Der Mann in der Haltestelle

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rotkehlchen

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Der alte Mann saß da, unbeweglich hinter dem Glas der Bushaltestelle, gedrungen, fast vierschrötig, mit großem, fast viereckigem Schädel und großem kahlem Nacken, eine flache braune Schirmmütze auf dem Kopf, die seine Kantigkeit noch unterstrich. Plötzlich erfasste mich eine seltsame Ergriffenheit; sie musste von dem Mann ausgehen, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte; von seiner Aura, denn ich konnte sein Gesicht nicht sehen, von geheimnisvollen Strahlen, die selbst das dicke Glas der Haltestelle überwanden, von seinem massigen Körper; denn ich hatte keinen Grund, ergriffen zu sein, besonders heute nicht, und sonst war gerade niemand in der Nähe. Im Weitergehen blickte ich zurück; ich sah einen weißen Schnurrbart, wulstige Lippen und eine flache Nase, der Blick war starr in eine unbekannte Ferne gerichtet. Nachdenklich ging ich weiter. Was verstört dich denn so, grübelte ich, du bist doch sonst kein Trauerkloß!
Nach einer halben Stunde etwa kam ich zurück, wieder an dem Glashäuschen vorbei. Der Mann saß immer noch da, unbeweglich, der Bus musste längst gekommen sein, hier halten sie alle zwanzig Minuten. Jetzt blickte er sich um, anscheinend fühlte er sich beobachtet, und ich sah sein Gesicht; ein Gesicht, in dem nichts Ergreifendes lag, höchstens der Widerschein tödlicher Langeweile.
 



 
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