Der Mann im Turm II

Heinrich VII

Mitglied
Teil 1
Die nächste Zeit gestaltete sich mehr und mehr boring, wie der Engländer zu sagen pflegt. Morgens, nach dem Frühstück, liefen Kalif und Madura stets los, um sich um zu sehen. Man musste die Örtlichkeit schließlich kennen lernen, die Menschen, musste sich ein Bild von alledem machen. In den ersten Tagen, als alles noch brandneu war, war es interessant gewesen. Der Markt, die verschiedenen Gassen und Häuser, das imposante Rathaus und nicht zuletzt die Kirche, die außen wie innen beeindruckend wirkte. Im Laufe andauernder Wiederholungen, wurde alles zunehmend langweiliger, am Ende mehr oder weniger sogar nervend. Vor allem Kalif machte die Sache mehr und mehr zu schaffen. Während einem dieser Rundgänge sagte er: „Meinst du wirklich, wir sind im richtigen Jahr und am richtigen Ort. Es passiert ja nichts. Keinerlei Hinweise darauf, dass ich hier gelebt habe.“
Madura kicherte. „Geduld ist euch Menschen nicht der beste Freund, wie ich sehe. Ich finde es mitunter auch sterbenslangweilig, jeden verdammten Tag in diesem Kaff hoch und runter zu latschen und am Ende das Gleiche zu denken wie du.“
Kalif sah Madura mit großen Augen an. „Du denkst das auch?“
Madura kicherte und antwortete: „Da sind wir Hexen nicht anders, wenn wir gelangweilt werden. Aber – ob es uns langweilig vorkommt oder nicht, spielt keine Rolle. Wir müssen so lange hier bleiben, bis etwas passiert. Und es wird etwas passieren in diesem Jahr – du hast die Oberhexe gehört.“

Einmal, ein paar Tage später, kamen sie auf ihrem Rundgang an einem merkwürdigen Haus vorbei, das ihnen bis dato noch nicht aufgefallen war. Es war etwas außerhalb des Dorfes, stand ganz alleine da, gut getarnt durch ein paar umstehende Laubbäume. Von einer plötzlichen Neugierde getrieben, nahm Kalif die Klinke des Gartentors in die Hand und sah Madura an. Diese kicherte und sah sich um. Niemand schien da zu sein, kein Hund bellte, die Gelegenheit schien günstig. Sie nickte. Kalif drückte die Klinke runter und schob das Gartentor auf.
Im Hinterhof standen sie vor einer Art Schuppen, dessen Tür ebenfalls unverschlossen war. Ein Galgen befand sich darin, über den Kalif beim Eintreten fast gestolpert wäre, weil er auf dem Boden lag und einem den Weg versperrte. Ein Streckbett stand in einer Ecke, ein Rad stand an der Wand, verschiedene Peitschen und ein ansehnliches Arsenal von Messern, Beilen, Daumenschrauben, Zangen und sonstigem Werkzeug lagen auf einem Tisch.
Madura kicherte. „Wie man sehen kann, sind wir im Schuppen des Henkers.“
Kalif nahm ein Messer vom Tisch, das ein sehr lange und vorne gebogene Klinge hatte.
„Damit schlitzt der Henker den armen Schweinen die Bäuche auf“, erklärte ihm Madura.
Kalif wurde bleich im Gesicht und legte das Messer reflexartig zurück, als würde es glühen. Ein Frösteln lief ihm über den Rücken. Und doch war da etwas, das ihm vertraut vorkam. Einen Moment noch starrte er auf das abgelegte Messer, ehe er sich abwandte. Gegenüber Madura wollte er sich nichts anmerken lassen. Die Hexe hatte aber das merkwürdige Glitzern in seinen Augen durchaus bemerkt.

Die folgenden Tage verliefen weiter mit alltäglichen Rundgängen, die mehr und mehr zu fataler Routine gerieten. Madura machte sich Sorgen, dass sie ihre Aufgabe hier nicht erledigen konnten. Sie spürte Kalifs wachsende Ungeduld und fürchtete, dass er inzwischen nicht mehr an das kommende Ereignis glaubte, das Aufklärung bringen sollte. Und noch schlimmer, dass ihm die ganzen Unternehmungen so zum Hals raus hingen, dass er aufgeben wollte.

Abends, in der Gaststätte, in der sie wohnten, nahmen beide das Abendessen ein.
„Wieder so ein Tag vorbei“, sagte Kalif, „nach was suchen wir hier eigentlich?
Sein Turm fehlte ihm, die herrliche Aussicht, sein gewohntes Leben.
„Wir sollten gehen, bevor uns die Schwermut ganz befällt.“
„Wir müssen Geduld haben“, setzte Madura dagegen, „betrachtete es einfach als Arbeit. Bevor sie nicht erledigt ist, können wir hier nicht weg. Das kennst du doch – oder? Das machst du doch auch so, wenn du in deinem Dorf eine Arbeit zu erledigen hast.“
Nach dem Essen begaben sich die beiden nach oben in ihr Zimmer. Kalif rauchte eine Pfeife.
Madura kaute Tabak und häkelte an einem Pullover, den sie Kalif schenken wollte. Sie sprachen die ganze Zeit kein einziges Wort, weil jeder seinen Gedanken nach hing. Bis Madura die Flasche Whisky hervor holte, die sie beim Wirt erstanden hatte. Sie stellte zwei Gläser auf den Tisch, füllte sie und sagte: „Komm, lass uns mal was trinken.“
Kalif drehte sich um und sah die Whiskyflasche auf dem Tisch stehen.
„Wo hast du die denn her?“
Madura kicherte. „Das ist hier eine Gaststätte und in solchen gibt es einen guten Tropfen.“
Kalif kam zum Tisch und setzte sich. Sie hoben die Gläser, stießen an und ließen den guten Tropfen durch die Kehlen rinnen.
Madura schenkte nach. Sie hoben erneut die Gläser und kippten diesen Whisky auch noch weg.
Bevor sie schlafen gingen, übten sie noch eine Weile historisches Englisch, wie fast jeden Abend.
Kalif wurde langsam besser darin.

Woche für Woche, Monat für Monat ging das so weiter. Zum verrecken auch, es passierte nichts ungewöhnliches. Kalif und Madura hatten inzwischen ein paar Leute aus dem Dorf kennen gelernt, mit denen sie gelegentlich ein wenig plauderten. Den Grund ihres Hierseins verschwiegen sie, wie man sich denken kann. Sie gaben sich als Händler aus, worauf keiner weitere Fragen stellte.
Im Mai kamen sie am Rathaus vorbei, wo sich eine Menschenansammlung vor einer Anschlagstafel gebildet hatte. Es stand da zu lesen, dass es Anfang Juni eine Hinrichtung im Ort geben werde. Der Henker, der zur Zeit auswärts sei, werde bis dahin zurück sein, um die Sache in die Hand zu nehmen. Als sie gelesen hatten, wollten sich Kalif und Madura durch die Menge zurück auf die Straße zwängen. Dass sich so viel Volk eingefunden hatte, um diese Neuigkeit zu erfahren, wunderte einen nicht. Wann war hier schon mal was los in diesem Kaff. Eine Frau, die hinter Kalif stand, zupfte an seinem Mantel, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Können Sie mir das vorlesen?“
Kalif drehte sich um und fragte: „Warum, sehen Sie schlecht?“
Die Frau schüttelte verwundert den Kopf. „Ich kann nicht lesen.“
Kalif stellte sich zurück vor den Anschlag, man hatte ihn vor gelassen, und las nochmal laut den ganzen Text. Die Umstehenden drängten sich näher an ihn heran, um keines seiner Worte zu verpassen. Anscheinend war lesen hier nicht selbstverständlich. Die Leute bedankten sich danach und einige klatschen sogar für Kalif, dass er ihnen das vorgelesen hatte. Auch Madura klatschte, aber aus einem anderen Grund. Sie bewunderte Kalifs Fortschritte im Englischen.
Die vielen Stunden üben in den Abendstunden hatten Früchte getragen.

„Vermutlich ist das der Henker, in dessen Schuppen wir waren“, sagte Kalif im Weiterlaufen.
Madura nickte. „Der mit dem Messer mit der gebogenen Klinge. Das kann ja heiter werden.“
Auf welche Art der Mann hingerichtet werden sollte und was er getan hatte, war dem Schreiben am Anschlag nicht zu entnehmen.
Das wurde vermutlich kurz vorher verlesen, bevor man den Delinquenten ins Jenseits beförderte.


Teil 2
Auf dem Gerüst lag ein Andreaskreuz, auf das man den Verurteilten mit Gewalt gefesselt hatte. Die beiden Gesellen hatten ihm zuvor die Kleider vom Leib gerissen. Er durfte lediglich eine Art Lendenschurz an behalten, der sein Geschlecht bedeckte. Unter seine Arme und Beine schoben sie Keile, damit die knochenbrecherische Arbeit besser verrichtet werden konnte. Der Henker stand am Geländer, hatte eine rote Kapuze auf, hielt das Rad fest, das vor ihm auf dem Boden stand und wartete.
Auf einem balkonartigen Vorbau am Rathaus, gegenüber des Gerüstes, erschien der Bürgermeister in einer festlichen Tracht. Daneben standen zwei seiner Ratsherren, die ebenfalls für dieses offizielle Ereignis heraus geputzt waren. Einer nahm kurz seinen Hut ab, kratzte sich mit einem Läusekratzer am Kopf und zog ihn wieder auf. Der Bürgermeister räusperte sich und hob die Hände. Die Leute schwiegen und sahen zu ihm auf. Ein Büttel mit einer Schriftrolle wartete auf dem Gerüst darauf, die Anklage zu verlesen. Der Bürgermeister sprach ein paar einleitende Worte und nickte dem Büttel zu.
Dieser trat einen Schritt vor und hob den Kopf, um seine Präsenz zu betonen, bevor er von der aufgerollten Schriftrolle ablas: „Verurteilt zum Tod durch das Rad ist Archibald Williams, ein Einwohner unserer Stadt. Er wurde überführt, seinen Nachbarn überfallen, beraubt und getötet zu haben. Heute und zu dieser Stunde wird er seine Strafe erhalten, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun.“
Ein betagter Priester kletterte gleich danach die fünf Stufen der Holzleiter auf das Gerüst. In einem schwarzen Talar und mit einem Weihwasserstab in der Hand mühte er sich halb gebückt zum Andreaskreuz, um dem Verurteilten murmelnd den letzten Segen zu erteilen. Der Delinquent vernahm es ohne die geringste Anteilnahme. Zum Schluss sah er den Pfaffen an und spuckte vor ihm aus. Der Priester wandte sich ab und verschwand. Gleich danach gab der Bürgermeister das Zeichen zu beginnen.

Ein Mann mit hochrotem Kopf und schlechten Zähnen, der ganz vorne stand, schrie dem Henker entgegen: „Murks den Scheißkerl ab - tu ihm ordentlich weh.“
Ein anderer, mit feuerroten, struppigen Haaren und einer Hakennase stand daneben und rief: „Hau ihm alle Knochen entzwei, dem Mordgesellen.“
Die Leute aus dem Dorf, die um die beiden herum standen, klatschten und johlten, als wären sie auf einer Kirmes. Manche hatten sich nicht einmal gescheut, ihre Kinder mitzubringen.
Kalif und Madura standen so ziemlich in der Mitte der versammelten Menge.
Plötzlich wurde es ruhig und alles sah auf den Henker, der dabei war, das Rad über dem Unterschenkel des Delinquenten hoch zu heben. In einer geübten Bewegung ließ er es, mit der eisenverstärkten Kante, auf den Knochen von Archibald Williams herunter sausen. Es machte ein hässliches Geräusch, als der Knochen durchbrach. Manche im Publikum wandten ihren Blick ab. Archibald schrie, als müsste er seine Stimmbänder zum Zerreißen bringen. Und das war erst der Anfang. Ungerührt nahm der muskelbepackte Henker mit seinen riesigen Händen das Rad wieder hoch und ließ es auf den anderen Unterschenkel nieder sausen. Archibald schrie und flehte - aber Strafe ist Strafe. Spätestens nach dem Bruch des zweiten Oberschenkelknochens wirst du Ruhe haben, dachte der Henker - dann sind die meisten bewusstlos.
Die beiden Oberschenkel waren am schwersten zu brechen. Bei den Unterarmen und den Oberarmen danach, war es leicht. Am Ende würde der Bürgermeister entscheiden, ob er den Delinquenten töten durfte oder ihn am Leben ließ, bis er an seinen Verletzungen verendete. Noch schärfer wäre, ihn auf ein anderes Rad zu flechten, hoch zu stellen und den Raben zum Fraß zu geben. Aber das würde heute nicht geschehen – zumindest stand es nicht im Urteil.

Kalif hatte sich abgewandt und hielt sich die Ohren zu. Was sind das nur für Menschen, in diesem verdammten Mittelalter? Pervese, Sadisten und Mörder? - kein bisschen besser als die Verbrecher, die sie auf so furchtbare Art um ihr Leben bringen. Als Kalif wieder nach vorne sah, war der Henker gerade beim linken Oberschenkel, den er mit einem knirschenden Geräusch beim dritten mal Draufschlagen erst durchbrechen konnte. Danach machte der schwer arbeitende Mann eine kurze Verschnaufpause, in dem er sich im Stehen auf das Rad stütze, um wieder zu Atem zu kommen.
Archibald Williams hatte an der Stelle das Bewusstsein verloren. Die furchtbaren Schreie, die er pausenlos ausgestoßen hatte, hatten aufgehört. Jemand kletterte mit einem Eimer Wasser auf das Gerüst und wandte sich an den Henker. Er zeigte rüber zum Rathaus und sagte: „Er soll erst aufgeweckt werden, bevor du weiter machst. Der Bürgermeister hat es so angeordnet.“
Der Henker stellte das Rad an einem Pfosten ab, nahm den Eimer und schüttete das Wasser über Archibalds Kopf. Gleich würde das Schreien wieder los gehen – ohne hätte ich in aller Ruhe meine Arbeit beenden können. Der Henker stellte den Eimer auf den Boden und ging das Rad holen.

Kalif lief im selben Moment los.
Madura folgte ihm und hielt ihn am Ärmel seiner Jacke fest: „Wo willst du hin?“
Kalif riss sich von ihr los und zwängte sich durch die Menschenmenge nach vorne.
Den Wachposten, der die Treppe zum Gerüst bewachte, schlug er nieder und stieg die Leiter hoch.
„Halte ein, Wahnsinniger - ich hab´ dich erkannt!“
Der Henker sah Kalif verdutzt an. Er hielt inne und setzte das Rad auf dem Boden ab.
„Hat der Bürgermeister dich geschickt?“
Kalif gab ihm einen Tritt gegen das Knie, so dass er hinfiel. Dann setzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn, packte ihn am Schlawittchen und schüttelte ihn: „Was machst du für schreckliche Dinge? Hast mir mein Karma versaut. Bist mein vergangenes Leben, versteht du?“
Er kam dem Gesicht des Henker so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen berührten.
„Der Bürgermeister hat mich nicht geschickt. Du bist ich, verdammter Bastard, wir sind die gleiche Seele.“

Madura war entsetzt. Sie stand unten neben der Leiter und sah hoch. Kalif musste wahnsinnig geworden sein. Im selben Moment fiel ihr das Wort der Oberhexe ein: „Wenn ihr ihn seht, werdet ihr ihn erkennen.“ Hatte Kalif etwa sich selbst erkannt in diesem Henker?
Madura sah, wie Kalif zwei mal in das Gesicht des Henkers schlug und brüllte: „Wegen dir muss ich auf die Freundschaft anderer verzichten. Du bist Ich und Du bist schuld an allem.“
Zwei Spießgesellen waren inzwischen auf das Gerüst hoch gestiegen. Mit stoß-bereiten Lanzen versuchten sie, den verrückt gewordenen Kerl festzunehmen. Kalif stand auf, entriss einem die Waffe und schlug ihn mit der Faust zu Boden. Der andere wich aus, brachte die Lanze erneut in Postion und wollte sie Kalif in die Brust stoßen. Der wich aus und streckte den Spießgesellen mit einem Fußtritt und mehreren Faustschlägen nieder. Den Zuschauern blieb die Spucke weg. Wie es aussah lieferte Kalif eine bessere Vorstellung als der Henker.

Madura sah, dass vom Rathaus her neue Spießgesellen los geschickt wurden. Vermutlich hatte der Bürgermeister sie mobilisiert. Im nächsten Augenblick war die Hexe auf dem Gerüst, packte Kalif und zog ihn mit sich. Sie sprangen beide herunter, die Treppe runter zu laufen war keine Zeit mehr. Die Spießgesellen hatten ihre Flucht schon entdeckt und verfolgten sie. Kalif und Madura rannten, als wäre die Hölle hinter ihnen her. Und das war ja auch so. Sie konnten die Verfolger vorerst abschütteln und rannten bis zu der Pension in der sie wohnten, gingen auf ihr Zimmer und packten ihre Sachen. Die Spießgesellen brauchten nicht lange, um sie zu finden. Schon stürmten sie die Treppen hoch. Madura nahm zwei Kappen aus ihrer Manteltasche und gab Kalif eine.
Der betrachtete das Ding und wusste nicht -
„Aufsetzen!“
Madura setzte ihre auf und wurde unsichtbar. In gleichen Moment wurde die Tür aufgebrochen.
Kalif verstand und hatte seine Kappe im letzten Moment ebenfalls aufgesetzt.
„Keine Geräusche machen“, flüsterte die Hexe, „das können sie hören.“

Vier Spießgesellen waren schließlich im Zimmer und sahen überall nach. Schoben das Bett weg, rissen die Schranktüren auf, überall wo der Verrückte sich hätte verstecken können, sahen sie auf ihre ungehobelte Art nach, ohne auch nur einen Hinweis zu finden. Einer stürmte ins Badezimmer und zerschlug dort den Spiegel mit seiner Lanze, als niemand zu sehen war. „Verdammt, ich hätte schwören können, dass einer hier drin geredet hat.“
Sein Nebenmann sah ihn von der Seite an und lachte: „Siehst du hier vielleicht jemanden?“
Einen Moment noch standen sie unentschlossen da. Bis einer sagte: „Hier drin sind der Kerl und die Alte jedenfalls nicht – lasst uns abhauen.“

Als Kalif und Madura die Treppen runter eilten, um aus dem Haus zu kommen, stand der Wirt unten im Flur.
„Was ist denn hier los?“, wollte er wissen, „was haben die Spießgesellen des Bürgermeisters hier drin verloren? Suchen die euch
etwa wegen eines Vergehens?“
Viele Fragen auf einmal. Madura kramte zwei Geldstücke aus ihrer Manteltasche und gab sie dem Wirt.
„Im Bad ist ein Spiegel zu Bruch gegangen und die Bude oben sieht etwas zerfleddert aus.“
Der Wirt sah sie mit hochgezogener Augenbraue an – er schien noch nicht zufrieden zu sein.
Madura gab ihm ein weiteres Geldstück. Der Wirt kaute darauf, erkannte es als echt und bekam einen freundlichen Gesichtsausdruck.
Kalif und Madura stürmten zur Tür. Der Wirt rief ihnen nach: „Wenn sie nochmal kommen und nach euch fragen, ich habe euch nicht gesehen.“


Teil 3
Kalif ging es nicht gut.
Die Erlebnisse waren nach und nach mit aller Konsequenz in ihn eingedrungen, hatten sich in seinem Gemüt fest gesetzt und zeigten sich dort in Form einer mentalen Niedergeschlagenheit. Madura hatte nach der Flucht vom Hinrichtungsort alles daran gesetzt, so schnell wir möglich aus Inglewood/England und aus dem 16. Jahrhundert zu verschwinden. Sie waren von der Pension, unter allergrößter Vorsicht in den Wald geflohen, der nicht weit vom Dorf lag. Lange aufhalten konnten sie sich da auch nicht. Es war nahe liegend, dass man dort zu jeder Zeit weiter nach ihnen suchen könnte. Via Zauberkugel wies Madura den weisen Marlon an, auf der Stelle die Zeitmaschine zu schicken. Marlon gab zurück, dass es ungefähr eine Stunde dauern würde, bis er das bewerkstelligen konnte. Schneller gehe es nicht. Madura war einverstanden und beschrieb ihm den Ort, an dem sie erscheinen sollte.

Ziemlich durch gerüttelt waren sie neben Marlon´s Hütte im Wald gelandet und hatten in ihre Zeit zurück gefunden. Der weise Marlon begrüßte die beiden und war sichtlich erfreut, dass sie wohlbehalten zu ihm zurück gekehrt waren. Kalif antwortete nicht auf seine Begrüßung und Marlon konnte ihm ansehen, dass etwas in ihm arbeitete. Und das nicht zum Guten.
Als sie drinnen am Tisch saßen, kredenzte er eine Kräutersuppe für seine Gäste, die er am Morgen gekocht hatte. Es gab für jeden einen Kanten hartes Brot dazu, das schon älter war. Er hatte noch keine Zeit gefunden, neues Brot zu backen. Madura schlug zu, hatte ruckzuck den Teller leer und fragte nach mehr. Marlon stand lächelnd auf, nahm ihren Teller und füllte ihn ein zweites Mal. Kalif dagegen rührte nichts an und schob den vollen Teller schließlich von sich.
„Willst du dich hinlegen und ausruhen?“, fragte Marlon.
Kalif nickte. Der weise Marlon ging auf der Stelle in die Kammer nebenan, bezog das Bett frisch und kam zurück. Er nahm Kalif bei der Hand und führte in in die Schlafkammer. „Zieh dich aus und leg dich hin. Das Bettzeug ist frisch. Schlaf dich mal richtig aus.“
Kalif antwortete nicht, fing aber an sich auszuziehen. Marlon ging aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Er holte Wein aus dem Schuppen nebenan und stellte die Flasche und zwei Gläser auf den Tisch. „Du trinkst doch ein Glas mit?“
Die Hexe nickte und Marlon goss die Gläser voll. Sie stießen an und nahmen einen Schluck. Schmeckt etwas sauer, dachte Madura, kann man
aber gerade noch trinken.
„Aus eigenem Anbau“, erklärte Marlon, „die Reben sind ein Stück weit in südlicher Richtung.“
Er zeigte mit der Hand zum Fenster. „Man kann den Hügel nicht ganz sehen, nur den unteren Teil.“
„Das muss viel Arbeit sein“, antwortete Madura und betrachtete besagten unteren Teil des Berges durch das Fenster.
„Es geht“, Marlon lachte, „was soll ein Einsiedler auch den ganzen Tag tun?“
Sie sahen sich an und lachten beide.

Kalif schlief die Nacht durch und erwachte erst am nächsten Tag. Den Alptraum hatte er nicht los werden können, aber er fühlte sich zumindest ausgeruht. Gähnend setzte er sich auf und streckte sich. Die Kammer war nicht groß, die Wände nur grob verputzt, keine Tapete. Der Boden war mit Kieselsteinen bedeckt – streng genommen blanke Erde mit Steinen drauf. Ein Tisch stand da, eine Art Schrank ohne Türen, in der Ecke war eine Anrichte, auf der eine Petroleumlampe stand. Schlicht, aber geruhsam schlafen konnte man hier drin. Vielleicht gerade deswegen.
Er stand auf, zog sich an und ging ins Wohnzimmer. Madura und der weise Marlon saßen am Tisch. Die Feldbetten standen noch in der Ecke, in denen sie übernachtet hatten. Kalif begrüßte die beiden und fragte: „Wo kann ich mich waschen und mir die Zähne putzen?“
Marlon grinste: „Ist vermutlich etwas ungewohnt für dich. Draußen steht eine Regentonne, das Wasser kannst du nehmen. Marlon holte eine Schüssel, Seife, ein Handtuch und gab es ihm.
Als Kalif später rein kam, hatte Marlon Frühstück für alle drei auf dem Tisch. Sie taten sich gütlich daran und tranken Kräutertee dazu. Marlon sah mit Freude, dass Kalif auch zu langte – es schien ihm besser zu gehen. Angesichts dessen fragte Madura: „Kannst du jetzt darüber reden?“
Kalif zuckte zusammen und wurde bleich im Gesicht. „Jetzt und hier – über dieses schreckliche Ereign..?“
Weiter kam er nicht. Er schenkte sich die Tasse mit Kräutertee nochmal voll und leerte sie in einem Zug. Madura und der weise Marlon sahen ihn besorgt an. Sie schwiegen, sagten nichts mehr. Es war offensichtlich zu früh für eine solche Aussprache.

Sie gingen den angelegten Weg zwischen den Rebhängen entlang. Marlon zeigte nach rechts oben und sagte: Ich habe nur eine Rebsorte, andere wollen hier nicht gedeihen. Besser gesagt, bringen nicht genügend Ertrag.“
Er ging voraus, eine kurze Steintreppe hoch und dann direkt zwischen die Rebstöcke, die in langen Reihen bis nach oben reichten. Madura folgte ihm. „Wie du sehen kannst“, erklärte Marlon und zeigte auf den Boden, „muss hier mal wieder Unkraut entfernt werden. Er richtete sich auf und nahm ein Rebblatt in die Hand. „Die Reben müssen auch wieder geschnitten werden.“
Madura stellte sich all die Arbeit vor. Vom Ernten, keltern und abfüllen in Flaschen ganz zu schweigen.
„Ein mühsames, aber lohnendes Hobby“, sagte sie.
Marlon sah sie an und nickte. „Das hast du schön gesagt, genau so ist es.“
Sie liefen den Hügel ganz hoch. Marlon blieb immer wieder stehen und sah sich verschiedene Rebstöcke genauer an. Madura beobachtete ihn
und kam zu dem Schluss, dass er ein wirklicher Winzer sei, auch wenn sein Wein etwas sauer schmeckte.

Als sie zurück in Marlons Hütte waren, war die Schlafkammer abgeschlossen. Die beiden hatten nach Kalif sehen wollen, aber sie kamen nicht weiter als bis vor die Tür. Madura klopfte: „Kalif - wir sind es. Mach mal auf, dass man nach dir sehen kann.“
Von drinnen kam keine Antwort und die Tür wurde nicht aufgeschlossen. Madura klopfte ein zweites Mal. „Jetzt mach schon auf - wir reden darüber.“
Kalif antwortete nicht und die Tür blieb verschlossen.

„Er kommt nicht damit klar, dass er im 16. Jahrhundert ein Henker war.“
Marlon nickte und fragte: „Woher wusste er, dass ER das ist?“
„Der Henker soll es ihm auf eine ungewöhnliche Art bestätigt haben.“
Marlon zog die Augenbraue hoch: „Wie denn?“
„Eine Art Gedankenübertragung. Kalif konnte es selbst nicht erklären. Er sei sich aber in dem Moment, als er ihn sah, völlig sicher gewesen.“
Marlon zog die Stirn in Falten: „Und wenn er sich getäuscht hat?“
„Glaube ich nicht. Die Oberhexe, die uns den Tipp mit Inglewood gab, hat gesagt: Wenn ihr ihn seht, werdet ihr ihn erkennen.“
„Hast du ihn auch erkannt?“ Die Hexe schüttelte den Kopf.

Marlon sah Madura einen Moment schweigend an. Dann stand er auf, holte eine Karaffe mit Wein, zwei Becher und stellte alles auf den Tisch. Er goss die beiden Becher voll und bedeutete Madura, sich einen zu nehmen. Sie ergriffen sie beide und nahmen einen Schluck. Er schmeckt gar nicht mehr so sauer, dachte Madura. „Man gewöhnt sich an den Stoff“, sagte Marlon, „stimmt´s?“
Ja, das war es wohl. Madura nickte und kicherte -

Kalif ließ sich zwei volle Tage und Nächte nicht außerhalb der Schlafkammer blicken. Madura hatte nochmal bei ihm geklopft, es war aber keine Resonanz erfolgt. „Er ist doch hoffentlich noch am Leben“, sagte Marlon, „und hat sich nichts angetan.“
Madura schüttelte den Kopf. „Er hat seine Tiefpunkte – aber er ist stark und wird´s überwinden.“
Marlon sah besorgt auf die Tür zur Schlafkammer und sagte: „Hoffen wir, dass du recht hast.“

Zwei Tage später war die Kammer immer noch verschlossen und Kalif hatte sich nicht blicken lassen. Madura klopfte am Abend bei ihm.
Tagsüber war sie mit Marlon auf dem Rebberg gewesen. Sie hackte das Unkraut weg und Marlon hatte die Rebstöcke geschnitten.
Madura klopfte eine zweiters Mal und rief: „Ich habe in meiner Kugel nach gesehen. Der Henker hat nach der Hinrichtung, die wir gesehen haben, seine Arbeit an den Nagel gehängt. Er zog als Mönch von Ort zu Ort, hat den Leuten aus der Bibel vorgelesen und Almosen von ihnen bekommen.“
Madura wartete gespannt vor der Tür. Aber es tat sich nichts. Keine Geräusche von drinnen, kein Kalif, der endlich die Tür aufschloss und sich zeigte. Resigniert schlurfte sie ins Wohnzimmer, setzte sich an den großen hölzernen Tisch und blies Trübsal. Marlon kam dazu. Er war drüben im Schuppen gewesen um die Hacke zu reparieren, die sich bei der Arbeit vom Stil gelöst hatte. Als er eintrat, sah er Maduras betrübte Miene und fragte: „Wollte Kalif wieder nicht aufmachen?“
Die Hexe nickte.

Marlon holte Wein, zwei Becher und goss sie voll. Sie nahmen beide einen Schluck und noch einen hinterher. „Er kann sich doch nicht ewig in deiner Schlafkammer verbarrikadieren. Muss doch auch mal raus, sich waschen, etwas essen, ein bisschen Bewegung haben.“
Marlon nickte. Beide tranken nach und nach die Flasche leer. Marlon wollte gerade fragen, ob er noch eine holen soll, als beide Geräusche hörten. Eine Tür wurde aufgeschlossen, Schritte waren zu hören und dann war Kalif im Wohnzimmer. Seine Haare standen in alle Richtungen, seine Haut war blass und die Augen wirkten verschleiert. „War jetzt lange genug da drin“, murmelte er, „hab mir lange genug den Kopf zerbrochen.“
Marlon und Madura sahen ihn erfreut an. Der weise Marlon holte ihm ein Handtuch, Seife, eine Schüssel und eine Zahnbürste.
„Weißt ja – draußen die Regentonne.“

Eine Weile später kam Kalif zurück. Marlon hatte ihm eine Suppe mit Brot auf den Tisch gestellt. Kalif aß sie und ließ sich den Teller gleich ein zweites mal füllen. „Hab ja ne regelrechte Fastenkur hinter mir“, frotzelte er und deutete sogar ein Lachen an.
Als er gegessen hatte, schob er den Teller beiseite und fixierte Madura. „War das nur eine Finte, um mich raus zu locken, oder stimmt es tatsächlich,
dass der Henker ein Mönch geworden ist?“
Madura holte als Antwort ihre Glaskugel, rieb sie, stellte sie auf den Tisch und murmelte ein paar unverständliche Formeln.
Die Kugel begann zu leuchten. Madura sah eine Weile hinein, bis sie sagte: „Komm her, sieh selbst – hier ist er.“


Teil 4
Inzwischen war Kalif fast ein halbes Jahr unterwegs, wanderte täglich durch fremde Städte, Dörfer und über Land. Nachts hatte er ein Zimmer in einem Wirtshaus, wenn es eines gab, wo er gerade war. Wenn nicht, packte er seinen Schlafsack aus und nächtigte am Waldrand, auf einer Wiese oder manchmal hinter einem Haus im Garten. Allmorgendlich vollzog er die Reinigungszeremonie, die Marlon ihm gezeigt hatte. Er kniete mit nacktem Oberkörper auf dem Boden, senkte den Kopf und konzentrierte sich für einen Moment. Ließ alles los, was an Gedanken auf ihn einströmte, reinigte den Geist, befreite ihn von angesammeltem Müll und erfrischte ihn.
Den Tag über aß er nicht mehr als zwei kleine Mahlzeiten. Konsumierte keinen Alkohol und keinen Tabak. Am Anfang fehlte ihm das natürlich. Nach ein paar Tagen wurde es mehr und mehr bedeutungslos. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier – er kann sich Dinge angewöhnen und abgewöhnen. Das erfuhr Kalif in diesen Tagen. Gesund und heiter fühlt man sich, stellte er nach einer Weile fest, wenn man so lebte. Genügsamkeit hatte etwas befreiendes, ja, etwas Glück bringendes.
Wie leicht mich meine Füße jetzt tragen, wie froh und zufrieden mein Gemüt ist. Warum bin ich nicht schon früher auf Wanderschaft gegangen? Warum hab´ ich nicht schon früher diese Beglückung erfahren? Marlon´s Rat war gut, wirklich weise. Er hatte ihm klar gemacht, dass es karmisch nicht genüge, dass der Henker fromm geworden sei. Auch er, Kalif, müsse noch Läuterung erfahren, um sich endgültig zu befreien. Danach werde er ein anderer Mensch sein.

Als es Herbst und Winter wurde, war es nicht mehr so leicht einfach draussen zu schlafen. Deshalb fragte Kalif bei Leuten, die einen Schuppen hatten und ihn unterkommen ließen für eine Nacht. Er half ihnen dafür ein wenig bei der Arbeit. Melkte Kühe, fütterte Tiere, sammelte Eier von den Hühnern ein oder half Nahrungsmittel wie Getreide und Kartoffeln einzulagern. Es kostete ihn eine Stunde, zwei oder drei von seiner Wanderzeit. Aber so konnte er den Winter überstehen. Im Frühjahr, als es ein ganzes Stück wärmer wurde, konnte er wieder draußen schlafen und noch in dieser Jahreszeit endete seine Wanderung.

Im Heimatdorf herrschte helle Aufregung. Wie ein Lauffeuer hatte sich herum gesprochen, dass Kalif nach langer Wanderschaft zurückkehren werde. So gut wie alle, hatten sich daraufhin am Ortseingang versammelt, um ihn gebührend zu empfangen. Selbst der Bürgermeister stand in der Menge. Und es kam niemand komisch vor, auf einen zu warten, mit dem man früher nie viel zu tun haben wollte. Es hatte da eine Änderung gegeben. Es lag etwas in der Luft. Was genau, hätte keiner mit Bestimmheit sagen können. Aber wen kümmerte das? Jetzt, wo alles wieder seine Richtigkeit hatte, tat man, was in so einem Fall eben zu tun war. Man hieß den geläuterten Menschen willkommen.
Gegen Mittag dieses sonnigen Maitages tauchte Kalif auf. Pfeifend, den Stock lässig schwingend, sah man ihn von weitem, leichten Schrittes auf das Dorf zugehen. Er war prächtiger Laune, doch ihm war auch etwas mulmig zumute. Jetzt kommt die Nagelprobe, dessen war er sich bewusst. Jetzt wird sich zeigen, ob sich all die Mühe gelohnt hat.
Als er schließlich vor den Leuten stand und in ihre Gesichter blickte, konnte er überall ehrliche Freude über seine Ankunft sehen. Jeder aus dem Dorf begrüßte ihn, gab ihm die Hand und sprach einen Willkommensgruß aus. Für Kalif war es auf einmal wie Weihnachten und Ostern auf einen Tag. Der Traum, den er immer gehabt hatte, wurde gerade wahr. Dennoch fand der die Menschen irgendwo komisch. Erst lehnen sie einen ab – und das mit aller Inbrunst. Dann heißen sie einen willkommen – mit nicht weniger Eifer und Leidenschaft. Schwer unter einen Hut zu bekommen, dieses Verhalten, so angenehm und tröstlich es auch immer war. Er konnte die Menschen letztlich nicht verstehen, fragte sich auch hier wieder, ob er überhaupt zu ihnen gehörte und einer von ihnen war.
Kalif ließ es aber nicht zu, dass diese Gedanken ihn an diesem Tag beherrschten. Er wies die Gedanken zurück wie Marlon es ihm beigebracht hatte
und wie er es auf seiner Wanderung allmorgendlich praktiziert hatte. Willig folgte er den Leuten in die Mitte der Stadt. Vor dem Rathaus, auf dem
Marktplatz hatte man Bänke und Tische aufgestellt. Es gab Buden, die mit Essen lockten. Andere mit Wein, Bier und scharfen Schnäpsen.
„Es ist alles frei heute für jeden“, verkündete der Bürgermeister, „wir wollen die Rückkehr von Kalif gebührend feiern.“
Umstehende Leute klatschten Beifall, der Bürgermeister verbeugte sich und sonnte sich für einen Moment in dem Gefühl als Wohltäter aufzutreten.

So schmauste man, trank und feierte bis zum Abend. Kalif genoss es, so von den Dorfbewohnern bewirtet zu werden und überhaupt dabei sein zu dürfen. Sein Karma schien sich tatsächlich gereinigt zu haben. Der dicke Kurt, der sonst schnell nach Hause musste, prostete ihm mit einem Weinglas zu. Rudolf,
der noch arbeiten musste und keine Zeit hatte, saß wohlwollend neben ihm. Und sogar Erik, der Kalif für verrückt erklärt hatte, als er ihm Gesellschaft leisten wollte, war jetzt einer derjenigen, die ihr Glas erhoben, um ihn zu feiern.
Über all dem begann es langsam dunkel zu werden. Kalif erhob sich, bat um Ruhe und sagte: „Ich danke euch allen, für diesen schönen Tag. Hat mich sehr gefreut, dass ihr mich so freundlich empfangen und bewirtet habt. Allerdings muss ich jetzt zu meinem Turm – nach dem Rechten sehen. Ich war lange Zeit nicht mehr zuhause.“
Die Leute verstanden das und gaben zu erkennen, dass er bald wieder kommen möge und im Dorf jederzeit und bei jedem willkommen sei.
Und es gäbe natürlich auch wieder einiges an Arbeit, für die er gebraucht werden würde.
Kalif nickte, setzte seinen Hut auf, nahm sein Bündel an sich, verabschiedete sich und lief los. Die nächsten zwei Stunden würde er nun laufen und zwar in der Dunkelheit. Zum Glück hatte er nicht allzu viel Alkohol getrunken, so dass er den Fußmarsch durchstehen konnte und nicht die Orientierung im Wald verlor und kopfüber in einem Gebüsch oder einem Graben landete.

Als er ankam prüfte er als erstes das Schloss. Es war unversehrt, es schienen sich keine Einbrecher daran zu schaffen gemacht zu haben. „Wie lange schon, mein Turm“, murmelte er beim Auschließen, „hab´ ich dich nicht mehr gesehen.“ Er bekam feuchte Augen und eine Träne kullerte ihm die Wange herunter. Er schloss die Tür hinter sich und verschloss sie. Dann nahm er die ersten Treppen des langen Aufstiegs. Zwei Falltüren mussten unterwegs auf und zu gemacht werden. Danach kamen weitere Stufen. Schließlich gelangte er zu der Tür, hinter der seine Wohnung war. Er schloss auf, ging hinein und schloss die Tür hinter sich. Vertrautes Gefühl, zuhause im eigenen Reich. In seinem geliebten Turm. Er ging in die Küche, entzündete eine Öllampe und sah als erstes nach den Kräutern. Er füllte die Kanne, die bereit stand, mit Wasser und goß die Pflanzen, eine nach der anderen.

Als er später ins Schlafzimmer ging, um auch da nach dem rechten zu sehen, roch es dort zu seiner Verwunderung ziemlich ungewohnt. Einen Moment lang stand er da und sog den Duft in die Nase. Parfum - aber wer zum Teufel duftet hier danach? Er schlug die Bettdecke zurück, ein junges Mädchen lag vor ihm. Entsetzt und fasziniert zugleich, wich Kalif einen Schritt zurück und starrte mit offenem Mund auf ein gänzlich unbekanntes Frauenzimmer.
„Was machen Sie denn hier? Und wie sind Sie hier rein gekommen?“
Das Mädchen sah ihn wundersam freundlich an, senkte den Blick ein wenig und klimperte versöhnlich mit den Wimpern.
„Ich bin eine Prinzessin. Ich bin gekommen, dich zu erfreuen.“
„Mich zu erfreuen?“
Kalif war von den Socken.
„Ja – jetzt, wo die Menschen dich wieder mögen und du mit ihnen zusammen sitzen kannst bei Wein und Essen, hab ich mir gedacht -“
„Woher wissen Sie das?“, unterbrach er sie.
Plötzlich kicherte das Mädchen und verstellte die Stimme nicht mehr.
„Erkennst du mich nicht, du Schafskopf?“
„Madura?“
„Ja.“
„Gefalle ich dir?“
Kalif sah sie immer noch entgeistert an.
„Ja schon...“, stammelte er, „aber ...“
„Dann komm´ doch zu mir“, forderte das schöne Mädchen ihn auf.
Kalif setzte sich auf die Bettkante und beide umarmten sich. Sie drückten sich eine ganze Weile. Kalif überlegte, ob sie sich jetzt ineinander verliebten oder was.
Er löste sich aus der Umarmung und wollte das hübsche Mädchen ansehen. Doch er sah nur eine alte Hexe vor sich, mit schiefen Zähnen, Falten,
filzigen Haaren und einer großen Warze auf der Nasenspitze. Madura kicherte: „Der Zauber hält nicht allzu lange an, verfliegt im Nu.“
Kalif wandte sich ab und wollte aufstehen. Madura hielt ihn am Arm fest und sagte: „Es war nur Spaß – du musst dich nicht in mich verlieben.“
Kalif nickte und sagte: „Du bist mir eine gute Freundin und du hast mir sehr geholfen.“
„Ja“, antwortete Madura, „du musst aber noch eine letzte Sache in Ordnung bringen.“
Kalif sah sie mit großen Augen an: „Wieder so ein Abenteuer, bei dem wir Kopf und Kragen riskieren müssen?“
Madura kicherte. „Nein – es ist angenehmer.“
Kalif sah sie gespannt an und wartete auf eine Erklärung.
„Maria – die Frau aus dem Dorf. Sie war nicht beim Fest, stimmt´s?“
Kalif nickte. In all der Euphorie hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht.
„Du musst zu ihr gehen – sie wartet auf dich.“
Kalif sah die Hexe verwundert an. „Sie wartet auf mich? Warum ist sie dann nicht gekommen, beim Fest hätte sie mich treffen können?“
„Das musst du sie selbst fragen. Morgen machst du dich auf den Weg ins Dorf und besuchst sie.“

ENDE
 
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