der narr vorm spiegel

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
[ 4]der narr vorm spiegel


wozu willst du schreiben? welten eröffnen? hat jeder nicht mehr als
genug von welten um sich herum? jeder mensch ist ein ganzes
all von sternen nebel planeten wolken daraus der
sohn des menschen herab stürzt dich mir zu entreiszen

er wird einem jeden im sterbemoment neue welten eröffnen
wozu also willst du die mütter des sohnes dahinsterben sehn?
sag: bist du denn schon gestorben? woher weiszt du welten zu öffnen?
ist es die deine die meine in deiner wem willst dus verraten?

und wer wird dich verstehen? verstehst du die welt zum verstehen
aufzuschlieszen? den schlüssel zur öffnung der tür zu verschenken?
wo findest du den klugen verleger der nickt dich zu drucken
weil du verstehst seinen sinn aufzutun der die welten uns aufschlieszt?
 

Perry

Mitglied
Hallo hansz

diese Fragen sind mir nur zu gut bekannt, gerade was die letzte Strophe anbelangt.
Frage nicht für wenn Du schreibst, sondern warum.
Wenn Du darauf eine für dich befriedigende Antwort gefunden hast, bist Du ein glücklicher Schreiber.
LG
Manfred
 

Veil

Mitglied
In diesem Gedicht begegnet mir ein "Narr", der Antworten von seinem Spiegelbild erbittet. Allein: Es gibt keine Antwort, denn ein Spiegelbild ist nicht in der Lage zu interagieren. Somit bleibt es beim Selbstgespräch, einem "erweiterten" Grübeln.

Manche Fragen darin erkenne ich wieder (als Leser), andere stellen sich mir nicht (V6 verstehe ich nicht, da brauche ich Nachhilfe).

Mir scheint, dein "Narr (in uns allen, die wir schreiben)" bedauert, nicht "entdeckt", publiziert zu werden, warum auch immer. Er glaubt, er habe etwas mitzuteilen und wird seine Worte einfach nicht los. Warum? Ein jeder von uns hat da seine Erklärungen.

Letztendlich frage ich mich am Ende deines Textes, ob es insgesamt darum geht, dass niemand aufmerksam wird auf die Genialität des Narren oder ob sich vom DU (V1-4) zum ER (V5-8) zum DU (V9-12) ein Gedankenstrang vollzieht, der ein wenig in Selbstmitleid endet?

Ich habe nun wirklich mehrmals dein Gedicht gelesen und, wie es meine Art ist, versucht zu visualisieren, was darin vor sich geht. Die ersten vier Verse sind für mich persönlich am ergiebigsten. Darüber könnte ich abendfüllend diskutieren - ohne eine endgültige Antwort formulieren zu können. Nur soviel: Auch Schreiben ist eine Art der Kommunikation - mit persönlich Unbekannten. Mir dient sie als Horizonterweiterung und z.T. auch als Selbsterkennung.

An dieser Stelle unterbreche ich mal meinen Redeschwall (muss nebenbei sozialversichert arbeiten - lach).

Mit Gruß
Veil
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Dankeschön Perry, dankeschön Veil!

Das personbezogene "Für wen" und das sachliche "Wofür" greifen ineinander, wenn es darum geht, Augen für Welten zu öffnen, Welten für Augen zu öffnen. Auch der "Verleger" am Ende dient als Weltenöffner, wenn die Schlüssel nicht nutzlos am Ring aufgereiht bleiben sollen.
Dieses hier ist das neunte Lied des Hunderliederbuchs (des sechsten von mittlerweile zehn) mit dem Namen "Schubladenwerke". Nomen est omen.

Deine Metapher, Veil, vom stummen (weil nicht interaktiven) Spiegel gefällt mir gut, allerdings kann der Narr die kalte Reflexion dazu nutzen, sein lebendiges Selbstgespräch zu objektivieren, wie es ja auch üblich ist und in Gedichten entfaltet wird, zu ganzen Welten. Innerlich sind wir immer imaginations-vielfältig interaktiv.
Die ersten vier Verse sind für mich persönlich am ergiebigsten. Darüber könnte ich abendfüllend diskutieren - ohne eine endgültige Antwort formulieren zu können. Nur soviel: Auch Schreiben ist eine Art der Kommunikation - mit persönlich Unbekannten. Mir dient sie als Horizonterweiterung und z.T. auch als Selbsterkennung.
Auch für die "Kommunikation" der Leser untereinander würde ich betonen, daß sie Entfaltung des im Gemeinsamen Verborgenen (des im Bekannten verborgenen Unbekannten) ist, was ich "Eröffnen von Welten" genannt habe.

Nun gibt es hier ein Spiel mit dem Fastnochverborgenen, rätselgrenzwertig: Der "Sohn des Menschen" ist uns als Weltenrichter am Jüngsten Tag bekannt. Ich nehme die Metapher so wörtlich wie möglich: Er mag in den "Wolken des Himmels" erscheinen (so in den "kleinen Apokalypsen" der Evangelien), aber ich nehme schon die "Wolken" als menschliche Bewußtseinsschichten, und den "Sohn" als eine aus den Menschen hervorgeborene Gestalt. Die sind dann seine "Mütter".
Nun gibt es mindestens zwei Bedeutungsebenen dieser Geburt: zum einen (klassisch, biblisch) der Jüngste Tag und seine Gegenwart im Sterbensprozeß, zum zweiten im Leser und der Eröffnung neuer Himmel, neuer Erden - und gewiß noch einige Bedeutungs-Eröffnungen darüber hinaus.

grusz, hansz

P.S.: Ich dachte erst, ich hätte diesen "Brief" ausversehen gelöscht (was für ein Mist, nach so viel Zeiteinsatz!), hatte ihn aber doch abgeschickt (Gottseidank! was für eine Erleichterung!) - nur an der falschen Stelle.
Habe ihn nun hierher kopiert, so wirds wohl richtig sein.
 
Das ist das gemeine am Spiegel - er macht uns alle zu Narren.

wozu?, woher?, wem?, wer?, wo?....das sind die Fragen...die das LY-I als Narren identifizieren.

Auch wenn ich nicht alles verstehe...empfinde ich deinen Text als handwerklich ausgereift.

Gruß, A.D.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Im Nachhinein, nach etwas zeitlichem Abstand, fällt mir auf, daß es ein Lied über den Sinn von Dichtung ist:
Ihr Hauptzweck sei es, "Welten zu öffnen, zu eröffnen". Essenz aller Kommunikation.
Und umfassende Zusammenfassung aller Kommunikation.

Daher auch die Nähe zur Religion, wie sie in dem "Menschensohn"-Motiv aufgegriffen wird. Und die Rolle des Verlegers als Welten-Öffner.
 



 
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