Der Plan der Geißlein

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texxxter

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Es waren einmal sieben kleine Geißlein, die mit ihren Eltern in einem kleinen Haus am Rande des Waldes lebten. Eines Tages mussten die Eltern auf einen Kongress über Ziegenkäse und ließen die Kinder allein zu Haus. Die Mutter warnte noch: "Macht niemandem die Tür auf, es läuft ein böser Wolf im Wald herum!"
Als die Eltern die Tür geschlossen hatten, fingen die Geißlein an zu jubeln, denn sie hatten noch nie sturmfreie Bude gehabt. Das älteste der Kinder, Jonas, übte mit seinem Bruder Tim Judo-Griffe, denn er ging seit ein paar Wochen zum Training. Die anderen schauten sich eine Krimiserie im Fernsehen an. Das jüngste der Geißlein, Phillip, genannt "Fifi" übte Seilspringen. Dafür musste es immer viel Spott von seinen Geschwistern erdulden.
"Du bist so ein Mädchen!", rief Jonas mit hämischem Grinsen über die Schulter. Fifi ließ die Ohren hängen und schmiss das Seil in die Ecke. Fifi war ein zurückhaltendes Geißlein mit langen, blonden Haaren. Er war nicht so selbstbewusst und sportlich wie seine Geschwister.
Später am Tag, die Kinder hatten sich gerade einen Fertig-Heuauflauf gegönnt und saßen satt und zufrieden auf dem Sofa, klopfte es auf einmal an der Tür.
"Jonas, wer kann das sein?", fragte Finn, das zweitjüngste der Kinder ängstlich.
"Ich hab genau so viel Information wie du", erwiderte dieser leicht genervt. Er stand auf und schaute zum Seitenfenster hinaus. "Oh Gott, das ist der große, böse Wolf!", sagte er erschrocken.
"Mama hat gesagt, du sollst uns keine Angst machen!", erwiderte Petra zitternd.
"Dann schau eben selbst,wenn du mir nicht glaubst!", antwortete Jonas.
Die Kinder scharten sich ängstlich ums Fenster. Jonas hatte ihnen die Wahrheit gesagt. Draußen stand kein anderer als der große, böse Wolf.
"Was machen wir jetzt?", fragte Finn panisch.
"Wir verstecken uns", flüsterte Petra.
"Wir tun so, als wären wir nicht da", schlug Fifi vor.
Auf einmal huschte ein Lächeln über Jonas Gesicht. "Oder", sagte er, "und sagt jetzt nicht gleich 'nein', oder aber wir fangen den Wolf".
"Bist du verrückt geworden?", fragte Fifi entrüstet."Wir sind doch nur Kinder und der Wolf ist viel stärker als wir."
"Aber wir sind zu siebt, und außerdem kann ich Judo, und Tim kann es ja jetzt auch ein bisschen, wir haben doch heute geübt", erwiderte Jonas mit einem aufgeregten Lächeln.
"Naja", wandte Tim verlegen ein, "ich halte das trotzdem für keine gute Idee".
"Stellt euch doch mal vor, wir würden den Wolf einfangen", sagte Jonas aufgeregt. "Wir wären Helden ; wir würden in die Zeitung kommen!"
"Das ist der Wahnsinn, das ist eine Schnapsidee", sagte Fifi wütend.
"Wir wissen ja, dass du ein Feigling bist", gab Jonas abfällig zurück.
Fifi ließ den Kopf hängen. Er wusste, dass seine Brüder ihn für zu feige und vorsichtig hielten.
"Also gut", sagte er schließlich, "ich bin dabei". "Aber wir brauchen auf jeden Fall einen Plan", fügte er hinzu.
"Ganz einfach", sagte Jonas, "wir spannen dein Sprungseil über die Türschwelle, der Wolf stolpert darüber, wir stürzen uns auf ihn und fesseln ihn."
"Das könnte funktionieren", antwortete Fifi zweifelnd.
Die Geißlein spannten das Seil fest über die Türschwelle. Dann kauerten sich die jüngeren der sechs Geschwister links und rechts der Türschwelle, so dass der Wolf sie beim Eintreten nicht sehen würde. Jonas hatte heldenhaft beschlossen, den Köder zu spielen. Er öffnete mit zittrigen Händen die Tür.
Als er das gierige Gesicht des Wolfes sah, das gefühlte drei Meter über dem Boden erschien, zog sich ihm der Magen zusammen, doch er nahm all seinen Mut zusammen, streckte dem Raubtier seine Zunge entgegen und sang: "Fress mich doch, du Eierkopf !" Etwas Besseres war ihm in der Aufregung einfach nicht eingefallen.
Der Wolf, wütend über so eine Respektlosigkeit, stürzte sich auf das freche Gör und übersah dabei das Seil. Er fiel fluchend zu Boden.
Mit Gebrüll stürzten sich die anderen sechs Kinder auf ihn, wild entschlossen, ihrem Bruder zu helfen. Doch der Wolf, der für seine sieben Jahre, was etwa 44 Menschenjahren entspricht, sehr sportlich war, reagierte blitzschnell und stand beinahe sofort wieder auf den Beinen.
Ein gehässiges Grinsen spielte um seine Lippen. "Was war das denn für eine Aktion ?", fragte er mit tiefer Stimme.
Die Kinder starrten angsterfüllt zu ihm auf. Keiner wagte, einen Mucks von sich zu geben.
"Antwortet, oder ich fresse euch gleich hier und jetzt", knurrte der Wolf.
"W... Wir wwollten dich fangen", stotterte Jonas schließlich.
Der Wolf warf seinen Kopf zurück und gab ein wieherndes Lachen von sich.
"Euch ist bekannt, wer ich ich bin, oder ?", fragte er grölend. "Ich bin der Schrecken des Waldes, eine wandelnde Kampfmaschine und nebenbei war ich drei mal auf dem Cover des 'Modern Wolfman'. Die besten Jäger des Landes sind seit geraumer Zeit hinter mir her und da glaubt ihr, ich lasse mich von einer Horde Kinder einfangen ?"
Die Geißlein blickten betreten zu Boden.
"Na schön", fuhr er fort, "ihr werdet jetzt den Preis dafür zahlen, dass ihr unbedingt Superhelden spielen wolltet. Ich habe seit gestern Abend nichts gegessen, ich mache nämlich gerade Intervallfasten, was übrigens sehr zu empfehlen ist, aber was rede ich da. Kurz gesagt, ich hab Platz in meinem Magen für euch alle. Wer will denn zuerst drankommen, nur nicht schüchtern sein."
Niclas schluchzte leise.
Da flüsterte Fifi auf einmal schüchtern: "Sehr verehrter Herr Wolf, darf ich Sie vielleicht noch etwas fragen, bevor Sie uns fressen ?"
"Schieß los, Kurzer, ich bin gespannt", erwiderte der Wolf mit einem selbstzufriedenen Zwinkern.
"Ist es wahr, dass Sie der stärkste Mann Mitteleuropas sind? Das erzählt man sich bei uns in der Schule", fuhr das Geißlein mit Ehrerbietung in der Stimme fort.
"Oh, Mitteleuropa ist groß und ich kenne ja nicht alle seine charmanten Bewohner, aber ich halte das auf jeden Fall für möglich, ja sogar für wahrscheinlich", gab der Wolf, offensichtlich geschmeichelt, zurück.
"Darf ich dann fragen, wie viele Liegestützen Sie schaffen?", fragte Fifi mit hoher und aufgeregter Stimme.
"Das, mein Kleiner, kann wirklich nur ein Nichtsportler fragen", antwortete der Wolf mit gutmütigem Spott. "Ich würde natürlich so viele Liegestütze schaffen, wie ich will, nur würde mir dabei schnell langweilig werden."
"Mhm, achso, verstehe, blöde Frage", antwortete Fifi nachdenklich. "Aber... wie viele Liegestütze würden Sie schaffen, wenn ich dabei auf Ihrem Rücken sitzen würde ?"
Der Wolf lachte kurz auf. "Naja, also besonders schwer siehst du ja nicht aus, ich schätze, ich würde immer noch so viele machen können wie ich will."
"Wow!", gab Fifi beeindruckt zurück, "und wie wäre es, wenn Jonas sich auch noch auf Ihren Rücken setzt?"
"Probieren wir es doch einfach aus!", rief der Wolf.
In ihm war der Ehrgeiz erwacht. Er ging hinunter auf alle Viere, und ließ Fifi und Jonas auf seinem Rücken Platz nehmen.
Dann fing er an, Liegestütze zu machen. Nachdem er ohne größere Schwierigkeiten fünfzig Wiederholungen absolviert hatte, sagte er triumphierend: "Seht ihr, ich habe es euch doch gleich gesagt, dass das keine große Herausforderung für mich ist", prahlte er.
"Unglaublich", sagte Fifi eifrig, "Sie sind noch viel stärker, als ich es mir je vorgestellt hätte und wir wollen Sie ja nicht langweilen, also hätten Sie was dagegen, wenn Niclas sich auch noch auf Ihren Rücken setzt ?"
"Also gut, wenn ihr immer noch nicht genug gesehen habt", erwiderte der Wolf, und schaffte es gleichzeitig genervt und geschmeichelt auszusehen, "dann hab ich mir das Festmahl nachher wenigsten verdient."
Niclas sprang auf den Rücken des Wolfes und dieser begann erneut, Liegestützen zu machen.
Diesmal fiel es ihm aber nicht ganz so leicht. Nach dreißig Wiederholungen kam er sichtbar ins Schwitzen. Nach fünfzig Wiederholungen war er am Ende seiner Kräfte.
"... zweiundfünfzig, dreiundfünfzig, und viiierundfünzig", schnaubte er und sank dann völlig erschöpft zu Boden.
"Schnell, setzt euch auf ihn!!", rief Fifi aufgeregt seinen Geschwistern zu.
Die hatten nun Fifis raffinierten Plan verstanden und setzten sich blitzschnell auf den Rücken und die Beine des Wolfes.
"Verdammt nochmal, habt ihr den Verstand verloren?", schrie der Wolf wütend "geht sofort runter von mir!"
"Vergiss es!", antwortete Fifi mit triumphierender Stimme. "Deine Eitelkeit hat dich im wahrsten Sinne des Wortes zu Fall gebracht", fügte er altklug hinzu."Petra, schnell, hol den Jäger, aber beeil dich, ich weiß nicht wie lange wir den Wolf noch festhalten können". So schnell sie nur konnte, stürmte Petra los, um den Jäger zu suchen. Doch sie fand ihn nirgendwo. Sie war am Verzweifeln und fürchtete, dass der Wolf ihre Geschwister schon gefressen haben könnte, bevor sie zurückkam. Schließlich, nach über einer Stunde, fand sie den Jäger, der unter einem Baum döste. In seiner Hand hielt er eine leere Weinflasche.
"Schnell, Herr Jäger, wir brauchen Ihre Hilfe, wir haben den großen, bösen Wolf gefangen!", rief sie hektisch. Der Jäger glaubte zuerst an einen Kinderstreich, aber nur zur Sicherheit folgte er Petra. Er hatte zwar fürchterliche Kopfschmerzen, doch er fürchtete, hinterher verklagt zu werden, falls an der Sache doch was dran war. Als der Jäger die Tür zum Haus öffnete, traute er seinen Augen kaum; Der große, böse Wolf, den er seit Jahren vergeblich zu fangen versucht hatte, lag besiegt auf seinem Bauch. Seine Hände waren mit Fifis Springseil hinter seinem Rücken zusammengebunden. Und rittlings auf ihm saßen sechs kleine Geißlein und schauten mit stolzen Gesichtern zu ihm auf.
"Da kann ich nur sagen, guter Fang, Kinder!" sagte der Jäger beeindruckt.
Die Kinder strahlten ihn mit stolzen Gesichtern an.
"Dann wollen wird doch mal sehen, ob im Zoo noch ein Käfig für ihn frei ist!" lachte der Jäger. Auch die Geißlein lachten froh. Nur der Wolf knurrte wütend.
Am nächsten Tag fand ein großes Fest statt. Der gefesselte Wolf wurde auf einem mit bunten Luftballons geschmückten Holzkarren durch die Stadt Richtung Zoo transportiert.
Jonas und Fifi saßen mit stolzgeschwellter Brust auf seinem Rücken und grüßten in die Menge. Die restlichen Geißlein zogen den Karren. Der Jäger hielt sich im Hintergrund. Er wollte den Geißlein ihren wohlverdienten Triumph ganz allein überlassen. Alle Kinder des Ortes waren gekommen, um den kleinen Geißlein zuzujubeln und dem ehemals so gefürchteten und nun unschädlich gemachten Wolf die Zunge rauszustrecken. Der böse Wolf, der gefesselt auf seinem Bauch lag, kochte vor Wut. Er konnte nicht fassen, dass er nun nur wegen einer Bande frecher Kinder den Rest seines Lebens hinter Gitter verbringen würde.
"Hoch lebe Fifi, hoch lebe Fifi!, riefen sie ihnen zu, denn die Nachricht von Fifis raffiniertem Plan hatte blitzschnell die Runde gemacht.
Jonas legte stolz den Arm um seinen kleinen Bruder und flüsterte ihm zu: "Du bist genial, Kurzer. Auf so einen Plan wäre ich nie gekommen
 

petrasmiles

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Wirklich flott geschrieben - aber doch eher eine Kindergeschichte.
Ob das so gut ist, wenn alles politisch korrekt ist und der Wolf nicht frisst, und nicht getötet wird? Dafür der Zoo für 'hinter Gitter' ausgewiesen wird?
So ist die Welt nicht, schon mal gar nicht für Wölfe und Zicklein.
Aber launig, immerhin.

Liebe Grüße
Petra
 

texxxter

Mitglied
Hey Petra

Ja, eine politisch korrekte Geschichte wollte ich nicht wirklich schreiben. Nur das Märchen ein bisschen modernisieren. Aber ein bisschen Schadenfreude sollen die Kinder auch haben dürfen und dazu gehört halt auch die Bestrafung des Bösewichts.

Gruß
texxxter
 

schreibs

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Sehr ansprechend geschrieben. Musste richtig mit fiebern und habe mich aus irgendeinem Grund mit dem Wolf identifiziert. Schade dass er am Ende verloren hat. Aber so ist es nun mal im Märchen. Ich halte den Text für eine gelungene, moderne Fassung des Märchenklassikers.
 

texxxter

Mitglied
Hallo Schreibs

Freut mich sehr, dass dir die Geschichte zusagt. Ja, ich wollte, dass der Wolf nicht nur "böse" sondern auch unterhaltend und witzig ist. Ich wollte dieses doch recht düstere, grausame und moralinsaure Märchen ein bisschen auflockern und modernisieren, so dass auch die heutigen Kinder und vielleicht auch Erwachsenen ihren Spaß beim Lesen haben. Danke für deine Rückmeldung, hat mich sehr gefreut.

Grüße
texxxter
 
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