„Was ist jetzt, mein neuer Freund?“
Kalif nickte und ging mit ihm
„Du kannst bei mir mit reiten“, sagte Falkenspiegel auf dem Weg zu den Kanonen.

Spät in der Nacht erst, kehrte Kalif von dem unfreiwilligen Ausflug zurück. Madura fand er in dem Zelt, das man ihnen zugewiesen hatte. Es gab darin eine Feuerstelle und zwei Feldbetten. Es gab auch einen Tisch und zwei Stühle. Singend und tanzend torkelte Kalif hinein. Direkt vor Madura´s Bett angekommen, tanzte er ein Ehrentänzchen. Und sang dabei aus voller Kehle - Madura erwachte und sah ihn erstaunt an: „Du scheinst ja ziemlich guter Dinger zu sein.“
Kalif sang weiter, immer das eine Lied, tanzte immer noch dazu und schlug sich abwechselnd mit beiden Händen auf die Oberschenkel. Madura ließ ihn eine Weile gewähren, ehe sie sagte: „Zieh dich jetzt aus und leg´ dich hin. Bei Sonnenaufgang müssen wir raus. Das sind nur noch wenige Stunden.“
Kalif nickte und fing an, sich die Klamotten vom Leib zu reißen. Als Madura seine Fahne roch, sagte sie: „Die trinken doch angeblich keinen Alkohol.“
Kalif lachte: „Zur Feier des Tages heute Nacht aber doch -“
Er spülte sich den Mund aus, als er ausgezogen war und legte sich ins Feldbett. Kaum dass er lag, schnarchte er auch schon und sank in den Schlaf des Gerechten.

„Diese verdammten Biester.“
Kalif schlug ein paar anfliegende Fledermäuse mit der Hand weg. Madura, die hinter ihm lief, kicherte. Es war am nächsten Morgen. Sie liefen in einer Höhle; die Oberhexe im Sturmschritt vorne weg.
„Kümmer dich einfach nicht darum“, sagte Madura, „je mehr du dich wehrst, desto mehr bedrängen sie dich.“
Kalif versuchte es, aber die Fledermäuse bedrängten ihn weiter. Erst als er es schaffte, sich eine Weile nicht mehr um sie zu kümmern, flogen sie tatsächlich über ihn hinweg. Die Hexe hatte recht – man musste die Biester einfach ignorieren.
Die Höhle indes, wurde immer schmaler. Man hatte das Gefühl, in eine immer enger werdende Wurst hinein zu laufen. Der Boden war auf einmal mit Steinen übersät, so dass sie langsamer und vorsichtiger gehen mussten. Schließlich wurde es so finster, dass die Oberhexe eine Fackel entzündete, die sie unter dem Rock hervor gezogen hatte. Der Weg schien kein Ende zu nehmen. Sie liefen und liefen, als müssten sie ans Ende der Welt gelangen. Schließlich bog die Oberhexe in einen Seitengang ab. Dort kam, nach wenigen Metern schon, ein Altar in Sicht. „Ihr beiden müsst zurück bleiben“, befahl sie.
Dabei machte sie Kalif und Madura Zeichen, stehen zu bleiben.
Endlich am Ziel, dachte Kalif und nicht weiter laufen müssen. Die Oberhexe trat vor den Altar, hob in einer Art Zeremonie beide Arme und murmelte unverständliche Formeln. Danach schlug sie das riesige Buch auf, das vor ihr auf dem Tisch lag. Kalif und Madura standen in gebührendem Abstand hinter ihr. Das einzige Geräusch in der Stille war das Rascheln des Papiers beim Umblättern.

Die Oberhexe blätterte lange. Zwischendurch hielt sie immer mal wieder inne und las. Also sie etwas gefunden zu haben schien, beugte sie sich über ein einzelnes Blatt und las, als wolle sie jede Faser mitlesen.
Kalif kam die Sekunden wie Ewigkeiten vor. Der lange, beschwerliche Weg bis hier her und jetzt auch noch stehen. Sein Kopf schmerzte vom Saufgelage der letzten Nacht und sein Rücken tat ihm weh von dem unbequemen Feldbett, in dem er geschlafen hatte. Er machte Anstalten, sich einfach auf den Boden zu setzen. Madura gebot ihm per Handzeichen, sich würdig zu verhalten und stehen zu bleiben. Kalif blieb stehen. Ob sich dieses Füße in den Bauch stehen, am Ende auszeichnen wird, fragte er sich. Vielleicht ist alles einfach nur für die Katz -

Nach einer gefühlten Ewigkeit drehte sich die Oberhexe um. Einen Moment musterte sie Kalif und Madura. Kalif kam dieser Blick vor wie bei einem Arzt,
der einem Patienten eine schlimme Diagnose mitteilen muss. „Ihr müsst zurück ins Mittelalter. Kalif hat sein letztes Leben in England verbracht. In einem Dorf namens Inglewood, sechszehntes Jahrhundert. Im Laufe des Jahres 1553 muss etwas etwas passiert sein. Was genau, kann ich nicht sagen. Darüber gibt das Buch keine Auskunft. Das müsst ihr selbst in Erfahrung bringen.“
Die Oberhexe drehte sich wieder zum Altar um und schlug das Buch zu. Dann lief sie, ohne weitere Erklärung, voran. Kalif und Madura folgten ihr.
Die Oberhexe schien es noch eiliger zu haben, als auf dem Hinweg. Mit ausholenden, schnellen Schritten stürmte sie voran.
Als alle drei am Rand des Platzes zurück waren, auf dem der Hexensabbat statt fand, waren die Teufel bereits höllisch am rasen. Das Fest näherte sich dem Höhepunkt. Überall verfolgten Teufel Hexen, um ihrer habhaft zu werden. Es ging über Bänke und Tische, die Teufel rissen alles um, was ihnen im Weg stand. „Man erwartet mich bereits“, sagte die Oberhexe. Mit einer Kopfbewegung zeigte sie auf den Oberteufel, der mit verschränkten Armen in der Mitte des Platzes stand und mit den Hufen aufstampfte. „Für euch ist es besser, ihr geht jetzt; viel Glück für die Reise.“


Teil VIII
Kalif war wieder zuhause, saß auf seinem Balkon, rauchte ein Pfeifchen und blickte in die Weite. Madura war in der Küche zugange und kümmerte sich
um das Essen. Sie hantierte und klapperte mit Töpfen und Geschirr, dass man es bis nach draußen hörte. Sie hatte Kalif gefragt, ob sie eine tote Kröte mit kochen dürfe, was er ihr ausdrücklich verboten hatte. Madura antwortete, dass die gekocht sehr schmackhaft wären. Kalif verzog das Gesicht. Madura ließ es gut sein, an der Stelle und verzichtete auf die weitere Erwähnung. Haben keine Ahnung, diese Menschen, was wirklich gut ist.
„Schneidest du ein paar Kräuter klein?, rief sie aus der Küche.
Kalif war gerade mit seiner Pfeife fertig, kratzte die Tabakreste heraus und beförderte sie in den Aschenbecher. Dann wischte er das Messer ab, lief in den Flur und beugte sich über eines der Beete. Sorgfältig prüfte er jede einzelne Pflanze, bevor er verschiedene Blätter abschnitt. Das musste mit Verstand gemacht werden, damit der Bestand erhalten blieb. Er ging damit in die Küche, nahm ein Brettchen aus dem Schrank und hackte die geernteten Kräuter klein.
„Bist du fertig?“ fragte Madura, die hinter ihm am Tisch saß. Kalif grummelt etwas Unverständliches als Antwort.
„Hundefleisch mit Eidechsensoße braucht Kräuter, sonst schmeckt es nicht.”
„Hundefleisch mit Eidechsensoße?”
Kalif war von den Socken, raste zum Herd und öffnete der Reihe nach alle Töpfe. Schließlich stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Von wegen Hundefleisch mit Eidechsensoße. Es gab Kaninchen mit Gemüse, Reis und Soße. Dafür hatte er die Kräuter im Flur abgeschnitten und klein gehackt. Schließlich war man hier in einer menschlichen und nicht in einer Hexenküche. Madura nahm das Brettchen mit den klein gehackten Kräutern und tat sie
in den Topf mit der Soße.
Kalif ging wieder nach draußen, setzte sich und sah in den Himmel. Ein Falke zog in der Nähe des Turmes seine Kreise. Er verfolgte den gleichmäßigen, kraftvollen, eleganten Flug des Vogels. Die scharfen Augen, die nach unten gerichtet waren, denen nichts zu entgehen schien. Dann, urplötzlich, stürzte der Falke hinab bis auf den Boden. Kalif war aufgestanden, zum Geländer gerannt und sah nach unten. Etwas zappelte und wehrte sich, war aber längst im Schnabel des Raubvogels gefangen. Schwupp - wurde die Beute hoch gerissen. Der Falke verschwand damit. Stolz, auf dem Flug zu seinem Nest, um sich
und seine Brut zu ernähren.

Später saßen beide im Wohnzimmer. Das Essen schmeckte gut, doch Kalif musste andauernd an Hundefleisch mit Eidechsensoße denken. Um von diesen Gedanken weg zu kommen, erzählte er Madura von dem Falken. Die Hexe hörte aber nur halb zu und antwortete nicht. Sie hatte anderes, wichtigeres im Kopf. Als Kalif zu Ende erzählt hatte, nickte sie halbherzig, um nicht ganz abwesend zu wirken.
„Was hast du denn? Du hörst mir ja gar nicht zu.“
Madura sah ihn an und nickte. Ihre Stirn hatte sich in Falten gelegt.
Sie machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand und sagte: „Die Zeitmaschine.“
„Die Zeitmaschine?“
„Klar - wie willst du sonst ins Mittelalter kommen?“
„Aber - haben wir nicht den Besen?“
Madura schüttelte entschieden den Kopf und sah Kalif unverständlich an.
„Wir müssen in eine andere Zeit, verstehst du nicht? Der Besen kann sich nur in unserer Zeit bewegen.“
Im Weiteren erzählte die Hexe, dass sie jemanden aufgetan habe, der eine solche Maschine besitze. Nennt sich Der weise Marlon. Sie habe ihn durch die Zauberkugel ausfindig gemacht. Er lebe in den sumpfigen Wäldern, hinter dem Finster-Gebirge. Man könne hin fliegen, müsse aber das Land des grausamen Drachen überqueren. Er treibe dort sein Unwesen. Verfolge jeden, der sich blicken lässt und spucke Feuer. Ein gefährlicher, unberechenbarer Tunichtgut,
mit dem sie es zu tun haben werden.
Schon wieder so ein Abenteuer, dachte Kalif, wir waren doch erst bei den Drei armen Teufeln.
„Wir brauchen einen Schießprügel und silberne Kugeln, sagte Madura. Normale Munition macht ihm nichts aus. Die prallt einfach an ihm ab, als wäre sie
aus nichts.“
Kalif nickte und dachte daran, eine seiner silbernen Vasen zu opfern, um die Kugeln zu gießen. Er hatte auch eine Gussform und einen Ofen mit Blasebalg, so dass er wie ein Schmied arbeiten konnte. Eine Flinte hing über dem Sofa im Wohnzimmer.

Später saßen die beiden auf dem Balkon, um zu verdauen. Kalif hatte sich eine Pfeife angezunden und rauchte, während Madura einen Klumpen Kautabak kaute, den sie sich in den Mund gesteckt hatte. Sie kaute und schmatze wie ein Baby, das seinen Brei bekommt. Kalif überhörte es und fragte: „Was machen wir eigentlich, wenn wir in diesem Inglewood sind?“
„Wir werden es so einrichten, dass wir am 1. Januar dort ankommen. Dann haben wir das gesamte Jahr vor uns. Wir werden so lange bleiben, bis sich
etwas tut, was mit dir zu tun hat.“
Ein komischer Gedanke, dachte Kalif, ich soll mich selbst treffen, in meinem Vorleben. Kann mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ich jemand Schlimmer bin. Vielleicht erfahre ich Dinge über mich, die mir nicht im geringsten behagen. Madura, die Kalif´s Gedanken zu erraten schien, sagte: „Es wird einem nicht immer leicht gemacht. Manchmal muss man so einiges in kauf nehmen - mitunter sogar sich selbst.“
Kalif nickte und sog nachdenklich an seiner Pfeife. Was hatten sie schon alles in kauf genommen? Und jetzt noch das: In eine andere Zeit reisen.

Bis tief in die Nacht saßen die beiden auf dem Balkon, unter all den Sternen. Kalif rauchte schon die dritte Pfeife und Madura hatte zu stricken begonnen.
Ein Schal sollte es werden, aber das konnte man noch nicht sehen. Bis jetzt war es nur eine Ansammlung von Wollfasern; zu einer Art Topflappen gestrickt.
Kalif kratzte die Tabakreste aus der Pfeife und ließ sie in den Aschenbecher rieseln. Dann stand er auf und sagte: „Ich ziehe mich aus und hau mich in die Falle.“
Madura nickte und kicherte.
„Ich kann dir ein Feldbett aufstellen, wenn du willst. Bettzeug hab´ ich auch für dich.“
Madura winkte ab. „Ich bleibe hier noch sitzen und mache mit dem Schal weiter.“
Sie zeigte hoch zum Himmel. „Die Nacht ist so wunderschön.“
Kalif nahm die Pfeife und ging nach drinnen, um sich im Bad die Zähne zu putzen.
„Ich finde nachher schon ein Plätzchen zum schlafen“, rief Madura hinter ihm her.


Teil IX
Ein schlammiger, unbefestigter Weg führte in den Ort. Der Himmel war düster und es regnete. Die Häuser sahen von Weitem schon so grau und abweisend aus, dass man am liebsten gleich wieder umgekehrt wäre. Das ging natürlich nicht, man war ja nicht zum Spaß hier.
Langsam kamen Kalif und Madura dem Ortseingang näher. Niemand war zu sehen, eine Stadtmauer gab es nicht. Der Ort musste wenig bedeutend sein, wenn er nicht befestigt war.
„Die schlafen gerade ihren Silvesterrausch aus“, frotzelte Kalif.
Er sah sich um, als sie dort waren, das Städtchen glich tatsächlich einer Geisterstadt.
Madura nickte und kicherte: „Der 1. Januar 1553 in Ingelwood, England.“
Kalif hatte sich das Ganze etwas spannender vorgestellt. Mittelalter, da schwingen so viele fantastische Dinge mit. Belebte Marktplätze, Gaukler, Musiker, Burgen und Fürsten. Hier war alles nur grau in grau und keine Menschenseele zu sehen.
„Wir müssen uns trotz allem hier eine Unterkunft suchen.“
Kalif nickte und stapfte neben ihr her. Der Boden in diesem Kaff war auch nicht besser als der Weg dahin. Unbefestigt und durch den Regen matschig
und schwer begehbar.
„Wird nicht einfach werden, an so einem Tag“, sagte Madura.
Kalif nickte. „Die haben bestimmt alle einen dicken Kopf vom feiern und wollen ausschlafen.“

Wenig später standen sie auf der Hauptstraße, in der Mitte des Ortes und sahen sich nach allen Seiten um. Vereinzelt sah man einen Hund oder eine Katze umher streunen, die sich wegen des Regens aber schnell irgend wohin verzogen. Ein paar Ratten wuselten auf dem Bürgersteig herum, denen schien der Regen nichts auszumachen. Auf der anderen Straßenseite war eine Gaststätte mit einem großen Schild neben dem Eingang: „Zur köstlichen Traufe.“
Madura trat vor die Tür und klopfte. Auf den ersten Versuch tat sich nicht viel. Sie klopfte ein zweites mal, energischer. Auch jetzt tat sich nichts, außer dass ein Nachbar aus dem Fenster glotzte. „Haben die heute geschlossen?“, rief die Hexe zu ihm rüber. Der Mann zuckte mit den Schultern. Wohnt gleich nebenan, dachte Madura und weiß das nicht.
Sie klopfte ein drittes mal und rief: „Hallo – ist da wer? Wir brauchen ein Zimmer.“
Schritte waren im Haus zu hören. Dann das Geklapper eines Schlüsselbundes. Es wurde aufgeschlossen. Die schwere Eichentür ging einen Spalt auf
und ein kleiner, untersetzter Mann mit einer Schlafmütze auf dem Kopf, lugte heraus.
„Was gibt´s denn am heutigen Tag?“
Sein fragender Blick glitt an den beiden hoch und runter.
„Wir brauchen ein Zimmer“, sagte Madura.
Der kleine, dicke Mann sah jetzt noch fragender drein. Sein Gesicht bekam einen regelrecht erstaunten Ausdruck. „Ihr seid wohl noch besoffen, wie? Ausgerechnet am Neujahrstag nach einem Zimmer zu fragen. Wir machen erst morgen die Gaststätte wieder auf. Es ist auch kein Koch da.“

Madura zückte ein Geldstück und reichte es ihm. Der kleine Mann nahm es, biss prüfend hinein und sein Gesicht hellte sich augenblicklich auf.
Er wurde sogar richtig freundlich, öffnete die Tür und ließ die beiden eintreten. „Ein Zimmer die Herrschaften“, murmelte er, „selbstverständlich.“
Kalif und Madura benutzten das Kratzeisen, neben der Tür, um den Schlamm von den Schuhen zu kriegen. Dann lief der kleine, dickliche Mann voran,
zwei Treppen hoch in den ersten Stock, wo er eine der Stuben aufschloss.
Nur ein einziges Bett stand darin. Die Bude war schäbig, aber es gab wenigstens einen Tisch und Stühle. In der Ecke stand eine Öllampe,
die gefüllt war; etwas zum Anzünden lag daneben.
„Du stellst uns hier ein zweites Bett rein und danach wollen wir Essen und Wein.“
Madura holte noch ein Geldstück aus der Rocktasche und gab es dem Wirt. Dieser nahm es, machte eine Verbeugung und sagte: „Ein zweites Bett
die Herrschaften, sehr wohl. Essen und trinken, selbstverständlich. Ich schicke gleich jemanden los, den Koch zu holen.“

Später, als sie im Schankraum am Tisch saßen und schon mal etwas tranken, sagte Madura.
„Der erste Schritt ist getan. Das Zimmer ist gemietet, ein zweites Bett wird aufgestellt.“
Kalif nickte und grinste. „Willkommen im 16. Jahrhundert.“
Er sah sich in der Gaststätte um. Die Wände waren gekalkt, ohne Tapete, die Fenster hatten Butzenscheiben. Eine Öllampe hing von der Decke,
die der Wirt entzündet hatte. In der Ecke stand ein riesiger Kachelofen, der den Raum warm machte.
Das Essen rollte an, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Wirt kam mit einem Wägelchen an den Tisch. Es gab Wildschweinbraten mit Nudeln, Preiselbeeren und brauner Soße. Dazu eine Flasche Wein und Gläser. Dampf entwich, als er die Töpfe öffnete, um die Teller zu füllen. Es roch köstlich. Die beiden Gäste machten sich sogleich über die Speisen her. Als Desert brachte er ihnen Pudding mit Vanillesoße.
Von der Theke aus sah der Wirt den beiden zu und lächelte verschmitzt. Er freute sich, dass er die gut zahlenden Gäste zu ihrer Zufriedenheit bedienen konnte. Sie waren nicht von hier, das hörte man an der Aussprache. Und ihre Kleidung wirkte auch etwas merkwürdig. Aber sie zahlten, was könnte wichtiger sein.

Fünf Tage zuvor waren Kalif und Madura in Freiland aufgebrochen. Zuerst hatten sie das Finster-Gebirge überflogen, um schließlich zu den sumpfigen Wäldern zu gelangen, dem Land des grausamen Drachen. Am Anfang war weit und breit nichts von ihm zu sehen. Sie blieben aber auf der Hut, sahen sich auf dem Flug immer wieder um. Von Weitem kam schließlich etwas auf sie zu, was sie zuerst nicht einordnen konnten. Es flog schnell näher und war dann unverkennbar.
Madura tauschte den Platz mit Kalif, so dass dieser vorne saß, während sie hinten den Schießprügel in Stellung brachte. Der Drache flog jetzt neben ihnen und glotzte sie an. Sein schuppiger, riesiger Körper, seine krallen-bewehrten Klauen und seine langen Kiefer mit den Reißzähnen machten Kalif Angst.
Dampf kam aus seinen Nasenlöchern. Gleich spukt er Feuer und wir sind verloren.
Pängggg - machte es im nächsten Moment, das grässliche Vieh wurde zurück geschlagen, hielt den Schwanz eingeklemmt und verlor an Höhe.
Madura feuerte eine zweite silberne Kugel gleich hinterher. Sie hätte das Vieh gerne zwischen den Augen getroffen, aber aus der Position ging das nicht.
Ein zweiter Angriff des Drachen erfolgte, der sich blitzschnell erholt hatte. Diesmal griff er von vorne an und kam direkt auf sie zu. Sein furchtbares Maul öffnete sich, aus der Nase stieg Qualm auf. Bevor er die Feuerlanze ausspucken konnte, traf Madura ihn genau zwischen die Augen. Der Drache jaulte, riss den Kopf nach hinten vor Schmerz, begann zu trudeln und stürzte schließlich senkrecht nach unten. Auf dem Boden dotzte er immer wieder auf, als wäre er ein Gummiball - bis er schließlich reglos liegen blieb. Madura hatte das mit angesehen und kicherte.
„Der geht ab jetzt keinem mehr auf die Nerven.”
Sie wechselten die Plätze und flogen ungehindert weiter.

Das Waldgebiet unter ihnen wurde zusehends dichter. Ein gemischter Reigen aus Tannen und Laubbäumen drängte sich da unten zusammen.
„Wir müssen auf eine größere Lichtung achten“, schrie Madura nach hinten.
„Wohnt er da?“, schrie Kalif nach vorne.
„In der Nähe – es ist unser Anhaltspunkt.“
Die Lichtung war schließlich zu sehen und Madura setzte zur Landung an. Eine Stunde Fußmarsch brachte die beiden weiter zu Marlons Hütte.
Den Besen hatte sich Madura auf die Schulter gelegt. Sie wollte ihn nicht irgendwo im Gebüsch verstecken. Am Ende findet ihn noch jemand.
Vorsichtig stapften sie durch das Unterholz, sehr darauf bedacht nicht in eines der Sumpflöcher zu treten, die überall im Wald verteilt waren.
Wie konnte man hier nur freiwillig leben, fragte sich Kalif. Der Drachen ist ja jetzt nicht mehr, aber diese Sumpflöcher -

„Seid gegrüßt und kommt herein“, sagte der weise Marlon.
Er schien hoch erfreut, dass mal wieder jemand bei ihm vorbei sah in seiner Eremiten-Behausung.
Die Hexe hatte sich via Glaskugel bei ihm angemeldet. Und Marlon war in freudiger Erwartung dieses Besuches.
„Selten genug, dass hier mal jemand vorbei kommt“, sagte er, als sie drinnen an einem primitiven Holztisch Platz nahmen.
„Um so schöner, dass ihr gekommen seid.”


Teil X
Madura ließ sich Zeit bis zum nächsten Morgen.
Die beiden wollten erst mal ankommen, etwas essen und sich ausschlafen, bevor man zum eigentlichen Anliegen kam.
Am nächsten Morgen schließlich fragte sie nach der Maschine.
„Ja, ein feines Maschinchen“, erging sich Marlon in Schwelgereien, „hat schon so manchen in eine andere Zeit katapultiert. Früher wohnte ich in der Stadt
und die Leute kamen zu mir, um in andere Zeiten zu reisen. Schließlich wurde mir das aber zu viel und ich bin in den Wald geflüchtet.“
Marlon führte sie aus dem Haus nach nebenan, in einen Schuppen, in dem die Maschine stand.
„Ein feines Maschinchen, wiederholte er und strich mit der Hand über´s Gehäuse.”
Kalif und Madura starrten auf ein Gebilde aus Blech und Eisen, mit Pedalen, unzähligen Hebeln, Anzeigeinstrumenten und einer Bank,
auf der die Zeitreisenden vermutlich sitzen würden.
„Wollt´ ihr gleich los?“, fragte Marlon.
Madura schüttelte den Kopf.
„Nein, noch nicht. Es gibt einiges vorzubereiten: Die richtigen Klamotten müssen herbeigezaubert werden, die dort üblichen Geldstücke auch,
ein Lehrbuch für mittelalterliches Englisch brauche ich auch.“
Marlon nickte. Die Hexe schien so ziemlich an alles zu denken. Außerdem sprang für ihn noch ein bisschen längere Gesellschaft dabei heraus,
wenn die beiden noch so viel vorzubereiten hatten. In der Nacht schon, als sie auf dem Strohbett lagen, begannen Kalif und Madura englisch zu üben.
Madura hielt das herbeigehexte Buch in der Hand: Umgangs-Englisch im 16. Jahrhundert. Sie schlug die erste Seite auf und versuchte sich die Sätze
und Vokabeln einzuprägen. Es ging ja erst mal leicht los. Also murmelte sie ein paar der Wörter und die ersten Sätze vor sich hin.
Schließlich fragte sie Kalif: „How do you do?“
Kalif sah sie betreten an.
Madura kicherte und sagte: „Die Antwort heißt: Oh – I´m fine.“
Die halbe Nacht ging das so. Madura fragte einen Satz in englisch und wollte eine Antwort darauf. Wenn Kalif sie nicht wusste, und er wusste sie in keinem Fall, erklärte sie ihm, was man darauf antwortet. Kalif war nach einer Weile einfach eingeschlafen, man hörte ihn schnarchen. Madura sah zum ihm rüber und dachte: Na gut - wenn du´s nicht hin kriegst, rede ich eben.

Die Maschine rüttelte und schüttelte. Es fühlte sich an, als wolle sie Schlagsahne aus einem machen. Es war zwei Tage später, der Zeitpunkt der Abreise war gekommen. Kalif und Madura saßen auf dem Sitz der Maschine. Marlon betätigte schon eine ganze Weile ein paar Hebel, wobei er die Anzeigeinstrumente keinen Augenblick aus den Augen ließ. „Die verdammte Kiste rüttelt mir das ganze Frühstück hoch“, brüllte Kalif.
Madura kicherte. Ihr schien das Rütteln nicht viel auszumachen. Die Maschine indes, wurde immer noch lauter, rüttelte und schüttelte immer noch mehr – Kalif musste sich fest halten.
Marlon schaltete den zeitlichen Rückwärtsbeschleuniger ein, es wurde so laut, dass sich selbst Madura die Ohren zu halten musste.
Marlon stellte die genaue Zeit ein: 1. Januar 1553 – 8Uhr.
Dann den genauen Ort: Inglewood/England.
„Macht´s gut!“, überschrie er die Maschine, „ich erwarte euch in einem Jahr.“
Dann drückte er den finalen Knopf: Kalif und Madura wurden im gleichen Moment von einem mahlstromartiger Strudel durch die Zeiten gerissen. Farben, Formen und kreisende Bewegungen wurden so schnell drehend und die Farben so gleißend, dass ihnen schwindelte. Schließlich wurde ihnen schwarz vor Augen. Das Bewusstsein schaltete ab, gepeinigt von dieser Überfülle. Die beiden rasten durch die Zeiten, ohne etwas davon mit zu bekommen, doch ihrem Ziel entgegen.

Wieder zu sich gekommen, lagen sie auf einer Wiese. Etwas benommen standen beide auf.
Ein paar Kühe grasten in der Nähe und glotzten zu ihnen rüber. Eine muhte schauerlich.
Kalif sah sich um: „Ob das Inglewood in England ist – im Jahr 1553?“
Madura kicherte. „Lass uns los laufen – da vorne sehe ich Häuser. Ist vermutlich das Dorf in das wir wollen.“
 
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ThomasQu

Mitglied
Der Teil 1 lässt sich ja schon mal ganz nett lesen, Herr Heinrich.
Einerseits wirkt der Text recht modern, es wird ein kultureller oder religiöser Konflikt angedeutet, andererseits ist eine allwissende Klischee-Hexe im Spiel. Mal schauen, wie das weitergeht. :)
Gruß Th.
 
G

Gelöschtes Mitglied 24694

Gast
Hallo @Heinrich VII,

mit Interesse habe ich deine Geschichte gelesen und muss sagen, sie gefällt mir ganz gut.

Ein paar Kleinigkeiten sind mir aufgefallen, die ich anders formuliert hätte und wo meiner Meinung etwas fehlt.


Er war im Gegenteil gütig, freundlich und eigentlich jedem wohlgesinnt.
Ich würde schreiben: Ganz im Gegenteil. Er war gütig, freundlich und eigentlich jedem wohlgesinnt (wohlgesonnen).


Damit machte Erik Absatz kehrt und suchte das Weite.

Dann machte Erik auf dem Absatz kehrt und suchte das Weite.


Dann durchschritt zielstrebig das Wohnzimmer und trat hinaus auf den Balkon, der um den ganzen Turm herum lief.

Dann durchschritt er zielstrebig das Wohnzimmer und trat hinaus auf den Balkon, der den ganzen Turm umlief.


Es stank, er vermeinte es förmlich zu riechen. Und die Menschen aus dem Dorf - in seiner Missstimmung kamen sie ihm wie schwer fällige Käfer vor, die mühselig und stumpf vor sich hin krabbelten.

Es (Alles) stank ihm gewaltig und er (ver)meinte es förmlich riechen zu können. Und die Menschen aus dem Dorf kamen ihm in seiner Missstimmung wie schwerfällige Käfer vor, die mühselig und stumpf (dumpf? im Sinne von abgestumpft) vor sich hin krabbelten.



Er zitterte, weil es kalt war und er sich keine Decke geholt hatte. Fröstelnd stand auf, rieb sich sie Hände und hauchte warme Luft hinein.

Er zitterte, weil es kalt war und er sich keine Decke geholt hatte. Fröstelnd stand er auf, rieb sich die Hände und hauchte seine warme Atemluft hinein.


Lieber Heinrich, ich bin gespannt auf den zweiten Teil.


Ein lieber Gruß
AVALON
 
G

Gelöschtes Mitglied 24694

Gast
Hallo @Heinrich VII,

Kapitel 2 finde ich ein wenig langatmig erzählt.

Es geht ausschließlich um den erfolglosen Blick in die Kugel, der auf wundersame Weise damit endet, dass sich der nüchtern denkende Protagonist zu einem Besenrritt ins Blaue einläßt.

Offensichtlich geht die Geschichte um ein weiteres Kapitel weiter, in dem die ein oder andere Begenheit aus einem früheren Leben erzählt werden wird
auf der Suche nach Selbsterkenntnis und dem Erkennen seiner Besonderheit, was die wahrscheinliche Erklärung um das Meiden in der dörflichen Gesellschaft ist - ganz so, wie es die Hexe schon geweissagt hat.

Wenn das Ganze mal nicht zu lang wird.


Aus Zeitmangel habe ich auf kleine Verbesserungsvorschläge verzichtet. Nur kurz: Kalif will ein zwei Mal zuviel die Hexe rausschmeißen.


© AVALON
 

Heinrich VII

Mitglied
Hallo AVALON,

Es geht ausschließlich um den erfolglosen Blick in die Kugel, der auf wundersame Weise damit endet, dass sich der nüchtern denkende Protagonist zu einem Besenrritt ins Blaue einläßt.
Die Hexe muss zu den Höheren Mächten aufbrechen, nachdem sie fest gestellt hat, dass die Sache ihre Zauberkraft übersteigt.
Es ist kein Besenritt ins Blaue - es ist der nächste logische Schritt -

Offensichtlich geht die Geschichte um ein weiteres Kapitel weiter, in dem die ein oder andere Begenheit aus einem früheren Leben erzählt werden wird auf der Suche nach Selbsterkenntnis und dem Erkennen seiner Besonderheit, was die wahrscheinliche Erklärung um das Meiden in der dörflichen Gesellschaft ist - ganz so, wie es die Hexe schon geweissagt hat.
Du scheinst ja schon alles zu wissen - hast du auch so eine magische Kugel? :)

Wenn das Ganze mal nicht zu lang wird.
Es wird ziemlich lang, so viel kann ich verraten.


Nur kurz: Kalif will ein zwei Mal zuviel die Hexe rausschmeißen.
Okay - gucke ich mir an.
Danke, dass du auch Teil II gelesen hast.

Gruß, Heinrich
 



 
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