"Das macht dann 27,96 €".
Onur war für einen Moment perplex. Zwei Erwachsene und zwei Kinder machte eigentlich 17,96 €. Die Kassiererin musste sich verrechnet haben. Trotzdem gab er ihr einen Zwanziger und einen Zehner und hoffte, während er auf das Rückgeld wartete, das Gülten den Fehler nicht bemerken würde. Er hasste eben direkte Konfrontationen, selbst wenn es dabei nur um Kleinigkeiten ging. Es war ein strahlend schöner Tag. "Junge, ist das voll, hoffentlich bekommen wir noch einen Platz!" sagte er lächelnd zu seinen Kindern, während sie über die Parkanlage des Freibads schlenderten. Er blickte sich nach seiner Frau um. In ihrem Gesicht meinte er, einen Hauch von Verachtung zu erkennen.
Eine Viertelstunde später hatten sie es sich auf einem schattigen Platz gemütlich gemacht.
"Komm schon, Bekir, diesmal musst du auch ins Wasser, du kannst doch nicht wieder den ganzen Tag rumgammeln", zog seine Schwester Sibel ihn auf.
"Kein Bock, im Becken ist es viel zu voll, da kann ich doch gleich in Pisse schwimmen", antwortete dieser.
Sibel wusste, dass dies nicht der wirkliche Grund dafür war, dass ihr Bruder bäuchlings auf seinem Handtuch lag und 'Harry Potter und die Kammer des Schreckens' las, während andere Kinder seines Alters in vollen Zügen das Angebot an Wasserrutschen und Sprungtürmen im, laut Internet, besten Freibad Süddeutschlands genossen. Es war vielmehr so, dass Bekir sich schämte, sein T-Shirt auszuziehen. "Ein Zehnjähriger sollte wegen ein bisschen Übergewicht nicht solche Komplexe haben", dachte sie traurig.
"Hör mal, Baba ist doch nicht zwei Stunden gefahren, dafür dass du jetzt hier nur rumliegst und liest. Das hättest du auch zuhause machen können. Denk an die Benzinkosten!", versuchte sie ihn zu überreden.
"Setz ihn nicht so unter Druck, dein Bruder kann doch machen, was er will", mischte sich ihre Mutter ein und warf Sibel einen scharfen Blick zu.
"Tamam, ich komm ja schon", sagte Bekir jetzt, der überraschend seine Meinung geändert hatte. Er entblößte seinen Oberkörper und errötete leicht. Die Kinder entfernten sich in Richtung des Beckens.
Zur gleichen Zeit hatte Onur auf dem Weg zum Pommesstand einen alten Schulkameraden getroffen.
"Das gibt es doch nicht!", rief er mit gezwungenem Lächeln. Er fand es immer etwas anstrengend, Leuten von früher zu begegnen. Er sollte Recht behalten. Innerhalb von fünf Minuten schaffte Tobias es, ihm betont beiläufig von seiner leitenden Position bei Daimler, seinem Ferienhaus am Gardasee und seinem Sohn zu erzählen, der zur Zeit, dank irgendeines Hochbegabten-Stipendiums, ein Internat in England besuchte.
"Der Junge fehlt uns natürlich wahnsinnig, aber meine Frau und ich sind uns einig, dass seine Zukunft das Wichtigste ist". Er unterbrach seinen Redefluss. "Aber jetzt hab ich die ganze Zeit nur von mir geredet", endete er mit charmantem Lächeln.
"Du, ich wollte grade Pommes für alle holen gehen, die fragen sich bestimmt schon, wo ich so lange bleibe", antwortete Onur lachend.
"Passt doch perfekt, ich bekomme auch langsam Hunger. Bin heute schon vier Kilometer geschwommen, da darf man sich doch auch mal was Ungesundes gönnen, oder ?".
Darauf war nichts zu erwidern. Sie liefen also nebeneinander auf die Schlange zu, die sich vor dem Kiosk gebildet hatte. Er bemerkte, dass Tobias für seine 47 Jahre unverschämt gut in Form war. Waschbrettbauch und muskulöse Schultern. Haarausfall hatte er offenbar auch nie gehabt.
Onur musste den Mann übersehen haben.
"Hey, in Deutschland stellen wir uns an!", rief eine ungehaltene Stimme hinter ihm.
Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Er ließ den Mann wortlos vorbei.
"Was hatte der denn für ein Problem?" fragte Tobias mit verlegenem Lachen.
"Keine Ahnung... du, ich hab was vergessen", antwortete Onur und lies seinen alten Bekannten verdutzt stehen. Er lief mit rotem Kopf in Richtung ihres Platzes. Auf einmal war er müde.
Irgendetwas war passiert. Um ihren Platz herum hatten sich mehrere fremde Menschen versammelt und redeten erhitzt. Ein Junge weinte. Onur registrierte, dass der Junge stark aus dem Mund blutete.
"Ne oldu?" fragte er seine Frau mit wachsender Anspannung.
"Gut, dass du kommst", antwortete sie. "Bekir hat einen anderen Kind eine Zahn ausgeschlagen!"
"Das war aus Versehen, Baba, ich schwöre", stotterte Bekir, der sichtlich mit den Tränen kämpfte. "Er hat die ganze Zeit lachend zu mir rüber gezeigt und als ich vom Dreier gesprungen bin hat er gesagt: "Jetzt muss man gleich das Becken neu füllen". Ich wollte ihn nur ins Wasser schupsen, aber er ist auf dem Rand aufgeschlagen". Er stand da wie ein Häufchen Elend.
Jetzt meldete sich der Vater des Geschädigten zu Wort: "Es ist doch normal, dass Kinder sich ein bisschen necken! Mein Junge hat dir nichts getan, und du bist einfach so auf ihn losgegangen. Gewalt ist doch nie eine Lösung!", belehrte er Bekir mit salbungsvoller Stimme. Bekir schaute eingeschüchtert an dem Mann vorbei. Dem blutenden Jungen wurde schwindelig und er legte sich äußerst theatralisch zu Boden.
Gülten stotterte beschämt: "Es tut mir so leid. Das sein eigentlich nicht sein Art. Geben Sie mir ihren Telefonnummer, dann wir zahlen Geld für den Zahn". Onur hätte seine Frau in diesem Moment am liebsten umarmt. Wenn sie unter Stress stand, konnte sie kein richtiges Deutsch mehr sprechen, das hatte er schon oft beobachtet.
Jetzt hatte sich die Aufmerksamkeit des aufgebrachten Vaters auf Gülten gerichtet: "Wieso du nicht passen auf, auf deine Sohn?" fragte er herrisch, indem er jedes Wort langsam aussprach und deutlich betonte. Auf den benachbarten Plätzen waren die Gespräche verstummt. Onur hatte auf einmal einen seltsam metallischen Geschmack auf der Zunge.
"Jetzt hören Sie mal zu Sie,... Sie Hund" sagte er und es kam ihm für einen Moment so vor, als würde er die ganze Szene von außen beobachten. "Was fällt Ihnen eigentlich ein , so mit meiner Frau zu reden?" Der Mann blickte ihn sprachlos an. "Und wenn Sie ihrem Sohn nicht beibringen, kein Arschloch zu sein, dann ist das hoffentlich nicht der letzte Zahn, der ihm ausgeschlagen wird!". Das war zu viel für den Vater. Er bewegte sich mit einer fürchterlichen Grimasse auf Onur zu und stieß ihm heftig gegen die Brust.
Onur holte aus und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Einige Umstehende schrien erschrocken auf. Jetzt blutete der Mann aus der Nase. Rasend versuchte er, sich auf Onur zu werfen, doch die anderen Badegäste hielten ihn zurück.
Gülten starrte schweigend auf einen Punkt in der Nähe des Sprungturms. Inzwischen war ein Bademeister auf den Streit aufmerksam geworden.
"Was ist denn das Problem?", fragte er professionell.
"Der Junge da hat meinem Sohn einen Zahn ausgeschlagen und danach ist sein Vater auf mich losgegangen", antwortete ihm der Mann, mit sich überschlagender Stimme.
"Ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen", sagte der Bademeister in ruhigem Ton und machte dabei mit seinen Armen ein Geste, die er wahrscheinlich in einem Anti-Eskalationskurs gelernt hatte.
Onur bemerkte, dass Bekir und Sibel ihn schockiert anschauten. Er machte eine wegwerfende Handbewegung und begann, Handtücher und Sonnencreme achtlos in die mitgebrachte Tasche zu werfen. Die Gespräche der Sitznachbarn waren noch nicht wieder in Gang gekommen. Eine Minute später liefen sie unter den Blicken der Badegäste mitsamt ihrem hastig verstauten Gepäck zum Ausgang.
Während der Heimfahrt redeten sie kein Wort. Auf dem Rücksitz blickten die Kinder betroffen aus dem Fenster. Onur saß am Steuer und lächelte leise in sich hinein. Aus dem Augenwinkel beobachtete er seine Frau auf dem Beifahrersitz. Ihren Gesichtsausdruck konnte er nicht deuten.
Onur war für einen Moment perplex. Zwei Erwachsene und zwei Kinder machte eigentlich 17,96 €. Die Kassiererin musste sich verrechnet haben. Trotzdem gab er ihr einen Zwanziger und einen Zehner und hoffte, während er auf das Rückgeld wartete, das Gülten den Fehler nicht bemerken würde. Er hasste eben direkte Konfrontationen, selbst wenn es dabei nur um Kleinigkeiten ging. Es war ein strahlend schöner Tag. "Junge, ist das voll, hoffentlich bekommen wir noch einen Platz!" sagte er lächelnd zu seinen Kindern, während sie über die Parkanlage des Freibads schlenderten. Er blickte sich nach seiner Frau um. In ihrem Gesicht meinte er, einen Hauch von Verachtung zu erkennen.
Eine Viertelstunde später hatten sie es sich auf einem schattigen Platz gemütlich gemacht.
"Komm schon, Bekir, diesmal musst du auch ins Wasser, du kannst doch nicht wieder den ganzen Tag rumgammeln", zog seine Schwester Sibel ihn auf.
"Kein Bock, im Becken ist es viel zu voll, da kann ich doch gleich in Pisse schwimmen", antwortete dieser.
Sibel wusste, dass dies nicht der wirkliche Grund dafür war, dass ihr Bruder bäuchlings auf seinem Handtuch lag und 'Harry Potter und die Kammer des Schreckens' las, während andere Kinder seines Alters in vollen Zügen das Angebot an Wasserrutschen und Sprungtürmen im, laut Internet, besten Freibad Süddeutschlands genossen. Es war vielmehr so, dass Bekir sich schämte, sein T-Shirt auszuziehen. "Ein Zehnjähriger sollte wegen ein bisschen Übergewicht nicht solche Komplexe haben", dachte sie traurig.
"Hör mal, Baba ist doch nicht zwei Stunden gefahren, dafür dass du jetzt hier nur rumliegst und liest. Das hättest du auch zuhause machen können. Denk an die Benzinkosten!", versuchte sie ihn zu überreden.
"Setz ihn nicht so unter Druck, dein Bruder kann doch machen, was er will", mischte sich ihre Mutter ein und warf Sibel einen scharfen Blick zu.
"Tamam, ich komm ja schon", sagte Bekir jetzt, der überraschend seine Meinung geändert hatte. Er entblößte seinen Oberkörper und errötete leicht. Die Kinder entfernten sich in Richtung des Beckens.
Zur gleichen Zeit hatte Onur auf dem Weg zum Pommesstand einen alten Schulkameraden getroffen.
"Das gibt es doch nicht!", rief er mit gezwungenem Lächeln. Er fand es immer etwas anstrengend, Leuten von früher zu begegnen. Er sollte Recht behalten. Innerhalb von fünf Minuten schaffte Tobias es, ihm betont beiläufig von seiner leitenden Position bei Daimler, seinem Ferienhaus am Gardasee und seinem Sohn zu erzählen, der zur Zeit, dank irgendeines Hochbegabten-Stipendiums, ein Internat in England besuchte.
"Der Junge fehlt uns natürlich wahnsinnig, aber meine Frau und ich sind uns einig, dass seine Zukunft das Wichtigste ist". Er unterbrach seinen Redefluss. "Aber jetzt hab ich die ganze Zeit nur von mir geredet", endete er mit charmantem Lächeln.
"Du, ich wollte grade Pommes für alle holen gehen, die fragen sich bestimmt schon, wo ich so lange bleibe", antwortete Onur lachend.
"Passt doch perfekt, ich bekomme auch langsam Hunger. Bin heute schon vier Kilometer geschwommen, da darf man sich doch auch mal was Ungesundes gönnen, oder ?".
Darauf war nichts zu erwidern. Sie liefen also nebeneinander auf die Schlange zu, die sich vor dem Kiosk gebildet hatte. Er bemerkte, dass Tobias für seine 47 Jahre unverschämt gut in Form war. Waschbrettbauch und muskulöse Schultern. Haarausfall hatte er offenbar auch nie gehabt.
Onur musste den Mann übersehen haben.
"Hey, in Deutschland stellen wir uns an!", rief eine ungehaltene Stimme hinter ihm.
Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Er ließ den Mann wortlos vorbei.
"Was hatte der denn für ein Problem?" fragte Tobias mit verlegenem Lachen.
"Keine Ahnung... du, ich hab was vergessen", antwortete Onur und lies seinen alten Bekannten verdutzt stehen. Er lief mit rotem Kopf in Richtung ihres Platzes. Auf einmal war er müde.
Irgendetwas war passiert. Um ihren Platz herum hatten sich mehrere fremde Menschen versammelt und redeten erhitzt. Ein Junge weinte. Onur registrierte, dass der Junge stark aus dem Mund blutete.
"Ne oldu?" fragte er seine Frau mit wachsender Anspannung.
"Gut, dass du kommst", antwortete sie. "Bekir hat einen anderen Kind eine Zahn ausgeschlagen!"
"Das war aus Versehen, Baba, ich schwöre", stotterte Bekir, der sichtlich mit den Tränen kämpfte. "Er hat die ganze Zeit lachend zu mir rüber gezeigt und als ich vom Dreier gesprungen bin hat er gesagt: "Jetzt muss man gleich das Becken neu füllen". Ich wollte ihn nur ins Wasser schupsen, aber er ist auf dem Rand aufgeschlagen". Er stand da wie ein Häufchen Elend.
Jetzt meldete sich der Vater des Geschädigten zu Wort: "Es ist doch normal, dass Kinder sich ein bisschen necken! Mein Junge hat dir nichts getan, und du bist einfach so auf ihn losgegangen. Gewalt ist doch nie eine Lösung!", belehrte er Bekir mit salbungsvoller Stimme. Bekir schaute eingeschüchtert an dem Mann vorbei. Dem blutenden Jungen wurde schwindelig und er legte sich äußerst theatralisch zu Boden.
Gülten stotterte beschämt: "Es tut mir so leid. Das sein eigentlich nicht sein Art. Geben Sie mir ihren Telefonnummer, dann wir zahlen Geld für den Zahn". Onur hätte seine Frau in diesem Moment am liebsten umarmt. Wenn sie unter Stress stand, konnte sie kein richtiges Deutsch mehr sprechen, das hatte er schon oft beobachtet.
Jetzt hatte sich die Aufmerksamkeit des aufgebrachten Vaters auf Gülten gerichtet: "Wieso du nicht passen auf, auf deine Sohn?" fragte er herrisch, indem er jedes Wort langsam aussprach und deutlich betonte. Auf den benachbarten Plätzen waren die Gespräche verstummt. Onur hatte auf einmal einen seltsam metallischen Geschmack auf der Zunge.
"Jetzt hören Sie mal zu Sie,... Sie Hund" sagte er und es kam ihm für einen Moment so vor, als würde er die ganze Szene von außen beobachten. "Was fällt Ihnen eigentlich ein , so mit meiner Frau zu reden?" Der Mann blickte ihn sprachlos an. "Und wenn Sie ihrem Sohn nicht beibringen, kein Arschloch zu sein, dann ist das hoffentlich nicht der letzte Zahn, der ihm ausgeschlagen wird!". Das war zu viel für den Vater. Er bewegte sich mit einer fürchterlichen Grimasse auf Onur zu und stieß ihm heftig gegen die Brust.
Onur holte aus und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Einige Umstehende schrien erschrocken auf. Jetzt blutete der Mann aus der Nase. Rasend versuchte er, sich auf Onur zu werfen, doch die anderen Badegäste hielten ihn zurück.
Gülten starrte schweigend auf einen Punkt in der Nähe des Sprungturms. Inzwischen war ein Bademeister auf den Streit aufmerksam geworden.
"Was ist denn das Problem?", fragte er professionell.
"Der Junge da hat meinem Sohn einen Zahn ausgeschlagen und danach ist sein Vater auf mich losgegangen", antwortete ihm der Mann, mit sich überschlagender Stimme.
"Ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen", sagte der Bademeister in ruhigem Ton und machte dabei mit seinen Armen ein Geste, die er wahrscheinlich in einem Anti-Eskalationskurs gelernt hatte.
Onur bemerkte, dass Bekir und Sibel ihn schockiert anschauten. Er machte eine wegwerfende Handbewegung und begann, Handtücher und Sonnencreme achtlos in die mitgebrachte Tasche zu werfen. Die Gespräche der Sitznachbarn waren noch nicht wieder in Gang gekommen. Eine Minute später liefen sie unter den Blicken der Badegäste mitsamt ihrem hastig verstauten Gepäck zum Ausgang.
Während der Heimfahrt redeten sie kein Wort. Auf dem Rücksitz blickten die Kinder betroffen aus dem Fenster. Onur saß am Steuer und lächelte leise in sich hinein. Aus dem Augenwinkel beobachtete er seine Frau auf dem Beifahrersitz. Ihren Gesichtsausdruck konnte er nicht deuten.