Der Panther 2.0

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Der Panther 2.0 (Ein Traum so fern)

Ein Traum so fern
erhebt sich aus dem Schatten, bricht das Joch.
Ein Hauch von Freiheit, endlich nah und doch.
Gefangen in des Schicksals schwerem Kern.

Die Käfigtür, sie öffnet sich so leis',
Der Panther schreitet aus ins Fremde, reist
zuerst entzückt und taumelnd, wie ein Kind, das zählt
die Sterne, die ihm scheinen wie Geleit.

Er schleicht und spürt der Erde unbekanntes Leben,
die Flüsse, Berge, Wälder, Gräser, Seen.
Doch fremd die Dinge, die sich in die Augen heben;
die Schöpfung in ihn bricht in Bildern, unbesehen.

Verstört von jenem, was er auf dem Spiegel eines Sees erblickt:
Der Schwan, der stolz und gleichsam königlich
auf Wassern zieht die edlen Bahnen,
und Affen, die den Spiegel schlagen
aus Angst vor seinem
Angesicht

Geht’s weiter und im Herzen blau,
unsicher, zweifelnd, wem er trau,
singen ihm Vögel bunt in ihren Träumen;
doch Schönheit kann den Gram kaum räumen.

Die Welt, sie blendet zwar mit wildem Reigen,
Unendlichkeiten, Freiheiten, die zeigen,
dass sie, so grenzenlos sie sind, den Geist verwirren
doch bloß zur Kette alter Fesseln führen

Die Flucht vor Gleichmut, die er suchte, weicht,
zurück zum Käfig, wo das Schicksal gleicht
sich aus, und still der Panther seine Runden dreht,
Die Tür steht offen, doch er bleibt, denkt, glaubt
versteht:

In Freiheit liegt der Schrecken, nun gewogen,
Das Unbekannte, was ihn hat bewogen.
Der Panther wählt die Zwänge, die er kennt,
und kehrt zurück, wo die Idee des Käfigs ihn
abtrennt: Von dem da unten, dem da oben

Bleibt in dem Kreise eingewoben,
dem allerkleinsten Kreis,
in dem der weiche Gang sich
dreht, in dem der müde Blick ihm steht,
so wie ein Tanz von Kraft
um eine Mitte
geht:

Als sei er ganz
betäubt​
 
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petrasmiles

Mitglied
Lieber Dionysos,

was für ein überraschendes Gedicht!
So anmutig wie 1.0, so umschlossen wie umfassend.
Und so tief.
Ist es ein Gefühl wie 'schade', das sich einstellt? Gefällt uns der Panther als Opfer der Umstände besser? Und mögen wir es weniger, wenn seine Unfreiheit Ergebnis eines freiwilligen Aktes ist?
Überhaupt: Freiheit. Das meist plakativ benutzte und am wenigsten verstandene Phänomen des Menschseins. Eigentlich eine Unmöglichkeit und doch als das erstrebenswerteste Ziel überhaupt ausgegeben - spätestens seit der Aufklärung - und selbst dann nicht für alle. Die Begrenztheiten sind vielfältig. Hegels "Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit" ist erst der Anfang und gefühlt ist die Freiheit nach Marx und erst recht 'unsere Befreiung' erreicht und für jedermann wohlfeil.
Freiheit ist eine Idee - und es braucht Geist, um die individuellen Anforderungen zu erkennen - und die unfreien Rahmenbedingungen zu akzeptieren.

Nehmen wir an, dass der Panther auf seine instinktive Weise und aufgrund von Sinneseindrücken das Dilemma für sich gelöst hat - und sich für die 'Sicherheit' entschieden (?) hat. Noch so ein irisierender Begriff. Warum sollen Freiheit und Sicherheit Gegensatzpaare sein? Ist die Freiheit, die er 'meinte', weniger wert, weil sie in den Käfig führte?
Hier breche ich meine Betrachtungen lieber ab - und die Gedankenspirale.

Toller Text, gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 

Tula

Mitglied
Hallo Dio
Ein sehr idyllischer Traum für einen Panther ;)
Originelle Idee auf jeden Fall

LG
Tula
 
Liebe @petrasmiles

vielen Dank für deinen durchdachten und inspirierenden Kommentar zu meinem Gedicht. Es freut mich, dass der Text dich angeregt hat, über die Bedeutung von Freiheit und Sicherheit nachzudenken und deine profunden Fragen und Gedanken mit mir zu teilen. Merci ! Ich greife nur ein paar Aspekte dieses vielschichtigen, tiefsinnigen Nachsinnens von Dir auf:

Du hast einige interessante Punkte angesprochen, insbesondere die Frage, ob es bedauerlich ist, dass der Panther seine Unfreiheit als Ergebnis eines freiwilligen Aktes wählt. Tatsächlich spiegelt diese Frage die menschliche Natur wider, die oft danach strebt, ihre Freiheit zu erlangen, nur um festzustellen, dass sie manchmal in gewohnten und sicheren Umgebungen Trost findet. Die Entscheidung des Panthers könnte so als Metapher für das menschliche Leben gesehen werden, in dem wir ständig zwischen der Sehnsucht nach Freiheit und der Suche nach Sicherheit und Geborgenheit hin- und hergerissen sind.

Deine Erwähnung von Hegel und Marx zeigt für mich auch, dass die Suche nach Freiheit und die damit verbundenen philosophischen Debatten tief in unserer Kultur verwurzelt sind. Hegels "Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit" meint ja, dass wahre Freiheit darin besteht, die Grenzen unserer Existenz zu erkennen und dennoch Entscheidungen innerhalb dieser Grenzen zu treffen. In diesem Sinne hat der Panther möglicherweise eine Art von Freiheit erfahren, indem er die "Notwendigkeit" seines Käfigs erkennt und dennoch die Entscheidung trifft, dorthin zurückzukehren.

Zudem hast du die Beziehung zwischen Freiheit und Sicherheit als Gegensatzpaare hinterfragt. Es ist wahr, dass sie oft als unvereinbar betrachtet werden. Allerdings können sie auch als zwei Seiten derselben Medaille gesehen werden, wie du auch so subtil anmerkst. Die Freiheit, die der Panther in der Natur erlebt, mag faszinierend und verlockend erscheinen, aber sie bringt auch Unsicherheit und Unbekannte mit sich. Indem der Panther sich für die Sicherheit seines Käfigs entscheidet, zeigt er, dass Freiheit und Sicherheit nicht notwendigerweise in direktem Widerspruch zueinander stehen, sondern dass es vielmehr darum geht, das richtige Gleichgewicht zwischen ihnen zu finden.

Du hast in deinem Kommentar auch zwei bedeutende Philosophen, Hegel und Marx, erwähnt, die sich ebenfalls mit den Themen Freiheit und Sicherheit auseinandergesetzt haben.

Hegel vertrat ja die Auffassung, dass Freiheit in der Einsicht in die Notwendigkeit besteht, hatte ich oben schonmal erwähnt. In diesem Sinne bedeutet Freiheit, die zugrunde liegenden Gesetze und Strukturen der Welt und unseres eigenen Seins zu verstehen und innerhalb dieser Grenzen zu handeln. Im Fall des Panthers könnte das bedeuten, dass er, indem er die Grenzen seiner Existenz erkennt, eine Form der Freiheit erfährt, auch wenn er sich dafür entscheidet, in den Käfig zurückzukehren. Die Sicherheit, die der Käfig bietet, könnte ihm die Möglichkeit geben, sich selbst und seine Welt besser zu verstehen und somit die Freiheit auf einer tieferen Ebene zu erreichen.

Marx hingegen betrachtete Freiheit im Kontext der sozioökonomischen Verhältnisse und der Klassenkämpfe. Für Marx war Freiheit untrennbar mit der Überwindung der Ausbeutung durch das kapitalistische System und der Etablierung einer kommunistischen Gesellschaft verbunden. Obwohl der Panther in einer anderen Situation als der menschlichen Existenz lebt, kann die Metapher des Käfigs auch für die menschliche Gesellschaft gelten. In diesem Sinne könnte die Rückkehr des Panthers in den Käfig eine Kritik an der Art und Weise sein, wie Menschen ihre eigene "Gefangenschaft" in einem System akzeptieren, das ihre Freiheit einschränkt. Die Sicherheit, die der Käfig bietet, ist in diesem Fall möglicherweise eine Illusion, die von den strukturellen Bedingungen unserer Welt aufrechterhalten wird.

Die Entscheidung des Panthers, in den Käfig zurückzukehren, hat mich angeregt, über die Bedingungen meiner eigenen Freiheit nachzudenken und die Rolle der Sicherheit in meinem Leben zu hinterfragen, wobei der Ausgangspunkt aller Relfektionen über diese Themen viel mehr noch Rilkes wunderbarem Original liegt, das so viel "Weiterdenken" in diese Richtungen ermöglicht.

Nochmals vielen Dank für deinen Kommentar und die wertschätzende Auseinandersetzung mit meinem Gedicht.


Hi @Tula

danke für deinen Kommentar und die Anerkennung der originellen Idee, die in diesem Gedicht zum Ausdruck kommt. Es ist interessant zu sehen, wie die verschiedenen Aspekte des Gedichts unterschiedliche Interpretationen und Gedanken hervorrufen.

In der Tat ist es ein idyllischer Traum für den Panther, der eine ungewöhnliche Perspektive auf die Themen Freiheit und Sicherheit bietet. Die Entscheidung des Panthers, in den offenen Käfig zurückzukehren, zeigt, dass es manchmal mehr Bedeutung und Komplexität in scheinbar einfachen oder idyllischen Situationen geben kann, als wir auf den ersten Blick erkennen.

Das Gedicht regt mich dazu an, über die tieferen Bedeutungen von Freiheit und Sicherheit nachzudenken und wie sie sich in unserem eigenen Leben manifestieren. Auch wenn der Panther eine ungewöhnliche Wahl als Protagonist sein mag, kann er dennoch eine starke Metapher für die menschliche Erfahrung bieten und uns inspirieren, unsere eigenen Entscheidungen und Prioritäten zu reflektieren. Hier habe ich natürlich -der Meister möge es mir verzeihen- uneingeschränkt auf Rilke aufgebaut und mich treiben lassen.

mes compliments

Dio
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 24479

Gast
lieber Dio,
sprachlich ist das wirklich gut. ich grüble halt nur,
wie ich es im blick auf 1.0 finde - du stellst den bezug ja her.
hm, brauche noch ein bisschen. für sich genommen wäre
es für mich einfacher.
liebe grüße
charlotte
 
Liebe Charlotte,

zergrübel dir bitte nicht den hübschen, klugen Kopf. Das ist doch das Textlein nicht wert !!

Freue mich sehr, dass Du vorbeigeschaut und Deine Notiz da gelassen hast.

Ich kann Dich verstehen. Es ist schon etwas unverforen, hier einfach auf den Schultern eines Giganten wie Rilke herumzuspielen. Naja als mehr sollte man es auch nicht verstehen. Das wäre vielleicht eine Möglichkeit der Versöhnung. Keinesfalls wollte ich aber verleugnen, von welchem Meisterwerk meine Spielerei ihre ganze Inspiration und Bilderwelt entlehnt hat.

mes compliments

Dio
 

sufnus

Mitglied
zergrübel dir bitte nicht den hübschen, klugen Kopf.
Uijui... "Froillein"-Alarm bei Dio :p
Ich geh jetzt mal schwer davon aus, dass es nicht so 70er-Jahre-mäßig gemeint war, wie es sich vielleicht lesen könnte... nee... ich geh nicht nur davon aus.. ich bin mir des sogar Gewiss... :)

Und was den Panther angeht... also da bin ich insofern ein bisschen befangen, als es mir als glühendem Rilkeverehrer ja ein bisschen auf den Sack geht, dass ausgerechnet der verpupste Herbsttag, die dämliche römische Fontäne und der letztlich doch etwas unterkomplexe Panther die Hitliste der allgemeinen Beliebtheit anführen (der Panther ist in diesem Trio infernale sicherlich der bestgelungene Versuch, aber es gibt so viel Krassbesseres bei RMR. Im Prinzip beruht ja die Beliebtheit vom Panther vor allem auf dem Stäbe-gäbe-Trick, der schon cool eingebaut ist, da gibts nix, aber wenn man dieses Showpiece mal vom sonstigen Sermon abzieht, ist es ein sehr solides Gedicht auf Hesse-Niveau.

Also insofern geh ich so ein bisschen mit leicht grämlicher Laune in die Lektüre, was weder gegenüber dem Original noch gegenüber der 2.0-Fassung gerecht ist. Diese Voreingenommenheit erklärt aber vielleicht, warum mir Deine Zeilen, lieber Dio, einfach zu lang vorkommen... mit leicht angekränkelter Grundstimmung ist meine Lesegeduld ein wenig kurzluntig. Dieses Phänomen (der "Fehler" liegt hier wirklich beim Betrachter und nicht beim Gegenstand - aber was will man machen?) bewirkt, dass ich eigentlich am glücklichsten wäre, wenn Dein Text so ginge:

"Die Flucht vor Gleichmut, die er suchte, weicht,
zurück zum Käfig, wo das Schicksal gleicht
sich aus, und still der Panther seine Runden dreht,
Die Tür steht offen, doch er bleibt, denkt, glaubt
versteht:

In Freiheit liegt der Schrecken, nun gewogen,
Das Unbekannte, was ihn hat bewogen.
Der Panther wählt die Zwänge, die er kennt,
und kehrt zurück, wo die Idee des Käfigs ihn
abtrennt: Von dem da unten, dem da oben."

Man also den Panther nicht erst vorsichtig eingeführt bekäm und auch eine Conclusio dem unduldsamen Leser überlassen bliebe.

Aber irgendwie ist das ja jetzt nix... dass ich mir vom Unmut über die Rilke-Perzeption den Blick auf Deinen Text in voller Länge und Breite verstellen lasse... ich glaub... ich sammele mich einfach nochmal... und nehm dann einen zweiten Anlauf...

Von daher sind meine Ein- und Auslassungen zunächst mal nur als ein erster Aufguss zu verstehen. :)

LG!

S.
 
Liebe Charlotte

Es tut mir leid. Jetzt ist es leider im Unfall geendet...

Es kam anders rüber als es gemeint war. In meiner Intention war etwas mehr bekümmerung und im Ausdruck dann doch leider völlig überflüssige
Tendenz. Ich gelobe Besserung

Lieber @sufnus

Ich bedanke mich artig für Kritik und alternative - die gut funktioniert - u d stimme auch als glühender Rilke Verehrer zu dass es weitaus besseres gibt. Nun bei Der Länge werden wir uns vermutlich nicht mehr treffen - du kennst ja meine Vorliebe für Ausschmückungen.

Mes compliments

Dio
 

sufnus

Mitglied
Ha naja... ich werd mich auch - wie angekündigt - bei der Langversion noch etwas eingehender der Exegese widmen... das war eben erstmal ein Schnellschuss ohne Anspruch auf wirkliche Trefferhaftigkeit. :)
LG!
S.
 

petrasmiles

Mitglied
Wir sind uns doch einig, dass es nur wenige Topoi gibt und seit Menschengedenken die gleichen Themen und Konstellationen immer wieder gekäut werden. Und weil der Mensch - oder besser einige Menschen - zu kulturellen Höchstleistungen fähig ist, kommt immer wieder etwas Gelungenes dabei heraus. So wird die kulturelle Fackel weiter getragen und jeder Dichter (m/w/d) freut sich ein Loch in den nicht mehr vorhandenen Bauch, wenn heute noch menschliches Empfinden an seiner (oder ihrer) Dichtung geprägt worden ist.
Und dann ist auch gut. Der Ahnen ist gedacht und Referenz erwiesen.
Und dann kommen wir zur Gegenwart und müssen uns nicht dafür 'enschuldigen', dass wir ja nur 'Epigonen' wären, weil es diverse Meister gäbe ...

Ich habe in der Biographie von Eric Clapton gelesen, dass er vor allem nachgespielt und sich die Finger wund geübt hat. Und sehr wahrscheinlich hat er ein paar Jahre wie diese(r) geklungen und ein paar wie jene(r) - und irgendwann war er Slow Hand - unvergleichlich. Ich muss zugeben, damals war ich ein bisschen enttäuscht - wohl in der irrigen Vorstellung, Genie regne vom Himmel - aber im Laufe der Zeit habe ich verstanden, dass man sich erst durch alles 'durcharbeiten' muss, um seine eigene Stimme zu finden - und das gilt dann für alle Kunstformen. Und könnte man nicht so weit gehen, dieses Prinzip auch der Wissenschaft - ja sogar der Menschwerdung selbst zugrunde zu legen?

Auf seinem Weg in die zukünftigen Schulbücher hat Dio eine ausgedehnte Rilke-Phase gehabt. Schön :)

Liebe Grüße
Petra
 
G

Gelöschtes Mitglied 24479

Gast
hallo Dio,
ist okay.
und mein unbehagen ist in dem, was sufnus schrieb, gut aufgehoben.
liebe grüße
charlotte
 
dass man sich erst durch alles 'durcharbeiten' muss, um seine eigene Stimme zu finden - und das gilt dann für alle Kunstformen. Und könnte man nicht so weit gehen, dieses Prinzip auch der Wissenschaft - ja sogar der Menschwerdung selbst zugrunde zu legen?
Das sehe ich genauso, Petra. Ich bleibe da tiefenentspannt und neugierig. Ich weiß noch, wie Sufnus völlig zu Unrecht m.M.n. bei seiner wunderbaren Dylan Thomas Homage von einem User angepampt und als minderwertige Epigone verschrien wurde. Aber hallo! Da war doch soviel "eigenes dabei" !! Da konnte man doch nicht ernsthaft behaupten der Autor sei nicht selbst schöpferisch und stilbildend tätig geworden. Fand ich total daneben.

Ich bin da ganz bei Dir und finde es gibt keine größere Ehre für einen Dichter, als wenn er "lebendig bleibt" durch die Zeiten, inspiriert und man sich -wie Du es schreibst- durcharbeiten kann (und WILL) an seinem Oeuvre. Solange die Auseinandersetzung authentisch ist und von progressiven Intentionen motiviert, zugewandt bleibt, ist es doch ein spielerisch-schöpferischer Akt. Kunst und Zensur geht ohnehin sehr schlecht zusammen.

Merci !

@lavendula schön, dass Du da nicht nachtragen bist !

@sufnus okay bleibe dann mal gespannt auf Deine Exegese

compliments

Dio
 

sufnus

Mitglied
Hey!

Also das ist hier gar nicht so einfach mit der Exegese, lieber Dio, weil es hier wirklich eine Vielzahl, ganz schön liebevoll in einander geschachtelte Ebenen zusammenzulesen gilt.

Die relative Länge Deines Gedichts habe ich ja schon angemerkt, ein bisschen (zu) maulig, da ein Gutteil meiner Lyrikbegeisterung meiner Lesefaulheit geschuldet ist.
Diese textliche Ausführlichkeit, das habe ich ja auch schon angedeutet, buchstabiert nun natürlich schon vieles aus, was ein Leser im Lückenfüllermodus sich auch (vielleicht gerne) selbst zusammenzureimen bemüßigt fühlen könnte.
Wenn ich da jetzt so drüber nachdenke, gemahnt mich diese Tendenz zu reichhaltiger Fülle an einen enthusiastischen Gastgeber, dem es nicht genügen will, den Gästen zur Bewirtung die Wahl zwischen einer hausgemachten Limonade, einem frischen Roséwein und einem Gläschen Sekt zu lassen; bei Dir werden neben Vino und der Orangeade noch Oolong-Eistee, Sharbat-e Khakshir, Calamansi Juice, Löwenzahnblütensima, Pimm's and Lemonade, kalter oder warmer Sake, Sparkling Shiraz, ein umfangreiches Sortiment von Craft-Bieren und lettischer Rhabarberschaumwein angeboten. Mit anderen Worten: Der perfekte Host, aber vielleicht ein bisschen überwältigend. ;)

Und dann gibt es da noch eine andere, sehr spezfische Eigenschaft dieses Textes (die in anderen Gedichten von Dir nicht gleichermaßen regelhaft zu finden ist): Das ist ein ausgiebiger (beinahe ein bisschen provokanter) Gebrauch von Inversionen in Tateinheit mit recht stark veredelten Vokabeln (Joch, Geleit, königlich, edle Bahnen, Gram, wilder Reigen). Dieser Gestus erzeugt eine ganz spezielle Art von altmodischem Klang und ich muss in der Rückbezüglichkeit auf längst verschollenes literarisches Singen an die Gemälde von Präraffealiten denken, Künstlern aus der Jahrhundertmitte des 19. Jh., denen der über 400 Jahre zuvor verzeitete Raffael bereits zu "modern" war. Das ist durchaus ein irritierendes Element, hat aber, wenn man sich drauf einlässt, auch seinen ganz eigenen Reiz.

Insofern finde ich, dass Du in den Zeilen tatsächlich über Rilke hinaus (oder zurück) gehst, wobei man gar nicht so genau sagen kann, in welche literarische Epoche, Du hier so wirklich zielst. Irgendwie eine Art frühromantischer Spätexpressonismus in symbolistischer Verkleidung.

Soweit mal meine Annäherung. :)

LG!

S.
 
Hi @sufnus

Vielen Dank für deine ausführliche und interessante Analyse des Gedichts. Es freut mich, dass du dir die Zeit genommen hast, dich intensiv mit dem Text auseinanderzusetzen und deine Gedanken dazu zu teilen.

Du hast absolut recht, dass das Gedicht eine Vielzahl von Ebenen und eine Fülle an Informationen enthält, die den Leser möglicherweise überwältigen können. Dein Vergleich mit einem enthusiastischen Gastgeber, der seinen Gästen eine unüberschaubare Auswahl an Getränken anbietet, ist sowohl amüsant als auch passend. Du formulierst meine Absicht spielerisch so, als habe ich versucht, so viele Ideen und Emotionen wie möglich in den Text zu packen, und schließt sehr freundlich mit: "..kann sowohl faszinierend als auch herausfordernd sein" - Nun meine Festmahle und Orgien enden natürlich nicht mit den kulinarischen Genüssen, von daher kann eine gewissen Reizüberforderung eintreten, die "ekstatische Leere", die hier wohl noch nicht erreicht ist ;-)

Deine Beobachtung bezüglich der Inversionen und der veredelten Vokabeln ist sehr interessant. Tatsächlich verleiht dieser Stil dem Gedicht einen altmodischen Klang, der an vergangene literarische Epochen erinnert. Die Verbindung, die du zu den Präraffaeliten herstellst, zeigt, dass ich möglicherweise (unbewusst) versucht habe, eine Verbindung zu einer früheren Ästhetik herzustellen, die sowohl irritierend als auch faszinierend sein kann, denn Die Präraffaeliten waren ja vor allem eine Gruppe von Künstlern und Dichtern im 19. Jahrhundert, die sich gegen den akademischen Kunststil der Zeit wandten und stattdessen eine Rückkehr zu den künstlerischen Prinzipien und der Ästhetik der Zeit vor Raffael forderten. Sie betonten die Darstellung von Natur und Emotionen, die Verwendung von leuchtenden Farben und die Wiederbelebung von mittelalterlichen und religiösen Themen. Obwohl das Gedicht "Ein Traum so fern" nicht direkt den Präraffaeliten zugeordnet werden kann, gibt es gewisse stilistische Elemente, die eine Verbindung zu dieser Bewegung nahelegen

Darüber hinaus weist das Gedicht für mich -insofern lasse ich mich gerne mal auf deine Reise durch die Epochen ein- auch expressionistische Züge auf, eine literarische und künstlerische Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts, die sich durch die Betonung von inneren Empfindungen, persönlichen Erfahrungen und intensiven Emotionen auszeichnet. Die Verwendung von Inversionen und veredelten Vokabeln verleiht dem Gedicht eine Intensität und emotionale Tiefe, die typisch für den Expressionismus ist. Die Darstellung des Panthers, der mit seiner eigenen Reflexion und den unbekannten Aspekten der Welt konfrontiert ist, könnte als ein Ausdruck der inneren Zerrissenheit und Angst interpretiert werden, die im Expressionismus häufig thematisiert werden.

Das Gedicht zeigt jedoch auch Merkmale anderer literarischer Epochen. Einige Elemente des Gedichts erinnern an die Romantik, eine literarische Bewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich durch die Betonung von Gefühlen, Natur und der Individualität des Menschen auszeichnete. Im Gedicht finden sich romantische Motive wie die Sehnsucht nach Freiheit, die Faszination für die Natur und die innere Zerrissenheit des Protagonisten. Beispiele dafür sind die Beschreibungen der Berge, Wälder, Flüsse und Seen sowie die Darstellung des Panthers, der zwischen seiner gewohnten Gefangenschaft und der überwältigenden Freiheit hin- und hergerissen ist.

Deine Beschreibung des Gedichts als "frühromantischer Spätexpressionismus in symbolistischer Verkleidung" ist eine kreative und treffende Zusammenfassung der verschiedenen Stile und Einflüsse, die in diesem Text zu finden sind. Es zeigt, dass mein Versuch, eine komplexe und vielschichtige literarische Welt als Hommage und Verbeugung für und vor Rilke zu erschaffen, die den Leser sowohl herausfordert als auch verzaubert, möglicherweise nicht völlig verunglückt ist.

Nochmals vielen Dank für deine Gedanken und deine Annäherung an das Gedicht!

mes compliments

Dio
 



 
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