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„Es ist wohl sehr stark“, sage ich zum Professor, der mir gegenüber sitzt.
„Nehmen wir es?“, fragt er und meint damit: „Nehmen wir es jetzt?“
„Ich weiß nicht“, sage ich, „normalerweise habe ich ja immer gerne jemanden dabei, der klar bleibt, wenn ich so was probiere.“
„Ich bleibe schon klar“, sagt der Professor, „auch wenn ich es nehme.“
Dann legt er sich die kleine beige Pille auf die Zunge.
„Das sagst du immer“, sage ich und lege meine kleine beige Pille auf meine Zunge.
Dann beginnt unser Abenteuer.
„Im Schatten der großen Hochhäuser hat sich wohl zunächst unbemerkt ein Geschwür gebildet, das sich dann, Stockwerk um Stockwerk in den Himmel wachsend, vollgesogen und dabei menschliches Elend Tropfen für Tropfen und dann Liter für Liter in klebrigen Eiter umgeschaffen hat, bis es irgendwann so prall, so folgenschwanger geborsten ist und sich über all die Menschen ergossen hat, die von unten nach oben schauten“, sagt der Professor nach einer Weile und dann sinnend:
„Ist es nicht furchtbar traurig, dass man sowas nicht auch mal selber erlebt, so was Großes, so was Extraterrestrisches. Mir passieren nie solche Dinge.“
Ich weiß nicht so recht, was ich darauf antworten soll und sage darum:
„Wenn Meerestiere lumineszieren, dann wissen sie ja gar nicht, dass sie selbst Quelle des Lichtes sind. Sie müssen geradezu voraussetzen, dass die gesamte Welt vollständig beleuchtet ist. Dabei sind sie ganz alleine im tiefen dunklen Meer und ihre Sinne reichen einfach nicht über ihren kleinen Lichtkegel hinaus, das finde ich traurig“, sage ich, „das muss man sich mal vorstellen.“
Eine Weile ist es still.
Dann erst fällt mir auf, dass der Professor weint.
Dicke Tränen rinnen aus seinen Augenwinkeln.
„Weinst du?“, frage ich ihn und er antwortet schluchzend:
„Natürlich weine ich. Wie sollte ich denn auch nicht, wenn du so traurige Sachen erzählst, schließlich bin ich ja ein fühlendes Wesen, ein kleiner Mensch mit einer kleinen Seele.“
„Es tut mir leid“, sage ich, „aber du hast damit angefangen, mit dem Eiter, der sich über die Menschen ergießt...“
„Dass man nie selbst so was erlebt, das habe ich gesagt, der Eiter war gar nicht so wichtig“, antwortet er schluchzend und obwohl er sonst eine sehr laute und um Aufmerksamkeit heischende Stimme hat, flüstert er jetzt fast.
Ich muss ihn auf andere Gedanken bringen, denke ich, mit irgendetwas ablenken, und da mir nichts besseres einfällt, gebe ich ihm kurzentschlossen eine schallende Ohrfeige.
Sofort ist er still und starrt mich mit geradezu panischen Augen an, sagt aber nichts und er hat aufgehört zu weinen.
„Tut mir leid“, sage ich, „das wollte ich nicht.“
Noch immer ist er vollkommen still, betrachtet mich voller Furcht.
„Ich hab halt gedacht, dass dich das irgendwie ablenkt, also dass...“
„Du hast mich geschlagen“, unterbricht mich der Professor und seine Stimme ist voller Panik, er atmet keuchend und schaut sich immer wieder um, so als wäre das Wohnzimmer voll verborgener Bedrohungen.
„Du hast mir mit der Hand ins Gesicht geschlagen“, sagt er ängstlich.
Damit steht er auf und verschwindet mit schnellen Schritten in Richtung Badezimmer.
Als er den Raum verlässt, wird es dunkler, nicht vollständig, lediglich ein kleines bisschen, so wie wenn eine nicht allzu dichte Wolke sich vor die Sonne geschoben hat. Ich trete auf den Balkon und blicke in den wolkenlosen Himmel, dann hinunter über die Stadt, bewundere all die Farben und denke, dass es ein unglaubliches Wunder ist, dass all die Menschen, die dort unten vorbeigehen, unterschiedliche Kleidung tragen. Kein Kleidungsstück ist wie das andere, denke ich und wundere mich über meine Sehkraft, mit der ich so mühelos alles Ferne zu mir heranholen kann, kleine Details fallen mir auf, wie sich zum Beispiel das Sonnenlicht in den Bartstoppeln eines Passanten bricht oder die unterschiedlichen Farben in einem Kaugummi, der auf dem Pflaster klebt, ich bin so nah und zugleich so fern, denke ich und wenn ich mich wirklich anstrenge, kann ich vielleicht sogar in die Köpfe der Menschen hineingucken. Gerade kommt jemand von links nach rechts vorbei und ich starre auf den Kopf, durch die Haare hindurch bis in das Gehirn und staune über all die Milliarden und Abermilliarden flackernder Synapsen, „das ist so schön“, flüstere ich, „so außergewöhnlich schön. In jedem Kopf ist ein ganzes Universum verborgen.“
„Schau mal da“, sagt der Professor, der sich unbemerkt genähert hat und weist mit der Hand in die Ferne und jetzt kann ich es auch sehen, ein winziger Polizeiwagen, der wie ein Spielzeug mit Blaulicht durch die Stadt rast. So ein kleiner Wagen, denke ich, und so eine große Stadt.
„Wo er wohl hinfährt?“, frage ich und denke dann, dass irgendwo bestimmt irgendetwas Schlimmes passiert ist, ein wütender Ehemann, der seine Frau geschlagen hat, Einbrecher, die auf frischer Tat ertappt mit einem Messer zugestochen haben.
„Die Welt kann ja ein so furchtbarer Ort sein“, sage ich zum Professor und betrachte dabei, wie der Polizeiwagen sich nähert. Inzwischen kann man sogar die Sirene hören.
„Nicht?“, frage ich, „die Welt kann doch echt manchmal ein schlimmer Ort sein.“
Ich blicke mich um, weil der Professor nicht antwortet.
„Alles klar?“, frage ich.
„Es tut mir leid“, sagt er plötzlich, „ich glaube, dass ich einen furchtbaren Fehler gemacht habe.“
„Das ist schon gut“, antworte ich, weil Fehler ja menschlich sind, „das ist alles nicht so schlimm“, weil mich der Polizeiwagen viel mehr interessiert, der nun tatsächlich in unsere Straße abbiegt. Die Lichter blinken so lustig.
„Ich hatte eben solche Angst“, sagt der Professor und erst als der Polizeiwagen hält, zwei Beamte aussteigen und zu uns nach oben blicken, begreife ich:
„Du hast nicht wirklich die Bullen gerufen?“, frage ich den Professor, der ganz schuldbewusst in eine andere Richtung blickt und nichts zu sagen braucht, damit ich verstehe.
Meine Beine werden ganz schwach, „ernsthaft, du hast die Bullen gerufen!“, frage ich, dann klingelt es an der Tür.
„Wir machen einfach nicht auf“, sagt der Professor, der sich hinter der Couch versteckt hat.
„Dann denken die, dass niemand zuhause ist.“
„Was hast du ihnen denn erzählt?“
„Eigentlich nichts“, sagt der Professor und dann, sehr viel leiser:
„Nichts als die Wahrheit.“
Wieder klingelt es und zum ersten Mal fällt mir auf, wie unangenehm und wie laut dieser Ton ist.
„Ich muss denen aufmachen“, sage ich und gehe langsam in Richtung der Tür.
„Ja, hallo“, frage ich durch die Gegensprechanlage.
„Polizei“, antwortet die Gegensprechanlage, „wir haben einen Anruf bekommen, dass es hier wohl zu häuslicher Gewalt gekommen sei.“
Der Professor lacht an dieser Stelle laut im Hintergrund, wiehert geradezu wie ein Pferd.
„Ach das“, sage ich möglichst laut, um das Lachen zu übertönen,
„das war wohl jemand, der ein wenig zu viel getrunken hat.“
„Ich habe gar nicht getrunken“, ruft der Professor im Hintergrund:
„Nichts habe ich getrunken.“
„Wir würden uns gerne selbst einmal ein Bild der Situation machen“, antwortet der Beamte.
„Öffnen Sie doch bitte die Tür.“
Ich zögere. Noch scheint es mir zumindest so, als ließe sich die Situation kontrollieren.
„Ich kläre das“, sagt der Professor, der in diesem Moment hinter dem Sofa hervor- und zu mir hinüberkommt, und bevor ich etwas tun kann, den Türöffner betätigt. Man hört das Summen im Treppenhaus, dann die Tür, die sich öffnet und dann schwere Schritte auf den Stufen.
„Sie kommen“, flüstere ich, „sie kommen“ und weiche ein paar Schritte in die Wohnung zurück.
„Ich begrüße Sie an unserer Tür“, sagt der Professor sehr freundlich, als die zwei Beamten schließlich vor uns im Flur stehen, „auch wenn es mir leid tut, dass Sie den mutmaßlich weiten Weg umsonst gekommen sind.“
Er macht das gut, denke ich, vielleicht vermag er es, uns zu retten.
„Haben Sie den Notruf gewählt?“, fragt der Polizist, der einen kleinen aber sehr gepflegten Schnurrbart trägt, und versucht dabei am Professor vorbei in die Wohnung zu blicken.
„Ja“, sagt der Professor und tritt einen Schritt beiseite,
„weil dieser junge Mann hier mir mit der Hand ins Gesicht geschlagen hat.“
Dabei zeigt er auf mich. Beide Beamte blicken nun zu mir.
„Es tut mir sehr leid“, sage ich, „das ist so im Affekt passiert. Ich wollte ihm nicht wehtun. Wir sind alte Freunde.“
Meine Beine sind ganz weich und als ich hinunter auf meine Schuhe blicke, habe ich das Gefühl, dass sie mit dem Boden verschmelzen, dass ich mich auflöse, dass ich von dem weichen Teppichboden aufgesogen werde, wenn ich noch länger so auf der Stelle stehe. Nervös trete ich von einem Fuß auf den anderen, versuche mich auf etwas anderes zu konzentrieren und betrachte den kleinen Schnurrbart, der sich bei jedem Wort bewegt.
Fast könnte man meinen, dass er tanzt.
„Wohnen Sie hier?“, fragt mich der Polizist mit einer sehr vorwurfsvollen Stimme.
„Ja“, antworte ich sehr schuldbewusst, „ich wohne hier.“
„Und Sie?“, fragt er den Professor.
„Ich bin nur zu Besuch“, antwortet dieser.
„Ist sonst noch jemand in der Wohnung?“, fragt der Polizist.
„Nein“, sagen ich und der Professor gleichzeitig.
„Sonst ist niemand da“, ergänzt der Professor.
Ich muss lachen, weil das so redundant ist und verstumme abrupt, als ich merke, dass ich der einzige bin, der lacht, ich muss mich auf den Schnurrbart konzentrieren, denke ich. Sonst ist alles verloren. Eine Weile lang ist es still. Beide mustern uns.
„Haben Sie vielleicht...?“, fragt der Polizist.
„Nein, haben wir nicht“, antwortet der Professor.
„Haben nicht was?“, fragt der Polizist.
„Drogen genommen“, ergänzt der Professor und hält dem Blick des Beamten stand.
„So etwas machen wir nicht, weil es gegen das Gesetz ist. Wir würden uns ja strafbar machen.“
„Der Notruf“, erklärt der Polizist, „ist ausschließlich für Notfälle. Es ist durchaus möglich, dass Sie die Kosten dieses Einsatzes tragen müssen. Gegebenenfalls erhalten Sie noch einmal ein Schreiben von uns, in dem Sie aufgefordert werden, sich zu dem Sachverhalt zu äußern.“
„Das ist gut“, sage ich vielleicht etwas schnell von hinten, weil es ein wenig wie ein Abschied klingt.
„Das ist nicht gut“, sagt der Professor und baut sich zu voller Größe auf.
„Man soll doch den Notruf wählen, wenn man das subjektive Empfinden hat, dass man sich in einer Gefahrenlage befindet. Eben dieses Gefühl hatte ich, da, so habe es Ihnen ja dargestellt, dieser junge Mann hier – er weist auf mich – mir mit der Hand ins Gesicht geschlagen hat. Glücklicherweise hat sich die Situation beruhigt, mir tut es leid, dass Sie umsonst gekommen sind, aber das hat ja auch seine guten Seiten. Die Situation hat sich gewissermaßen von selbst aufgelöst, ich möchte keine Anzeige erstatten. Mir ist nicht ganz klar, warum ich die Kosten dieses Einsatzes tragen soll. Ich habe ja alles richtig gemacht.“
„Lass uns gehen“, sagt der andere Polizist, der bislang geschwiegen hat.
„Das macht doch alles gar keinen Sinn.“
„Keinen Sinn“, sagt der Professor und ich merke seiner Stimme an, dass er nun wütend wird,
„wie kann das keinen Sinn machen, wo ich es Ihnen doch gerade Schritt für Schritt erklärt habe?“
„Wenn die Krähen nachts schweigen“, sagt der Professor drohend, „dann wird es vielleicht niemals wieder hell.“
Wieder ist es einen Moment still. Man kann das Atmen im Treppenhaus hören und wenn man nur ganz genau hinschaut, kann man sogar die Töne sehen, die aus den Mündern gegen die Wand gleiten, zurückgeworfen werden, sich verwirbeln, so dass man nie sicher sein kann, ob die Mundbewegung, die man sieht, wirklich zu dem Geräusch passt, das man gehört hat. Alles ist irgendwie durcheinandergekommen und auch der Schnurrbart hat aufgehört zu tanzen.
„Wollen Sie uns drohen?“, fragt der Polizist, während sich seine Hand langsam zu seinem Gürtel bewegt.
„Nein“, sagt der Professor,
„ich wollte nur ein Beispiel für etwas geben, das wirklich keinen Sinn macht.“
„Lass uns gehen“, sagt der andere Polizist noch einmal und über die Schulter des Professors hinweg kann ich in den Kopf des Polizisten schauen und sehen, wie er sich vorstellt, nach vorne zu stürmen und den Professor mit einem Hebelwurf auf den Boden zu befördern, ihm die Hände auf den Rücken zu drehen und diese dabei ein Stück weiter als notwendig nach hinten zu drücken, damit es auch wirklich weh tut.
„Bitte tun Sie meinem Freund nicht weh“, sage ich zu den Polizisten und ziehe den Professor an der Schulter sanft in die Wohnung zurück, „es tut mir leid, dass wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet haben und ich gelobe, dass ich aufpassen werde, dass mein Freund hier nicht noch einmal den Notruf betätigt. Sollten wir dennoch ein Schreiben von Ihnen erhalten, stellen wir den Sachverhalt auch gerne noch einmal umfangreicher dar“, sage ich, „darin sind wir gut.“
Ich bin richtig glücklich, dass das auf einmal die richtigen Worte sind, die nur so hervorsprudeln.
Zur Sicherheit schaue ich noch einmal in den Kopf des Polizisten und sehe, dass meine Worte Wirkung haben, dass er sich wieder entspannt und diesen Moment nutze ich, um mit heldenhaftem Mut die Situation zu beenden, ziehe den Professor weiter zurück, verneige mich mit dem Kopf, so wie sich die Yakuza in japanischen Filmen vor ihrem Herrn verneigen und schließe mit den Worten „auf Wiedersehen“ die Tür direkt vor der Nase des Polizisten.
Regungslos verharren wir und lauschen durch das dünne Holz der Tür.
Man kann die Beiden im Flur atmen hören.
„Die sind doch total verrückt“, sagt einer von ihnen.
„Hast du die Augen von dem einen gesehen?“
Dann endlich hört man Schritte, die sich langsam durch das Treppenhaus nach unten bewegen.
Erst nach einigen Minuten trauen wir uns wieder uns zu bewegen.
„Siehst du“, sagt der Professor viel zu laut.
„Man muss nur richtig mit denen reden.“
„Bitte mach so was nie wieder“, sage ich zu dem Professor, als wir wieder auf der Couch sitzen.
„Das war wohl eine der dümmsten Aktionen, die ich je erlebt habe.“
„Ich habe mich halt bedroht gefühlt“, sagt der Professor und dann leiser:
„Eigentlich habe ich ja nichts falsch gemacht.“
Der Schrecken über diesen plötzlichen Besuch hat uns beide angestrengt. Auf einmal wird mein Kopf sehr schwer und weil ich mehr und mehr Angst habe, dass er zur Seite rutscht und dabei meinen Hals abknickt, stütze ich ihn mit den Ellenbogen auf den Tisch, was eine ungemein komfortable Position ist, sofort fühle ich mich wohler, fühle mich verwandt mit all jenen, die durch die Zeit hindurch wie ich ihren Kopf mit den Ellenbogen abgestützt haben, diesen Moment gefühlt haben, in dem man endlich die richtige Position gefunden hat und weil es sich so richtig anfühlt, schließe ich die Augen und betrachte zur Entspannung ein wenig die Innenseite meiner Augenlider, all die rötlichen Farben, die in der Dunkelheit verborgen sind und die immer ein klein wenig heller strahlen, wenn man mit den Gedanken über sie streicht.
„Das ist übrigens Atreju“, sagt der Professor nach einer Weile völlig unvermittelt, „Atreju aus der unendlichen Geschichte. Ist das nicht ein unglaublicher Zufall, dass wir gerade ihn hier treffen?“
„Das ist so ein Unsinn“, sage ich und will meine Augen nicht öffnen, weil es so gut tut, einfach einmal nichts zu tun.
„Atreju sucht Verbündete für den Kampf gegen das Nichts“, sagt der Professor, „und ich habe schon gesagt, dass ich dies für ein ehrenwertes Motiv halte.“
„Das Nicht droht alles zu verschlingen“, sagt plötzlich eine Kinderstimme und als ich erschrocken die Augen aufreiße, sitzt Atreju neben dem Professor auf dem Sofa.
Er hat lange schwarze Haare und ist nur mit einem Lendenschurz bekleidet.
„Das ist krank“, sage ich zum Professor,
„da sitzt ein halbnacktes Kind auf meinem Sofa.“
„Das ist doch nur der Atreju“, sagt der Professor und dann:
„Du musst das alles einfach auf dich wirken lassen und nicht fortwährend versuchen alles mit deiner kleinen Ratio zu bewerten. Lass dich einfach treiben.“
„Ich mag dich nicht“, sagt Atreju und macht eine obszöne Handbewegung. Damit steht er auf und geht hinaus auf den Balkon und auf einmal ertönt ein leises Klingeln, so als ob unzählige kleine Glöckchen aneinander vorbeireiben. So ein schönes Geräusch, denke ich.
Dann ist es still.
„Wir hätten mit dem Glücksdrachen reiten können“, sagt der Professor und starrt auf einmal an mir vorbei auf ein Bild an der Wand, „aber vielleicht“, seine Stimme wird dabei immer langsamer, „machen... wir... das... ein... anderes Mal.“
Die letzten beiden Worte spricht er sehr schnell hintereinander.
„Warum redest du so?“
„Ich glaube“, sagt der Professor,
„ich glaube, dass die Pille jetzt zu wirken beginnt.“
Endlich fährt die Achterbahn nach oben, Meter um Meter auf die Spitze zu, hinter der es erst ein gutes Stück nach unten und dann durch den Riesenlooping geht.
„Ist das nicht unglaublich“, rufe ich dem Professor zu, „dass wir Plätze ganz vorne bekommen haben.“
„Ich mag Achterbahnen gar nicht so sehr“, ruft der Professor zurück und sieht dabei irgendwie unglücklich aus. „Ich wäre lieber mit dem Glücksdrachen geritten.“
„Du musst dich treiben lassen“, rufe ich,
„ist doch egal, ob wir heute oder an einem anderen Tag sterben.“
Höher und höher geht es hinauf, inzwischen haben wir fast die Spitze erreicht.
„Ich hab kein so gutes Gefühl dabei“, sagt der Professor leise und rauft sich dabei die Haare, was er sonst nur in Momenten größter Aufregung tut.
Seine Stimme klingt so ernst, dass ich lachen muss. Da unten ist doch ohnehin alles weich. Kann er denn die Zuckerwatte nicht riechen?
„Ich weiß gar nicht, wie wir hier hingekommen sind“, sagt der Professor.
„Eben waren wir ja noch in deiner Wohnung“, sagt er und dann:
„Und ich glaube mich auch zu erinnern, dass wir das Sofa auf den Balkon getragen haben.“
„Das ist doch alles Quatsch“, sage ich, „riechst du denn nicht die Zuckerwatte? Wo gibt es denn bitte sonst Zuckerwatte, wenn nicht auf den Jahrmarkt? Und wo stehen gemeinhin Achterbahnen?“, frage ich und antworte direkt selber: „Na, auf dem Jahrmarkt.“
Ganz nah sind wir jetzt an der Kante, doch irgendetwas stimmt nicht, der Wagen bleibt einfach stehen. Wir hängen fest.
„Du hast es kaputtgemacht“, sage ich zum Professor, „durch deine elenden Zweifel hast du es kaputtgemacht. Eben ist es noch ganz problemlos gefahren.“
„Ich hab gar nichts gemacht“, ruft der Professor.
Und dann habe ich eine Idee: Wenn ich jetzt aussteige und dann breitbeinig über die Schienen hinunterlaufe, müsste ich auch ohne Wagen schnell genug werden, um es durch den Looping zu schaffen.“
„Wir könnten auch laufen“, sage ich zum Professor und öffne den Sicherheitsbügel, um aus der Achterbahn zu steigen.
„Warte“, sagt der Professor und erzählt dann ganz unvermittelt:
„Es war einmal ein kleines Reh, das in der Nähe eines Abgrunds wohnte.“
„Wie hieß das Reh?“, frage ich den Professor und vergesse für einen Moment die Achterbahn.
„Das Reh hieß Simon“, sagt der Professor.
„Der Name gefällt mir nicht“, unterbreche ich ihn.
„Dann hieß das Reh eben Sokrates. Sokrates, der Kleinere.“
„Das ist ein guter Name für ein Reh“, antworte ich, „ein Reh braucht einen guten Beinamen.“
„Eine Morgens fraß also das Reh Sokrates, der Kleinere, auf einer Wiese aus Versehen ein paar Pilze, die über Nacht dort gewachsen waren. Da das Reh, Sokrates, der Kleinere“,
hier muss ich lachen, weil der Name so gut passt,
„hör zu“, sagt der Professor,
„da Rehe Pilze nicht vertragen, wurde ihm ganz übel und auf einmal sah es Dinge, die gar nicht da waren. Der Abgrund, vor dem es sich immer gehütet hatte, erschien ihm auf einmal wie ein See, in dem es gerne baden wollte.“
„Oh nein“, sage ich, „er wird in den Abgrund stürzen.“
Sokrates, der Kleine, war in großer Gefahr“, sagt der Professor und schweigt.
„Und“, frage ich nach einer Weile, weil ich die Spannung nicht aushalten kann.
„Was ist mit ihm passiert? Hat er rechtzeitig erkannt, dass der See ein Abgrund ist?“
Wieder schweigt der Professor und sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht verstehe.
„Wir sind das Reh“, sagt der Professor, „wir schreiben diese Geschichte.“
Und plötzlich begreife ich, dass es nur unser Gewicht ist, welches das Sofa in diesem Moment davon abhält, gemeinsam mit uns über die Balustrade zu rutschen und vier Stockwerke tiefer dort unten zumindest zwei oder drei Passanten zu erschlagen. Wir sind in großer Gefahr.
Vorsichtig klettere ich von der Brüstung zurück, vor der ich auf einmal Angst habe. Manche Abgründe haben einen so starken Sog, dass sie einen immer noch überwältigen können, selbst wenn man sie erkannt hat.
Dann sitze ich eine Weile regungslos dort und warte bis der Schreck verschwunden ist.
„Sollen wir das Sofa wieder reintragen?“, frage ich den Professor, als es mir besser geht, doch er ist eingeschlafen, hat sich ganz am Ende des Sofas eingerollt und liegt dort wie in einer kleinen Höhle. Mit seinem bloßen Gewicht und mit seiner Geschichte hat er unser Leben gerettet, denke ich, und bin voller Dankbarkeit, als ich mit Riesenkräften das Sofa wieder in die Wohnung zerre.
Dann hole ich eine Decke, damit dem Professor nicht kalt wird.
„Jetzt ist es eine richtige Höhle“, sage ich voller Zärtlichkeit zu ihm, als ich die Decke über ihm ausbreite. Dann zieht es mich auf einmal in die Küche, weil ich eine Idee habe, wie man aus einfachem Zucker Zuckerwatte machen kann.
Als der Professor erwacht, ist es bereits dunkel. Ich habe mich auf den Boden des Balkons gelegt und betrachte die Sterne, die immer wieder für ein paar Momente zwischen all den Wolken sichtbar sind. Irgendwie ist es traurig, dass sie so weit weg sind, dass ihr Licht länger als ein Menschenleben braucht, um uns zu erreichen. Das kann einen richtig melancholisch machen.
„Das war mein Kreislauf“, sagt der Professor und setzt sich zu mir auf den Balkonboden.
„Siehst du das Riesenrad?“, frage ich und weise auf die bunten Lichter, die in der Ferne leuchten,
„Ich war mir so sicher, dass das ein Looping ist“, sage ich und reiche ihm eines meiner Essstäbchen, die mit Zuckerwatte umwickelt sind.
„Möchtest du etwas Zuckerwatte?“
„Wo hast du die denn her?“
„Ach“, antworte ich, „ich habe eine Anleitung im Internet gefunden. Die nennen so was Lifehack.“
„Erstaunlich“, sagt der Professor und betrachtet die Zuckerwatte eine ganze Weile lang, bevor er sie probiert.
„Es war letztendlich komplizierter als gedacht“, sage ich, „ich brauchte eine ganze Menge an Bauteilen und es hat auch eine Weile lang gedauert.“
„Wie lang habe ich geschlafen?“, fragt der Professor und probiert die Zuckerwatte.
„Sechs oder sieben Stunden, denke ich“, sage ich, „Ich habe sehr konzentriert gearbeitet. Alleine das Auseinanderbauen der Bohrmaschine hat bestimmt eine gute Stunde gedauert.“
„Lecker“, sagt der Professor, „schmeckt wie Zuckerwatte.“
„Meinst du die Pille wirkt noch?“, frage ich, als ich auf einmal wieder die kleinen Glöckchen höre, unzählige kleine Glöckchen.
„Hörst du das?“, frage ich den Professor, der langsam nickt: „Ja“, sagt er: „Irgendwo spielt jemand wohl eine Oboe.“
Und dann: „Wenn wir Frösche wären, könnten wir in diesem Takt von Seerosenblatt zu Seerosenblatt springen.“
„Das meine ich nicht“, sage ich, „ich meine diese vielen kleinen Glöckchen.“
„Der Professor hat recht“, sagt in diesem Moment Atreju,
„das Nichts breitet sich noch immer aus.“
„Aber das hat er gar nicht gesagt“, sage ich zu Atreju,
„er meinte doch, dass er gerne von Seerosenblatt zu Seerosenblatt springen möchte.“
„Das war doch eine Metapher“, sagt der Professor nun sehr ernst.
„Es ist doch offensichtlich, dass zwischen den Seerosenblättern das Nichts ist.“
„Der Professor hat recht“, sagt Atreju noch einmal und dann weist er mit der Hand in Richtung des Horizontes, „was siehst du?“, fragt mich Atreju und da ich genau dort, wohin er zeigt, nichts Besonderes erkennen kann, antworte ich „nichts“ und begreife in diesem Moment:
Das Nichts ist bereits bis an die Stadtränder vorgerückt und droht die gesamte Stadt zu verschlingen.
„Warum hast du nicht vorher schon etwas gesagt?“, frage ich den Professor, weil es mir nicht gefällt, dass er und Atreju Geheimnisse haben.
„Wir könnten ein Orakel bauen“, sage ich zum Professor, „so könnten wir uns erst einmal einen Überblick über die Situation verschaffen.“
Und dann, zu Atreju: „Und musst du nicht längst im Bett sein?“
„Lass doch den Atreju in Ruhe“, sagt der Professor, doch man merkt seinem Blick an, dass er gedanklich mit etwas ganz anderem beschäftigt ist:
„Diese Pillen, die wir genommen haben, du meintest ganz am Anfang, dass man nicht zu viel davon nehmen darf, weil sie stark seien.“
Ich nicke langsam, weil ich ahne, worauf er hinaus will.
„Wir haben bislang aber nur eine davon genommen“, ergänzt er und klingt dabei ein wenig so, als würde er einen Vortrag halten.
„Wenn dir der junge Mann geraten hat, nicht zu viel zu nehmen, hast du wohl mehr als zwei gekauft?“
Ich nicke langsam.
„Ja“, sage ich, „ich habe zehn gekauft, weil ich ja nicht wusste, ob sie wirklich stark sind. Alle sagen ja immer, dass etwas besonders stark sei, du kennst das.“
„Dann haben wir ja noch acht“, sagt der Professor und lächelt dabei erfreut, „und da ich ja meinte, dass ich klar bleibe, rate ich uns, dass wir auf keinen Fall alle acht auf einmal nehmen sollten.“
„Ich weiß nicht“, sage ich, „ich habe das Gefühl, dass du das alles nur sagst, um jetzt noch eine von den Pillen zu nehmen.“
„Da kennt mich aber jemand gut“, sagt der Professor und lacht.
„Ich mag dich nicht“, sagt Atreju zu mir, „aber du bist lustig.“
„Dieser Atreju geht mir ziemlich auf die Nerven“, sage ich zum Professor.
„Ich traue ihm nicht, weil er diese Gesichtsfalte hat, an der man in den Filmen immer die Bösen erkennt.“
„Gib ihm doch einfach etwas von deiner Zuckerwatte“, sagt der Professor.
Ich zögere, weil ich nur noch vier Stäbchen habe, doch dann reiche ich Atreju eine Zuckerwatte.
„Und?“, frage ich, nachdem er vorsichtig probiert hat.
„Es ist sehr süß“, sagt Atreju, „aber ich glaube, dass ich es mag.“
„Du darfst nicht zu viel davon essen“, sage ich zu ihm, „sonst bekommst du Bauchschmerzen.“
„Und?“, fragt der Professor, der noch immer auf eine Antwort wartet:
„Nehmen wir noch eine?“
„Ich weiß nicht“, sage ich, „ich meine, wir haben ja schon einiges erlebt und jetzt grade fühle ich mich ein wenig klarer, selbst mit Atreju komme ich jetzt irgendwie zurecht.
„Das ist aber erst der Anfang“, sagt Atreju, „wenn ihr euer Abenteuer jetzt beendet, wird das Nichts alles verschlingen. Das Schicksal der gesamten Welt liegt in euren Händen.“
„Siehst du?“, sagt der Professor,
„ich weiß nicht“, sage ich,
„vielleicht sollten wir noch ein wenig warten?“
„Warum warten“, fragt Atreju, „die Zeit ist doch relativ. Eigentlich kann man ja gar nichts über sie sagen, außer eben, dass sie fortlaufend ist.“
„Ich denke, dass wir hier transzendentalen Beistand brauchen“, sagt der Professor zu mir, „du hattest von Anfang an recht: Wir müssen ein Orakel bauen.“
Während wir das Orakel bauen, verstreicht die Nacht. Obwohl wir uns einig waren, das Orakel möglichst einfach und zweckdienlich zu gestalten, kommen wir nur sehr langsam voran, da der Professor immer wieder neue und für sich genommen auch außerordentlich gute Einfälle hat, um das Orakel noch weiter zu optimieren, bevor wir es befragen.
„Vielleicht könnte man die Sakralität noch mit einem Hirschgeweih erhöhen“, sagt der Professor und betrachtet dabei den Schürhaken neben meinem kleinen Kamin.
„Vielleicht bin ich gerade stark genug, um das Metall zu verbiegen“, sage ich, weil es wie eine Herausforderung scheint und tatsächlich lässt sich der Schürhaken unter größter Kraftanstrengung verbiegen.
„Du muss aufpassen, dass du dich nicht zu sehr anstrengst“, sagt der Professor.
„Im schlimmsten Fall platzt dir sonst eine Ader in der Stirn. Wer zu stark presst“, sagt der Professor, „bekommt auch schnell Hämorriden.“
Erschrocken lasse ich den Schürhaken fallen und erschrecke dann noch einmal, als er dabei eine der Wohnzimmerfliesen auf dem Fußboden zertrümmert.
„Vielleicht brauchen wir gar nicht noch mehr Sakralität“, sagt der Professor, um mich von der zersprungenen Fliese abzulenken, die kurzzeitig ein großes Potential hatte, um mich sehr traurig zu machen, weil sie nun kaputt ist, unwiederbringlich kaputt.
„Ich glaube, wir können stolz sein“, sagt der Professor,
„dies ist wohl wirklich das schönste mir bekannte Orakel“, sagt er
und jetzt, wo er darauf hinweist, muss ich zustimmen: Es ist wirklich schön geworden.
Wir haben Gewaltiges geleistet. Bis knapp unter die Decke stapeln sich die Gegenstände, die wir miteinander verbunden haben, weil jeder einzelne für sich eine symbolische Dimension der Ewigkeit repräsentiert. Darum rankt sich wie eine schimmernde Schlange die alte Christbaumbeleuchtung meiner Eltern, wobei ihr Licht genau so ausgerichtet ist, dass es die große Schale in der Mitte mit einem schwarzen Schatten umringt. Es ist genau so, wie wir es uns vorgestellt haben.
„Ich überlasse dir die feierliche Ehre, einen Zettel zu ziehen“, sagt der Professor und ich fühle mich geehrt, streiche mit der Hand durch die Hunderten von kleinen Zetteln, die allesamt so säuberlich, so perfekt gefaltet sind, dann greife ich einen heraus und halte ihn ins Licht, um besser lesen zu können.
„Der Professor hat recht“, lese ich.
„Das ist wohl eindeutig“, sagt der Professor.
„Es funktioniert“, rufe ich, „unser Orakel funktioniert“, weil ich so froh bin, dass sich die ganze Arbeit gelohnt hat.
„Kraft der Bestätigung durch das Orakel entscheide ich, dass wir eine weitere von diesen beigen Pillen nehmen“, sagt der Professor feierlich. „Die zweite wird eh nicht so stark sein, wie die erste, weil sich das Gehirn ja bereits an den Wirkstoff gewöhnt hat.“
Dies klingt alles so plausibel, dass mir nichts einfällt, was ich dagegen einwenden könnte. Schließlich hat ja auch das Orakel gesprochen.
Und wer stellt sich schon gegen ein Orakel?
„Nehmen wir es?“, fragt er und meint damit: „Nehmen wir es jetzt?“
„Ich weiß nicht“, sage ich, „normalerweise habe ich ja immer gerne jemanden dabei, der klar bleibt, wenn ich so was probiere.“
„Ich bleibe schon klar“, sagt der Professor, „auch wenn ich es nehme.“
Dann legt er sich die kleine beige Pille auf die Zunge.
„Das sagst du immer“, sage ich und lege meine kleine beige Pille auf meine Zunge.
Dann beginnt unser Abenteuer.
„Im Schatten der großen Hochhäuser hat sich wohl zunächst unbemerkt ein Geschwür gebildet, das sich dann, Stockwerk um Stockwerk in den Himmel wachsend, vollgesogen und dabei menschliches Elend Tropfen für Tropfen und dann Liter für Liter in klebrigen Eiter umgeschaffen hat, bis es irgendwann so prall, so folgenschwanger geborsten ist und sich über all die Menschen ergossen hat, die von unten nach oben schauten“, sagt der Professor nach einer Weile und dann sinnend:
„Ist es nicht furchtbar traurig, dass man sowas nicht auch mal selber erlebt, so was Großes, so was Extraterrestrisches. Mir passieren nie solche Dinge.“
Ich weiß nicht so recht, was ich darauf antworten soll und sage darum:
„Wenn Meerestiere lumineszieren, dann wissen sie ja gar nicht, dass sie selbst Quelle des Lichtes sind. Sie müssen geradezu voraussetzen, dass die gesamte Welt vollständig beleuchtet ist. Dabei sind sie ganz alleine im tiefen dunklen Meer und ihre Sinne reichen einfach nicht über ihren kleinen Lichtkegel hinaus, das finde ich traurig“, sage ich, „das muss man sich mal vorstellen.“
Eine Weile ist es still.
Dann erst fällt mir auf, dass der Professor weint.
Dicke Tränen rinnen aus seinen Augenwinkeln.
„Weinst du?“, frage ich ihn und er antwortet schluchzend:
„Natürlich weine ich. Wie sollte ich denn auch nicht, wenn du so traurige Sachen erzählst, schließlich bin ich ja ein fühlendes Wesen, ein kleiner Mensch mit einer kleinen Seele.“
„Es tut mir leid“, sage ich, „aber du hast damit angefangen, mit dem Eiter, der sich über die Menschen ergießt...“
„Dass man nie selbst so was erlebt, das habe ich gesagt, der Eiter war gar nicht so wichtig“, antwortet er schluchzend und obwohl er sonst eine sehr laute und um Aufmerksamkeit heischende Stimme hat, flüstert er jetzt fast.
Ich muss ihn auf andere Gedanken bringen, denke ich, mit irgendetwas ablenken, und da mir nichts besseres einfällt, gebe ich ihm kurzentschlossen eine schallende Ohrfeige.
Sofort ist er still und starrt mich mit geradezu panischen Augen an, sagt aber nichts und er hat aufgehört zu weinen.
„Tut mir leid“, sage ich, „das wollte ich nicht.“
Noch immer ist er vollkommen still, betrachtet mich voller Furcht.
„Ich hab halt gedacht, dass dich das irgendwie ablenkt, also dass...“
„Du hast mich geschlagen“, unterbricht mich der Professor und seine Stimme ist voller Panik, er atmet keuchend und schaut sich immer wieder um, so als wäre das Wohnzimmer voll verborgener Bedrohungen.
„Du hast mir mit der Hand ins Gesicht geschlagen“, sagt er ängstlich.
Damit steht er auf und verschwindet mit schnellen Schritten in Richtung Badezimmer.
Als er den Raum verlässt, wird es dunkler, nicht vollständig, lediglich ein kleines bisschen, so wie wenn eine nicht allzu dichte Wolke sich vor die Sonne geschoben hat. Ich trete auf den Balkon und blicke in den wolkenlosen Himmel, dann hinunter über die Stadt, bewundere all die Farben und denke, dass es ein unglaubliches Wunder ist, dass all die Menschen, die dort unten vorbeigehen, unterschiedliche Kleidung tragen. Kein Kleidungsstück ist wie das andere, denke ich und wundere mich über meine Sehkraft, mit der ich so mühelos alles Ferne zu mir heranholen kann, kleine Details fallen mir auf, wie sich zum Beispiel das Sonnenlicht in den Bartstoppeln eines Passanten bricht oder die unterschiedlichen Farben in einem Kaugummi, der auf dem Pflaster klebt, ich bin so nah und zugleich so fern, denke ich und wenn ich mich wirklich anstrenge, kann ich vielleicht sogar in die Köpfe der Menschen hineingucken. Gerade kommt jemand von links nach rechts vorbei und ich starre auf den Kopf, durch die Haare hindurch bis in das Gehirn und staune über all die Milliarden und Abermilliarden flackernder Synapsen, „das ist so schön“, flüstere ich, „so außergewöhnlich schön. In jedem Kopf ist ein ganzes Universum verborgen.“
„Schau mal da“, sagt der Professor, der sich unbemerkt genähert hat und weist mit der Hand in die Ferne und jetzt kann ich es auch sehen, ein winziger Polizeiwagen, der wie ein Spielzeug mit Blaulicht durch die Stadt rast. So ein kleiner Wagen, denke ich, und so eine große Stadt.
„Wo er wohl hinfährt?“, frage ich und denke dann, dass irgendwo bestimmt irgendetwas Schlimmes passiert ist, ein wütender Ehemann, der seine Frau geschlagen hat, Einbrecher, die auf frischer Tat ertappt mit einem Messer zugestochen haben.
„Die Welt kann ja ein so furchtbarer Ort sein“, sage ich zum Professor und betrachte dabei, wie der Polizeiwagen sich nähert. Inzwischen kann man sogar die Sirene hören.
„Nicht?“, frage ich, „die Welt kann doch echt manchmal ein schlimmer Ort sein.“
Ich blicke mich um, weil der Professor nicht antwortet.
„Alles klar?“, frage ich.
„Es tut mir leid“, sagt er plötzlich, „ich glaube, dass ich einen furchtbaren Fehler gemacht habe.“
„Das ist schon gut“, antworte ich, weil Fehler ja menschlich sind, „das ist alles nicht so schlimm“, weil mich der Polizeiwagen viel mehr interessiert, der nun tatsächlich in unsere Straße abbiegt. Die Lichter blinken so lustig.
„Ich hatte eben solche Angst“, sagt der Professor und erst als der Polizeiwagen hält, zwei Beamte aussteigen und zu uns nach oben blicken, begreife ich:
„Du hast nicht wirklich die Bullen gerufen?“, frage ich den Professor, der ganz schuldbewusst in eine andere Richtung blickt und nichts zu sagen braucht, damit ich verstehe.
Meine Beine werden ganz schwach, „ernsthaft, du hast die Bullen gerufen!“, frage ich, dann klingelt es an der Tür.
„Wir machen einfach nicht auf“, sagt der Professor, der sich hinter der Couch versteckt hat.
„Dann denken die, dass niemand zuhause ist.“
„Was hast du ihnen denn erzählt?“
„Eigentlich nichts“, sagt der Professor und dann, sehr viel leiser:
„Nichts als die Wahrheit.“
Wieder klingelt es und zum ersten Mal fällt mir auf, wie unangenehm und wie laut dieser Ton ist.
„Ich muss denen aufmachen“, sage ich und gehe langsam in Richtung der Tür.
„Ja, hallo“, frage ich durch die Gegensprechanlage.
„Polizei“, antwortet die Gegensprechanlage, „wir haben einen Anruf bekommen, dass es hier wohl zu häuslicher Gewalt gekommen sei.“
Der Professor lacht an dieser Stelle laut im Hintergrund, wiehert geradezu wie ein Pferd.
„Ach das“, sage ich möglichst laut, um das Lachen zu übertönen,
„das war wohl jemand, der ein wenig zu viel getrunken hat.“
„Ich habe gar nicht getrunken“, ruft der Professor im Hintergrund:
„Nichts habe ich getrunken.“
„Wir würden uns gerne selbst einmal ein Bild der Situation machen“, antwortet der Beamte.
„Öffnen Sie doch bitte die Tür.“
Ich zögere. Noch scheint es mir zumindest so, als ließe sich die Situation kontrollieren.
„Ich kläre das“, sagt der Professor, der in diesem Moment hinter dem Sofa hervor- und zu mir hinüberkommt, und bevor ich etwas tun kann, den Türöffner betätigt. Man hört das Summen im Treppenhaus, dann die Tür, die sich öffnet und dann schwere Schritte auf den Stufen.
„Sie kommen“, flüstere ich, „sie kommen“ und weiche ein paar Schritte in die Wohnung zurück.
„Ich begrüße Sie an unserer Tür“, sagt der Professor sehr freundlich, als die zwei Beamten schließlich vor uns im Flur stehen, „auch wenn es mir leid tut, dass Sie den mutmaßlich weiten Weg umsonst gekommen sind.“
Er macht das gut, denke ich, vielleicht vermag er es, uns zu retten.
„Haben Sie den Notruf gewählt?“, fragt der Polizist, der einen kleinen aber sehr gepflegten Schnurrbart trägt, und versucht dabei am Professor vorbei in die Wohnung zu blicken.
„Ja“, sagt der Professor und tritt einen Schritt beiseite,
„weil dieser junge Mann hier mir mit der Hand ins Gesicht geschlagen hat.“
Dabei zeigt er auf mich. Beide Beamte blicken nun zu mir.
„Es tut mir sehr leid“, sage ich, „das ist so im Affekt passiert. Ich wollte ihm nicht wehtun. Wir sind alte Freunde.“
Meine Beine sind ganz weich und als ich hinunter auf meine Schuhe blicke, habe ich das Gefühl, dass sie mit dem Boden verschmelzen, dass ich mich auflöse, dass ich von dem weichen Teppichboden aufgesogen werde, wenn ich noch länger so auf der Stelle stehe. Nervös trete ich von einem Fuß auf den anderen, versuche mich auf etwas anderes zu konzentrieren und betrachte den kleinen Schnurrbart, der sich bei jedem Wort bewegt.
Fast könnte man meinen, dass er tanzt.
„Wohnen Sie hier?“, fragt mich der Polizist mit einer sehr vorwurfsvollen Stimme.
„Ja“, antworte ich sehr schuldbewusst, „ich wohne hier.“
„Und Sie?“, fragt er den Professor.
„Ich bin nur zu Besuch“, antwortet dieser.
„Ist sonst noch jemand in der Wohnung?“, fragt der Polizist.
„Nein“, sagen ich und der Professor gleichzeitig.
„Sonst ist niemand da“, ergänzt der Professor.
Ich muss lachen, weil das so redundant ist und verstumme abrupt, als ich merke, dass ich der einzige bin, der lacht, ich muss mich auf den Schnurrbart konzentrieren, denke ich. Sonst ist alles verloren. Eine Weile lang ist es still. Beide mustern uns.
„Haben Sie vielleicht...?“, fragt der Polizist.
„Nein, haben wir nicht“, antwortet der Professor.
„Haben nicht was?“, fragt der Polizist.
„Drogen genommen“, ergänzt der Professor und hält dem Blick des Beamten stand.
„So etwas machen wir nicht, weil es gegen das Gesetz ist. Wir würden uns ja strafbar machen.“
„Der Notruf“, erklärt der Polizist, „ist ausschließlich für Notfälle. Es ist durchaus möglich, dass Sie die Kosten dieses Einsatzes tragen müssen. Gegebenenfalls erhalten Sie noch einmal ein Schreiben von uns, in dem Sie aufgefordert werden, sich zu dem Sachverhalt zu äußern.“
„Das ist gut“, sage ich vielleicht etwas schnell von hinten, weil es ein wenig wie ein Abschied klingt.
„Das ist nicht gut“, sagt der Professor und baut sich zu voller Größe auf.
„Man soll doch den Notruf wählen, wenn man das subjektive Empfinden hat, dass man sich in einer Gefahrenlage befindet. Eben dieses Gefühl hatte ich, da, so habe es Ihnen ja dargestellt, dieser junge Mann hier – er weist auf mich – mir mit der Hand ins Gesicht geschlagen hat. Glücklicherweise hat sich die Situation beruhigt, mir tut es leid, dass Sie umsonst gekommen sind, aber das hat ja auch seine guten Seiten. Die Situation hat sich gewissermaßen von selbst aufgelöst, ich möchte keine Anzeige erstatten. Mir ist nicht ganz klar, warum ich die Kosten dieses Einsatzes tragen soll. Ich habe ja alles richtig gemacht.“
„Lass uns gehen“, sagt der andere Polizist, der bislang geschwiegen hat.
„Das macht doch alles gar keinen Sinn.“
„Keinen Sinn“, sagt der Professor und ich merke seiner Stimme an, dass er nun wütend wird,
„wie kann das keinen Sinn machen, wo ich es Ihnen doch gerade Schritt für Schritt erklärt habe?“
„Wenn die Krähen nachts schweigen“, sagt der Professor drohend, „dann wird es vielleicht niemals wieder hell.“
Wieder ist es einen Moment still. Man kann das Atmen im Treppenhaus hören und wenn man nur ganz genau hinschaut, kann man sogar die Töne sehen, die aus den Mündern gegen die Wand gleiten, zurückgeworfen werden, sich verwirbeln, so dass man nie sicher sein kann, ob die Mundbewegung, die man sieht, wirklich zu dem Geräusch passt, das man gehört hat. Alles ist irgendwie durcheinandergekommen und auch der Schnurrbart hat aufgehört zu tanzen.
„Wollen Sie uns drohen?“, fragt der Polizist, während sich seine Hand langsam zu seinem Gürtel bewegt.
„Nein“, sagt der Professor,
„ich wollte nur ein Beispiel für etwas geben, das wirklich keinen Sinn macht.“
„Lass uns gehen“, sagt der andere Polizist noch einmal und über die Schulter des Professors hinweg kann ich in den Kopf des Polizisten schauen und sehen, wie er sich vorstellt, nach vorne zu stürmen und den Professor mit einem Hebelwurf auf den Boden zu befördern, ihm die Hände auf den Rücken zu drehen und diese dabei ein Stück weiter als notwendig nach hinten zu drücken, damit es auch wirklich weh tut.
„Bitte tun Sie meinem Freund nicht weh“, sage ich zu den Polizisten und ziehe den Professor an der Schulter sanft in die Wohnung zurück, „es tut mir leid, dass wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet haben und ich gelobe, dass ich aufpassen werde, dass mein Freund hier nicht noch einmal den Notruf betätigt. Sollten wir dennoch ein Schreiben von Ihnen erhalten, stellen wir den Sachverhalt auch gerne noch einmal umfangreicher dar“, sage ich, „darin sind wir gut.“
Ich bin richtig glücklich, dass das auf einmal die richtigen Worte sind, die nur so hervorsprudeln.
Zur Sicherheit schaue ich noch einmal in den Kopf des Polizisten und sehe, dass meine Worte Wirkung haben, dass er sich wieder entspannt und diesen Moment nutze ich, um mit heldenhaftem Mut die Situation zu beenden, ziehe den Professor weiter zurück, verneige mich mit dem Kopf, so wie sich die Yakuza in japanischen Filmen vor ihrem Herrn verneigen und schließe mit den Worten „auf Wiedersehen“ die Tür direkt vor der Nase des Polizisten.
Regungslos verharren wir und lauschen durch das dünne Holz der Tür.
Man kann die Beiden im Flur atmen hören.
„Die sind doch total verrückt“, sagt einer von ihnen.
„Hast du die Augen von dem einen gesehen?“
Dann endlich hört man Schritte, die sich langsam durch das Treppenhaus nach unten bewegen.
Erst nach einigen Minuten trauen wir uns wieder uns zu bewegen.
„Siehst du“, sagt der Professor viel zu laut.
„Man muss nur richtig mit denen reden.“
„Bitte mach so was nie wieder“, sage ich zu dem Professor, als wir wieder auf der Couch sitzen.
„Das war wohl eine der dümmsten Aktionen, die ich je erlebt habe.“
„Ich habe mich halt bedroht gefühlt“, sagt der Professor und dann leiser:
„Eigentlich habe ich ja nichts falsch gemacht.“
Der Schrecken über diesen plötzlichen Besuch hat uns beide angestrengt. Auf einmal wird mein Kopf sehr schwer und weil ich mehr und mehr Angst habe, dass er zur Seite rutscht und dabei meinen Hals abknickt, stütze ich ihn mit den Ellenbogen auf den Tisch, was eine ungemein komfortable Position ist, sofort fühle ich mich wohler, fühle mich verwandt mit all jenen, die durch die Zeit hindurch wie ich ihren Kopf mit den Ellenbogen abgestützt haben, diesen Moment gefühlt haben, in dem man endlich die richtige Position gefunden hat und weil es sich so richtig anfühlt, schließe ich die Augen und betrachte zur Entspannung ein wenig die Innenseite meiner Augenlider, all die rötlichen Farben, die in der Dunkelheit verborgen sind und die immer ein klein wenig heller strahlen, wenn man mit den Gedanken über sie streicht.
„Das ist übrigens Atreju“, sagt der Professor nach einer Weile völlig unvermittelt, „Atreju aus der unendlichen Geschichte. Ist das nicht ein unglaublicher Zufall, dass wir gerade ihn hier treffen?“
„Das ist so ein Unsinn“, sage ich und will meine Augen nicht öffnen, weil es so gut tut, einfach einmal nichts zu tun.
„Atreju sucht Verbündete für den Kampf gegen das Nichts“, sagt der Professor, „und ich habe schon gesagt, dass ich dies für ein ehrenwertes Motiv halte.“
„Das Nicht droht alles zu verschlingen“, sagt plötzlich eine Kinderstimme und als ich erschrocken die Augen aufreiße, sitzt Atreju neben dem Professor auf dem Sofa.
Er hat lange schwarze Haare und ist nur mit einem Lendenschurz bekleidet.
„Das ist krank“, sage ich zum Professor,
„da sitzt ein halbnacktes Kind auf meinem Sofa.“
„Das ist doch nur der Atreju“, sagt der Professor und dann:
„Du musst das alles einfach auf dich wirken lassen und nicht fortwährend versuchen alles mit deiner kleinen Ratio zu bewerten. Lass dich einfach treiben.“
„Ich mag dich nicht“, sagt Atreju und macht eine obszöne Handbewegung. Damit steht er auf und geht hinaus auf den Balkon und auf einmal ertönt ein leises Klingeln, so als ob unzählige kleine Glöckchen aneinander vorbeireiben. So ein schönes Geräusch, denke ich.
Dann ist es still.
„Wir hätten mit dem Glücksdrachen reiten können“, sagt der Professor und starrt auf einmal an mir vorbei auf ein Bild an der Wand, „aber vielleicht“, seine Stimme wird dabei immer langsamer, „machen... wir... das... ein... anderes Mal.“
Die letzten beiden Worte spricht er sehr schnell hintereinander.
„Warum redest du so?“
„Ich glaube“, sagt der Professor,
„ich glaube, dass die Pille jetzt zu wirken beginnt.“
*
Endlich fährt die Achterbahn nach oben, Meter um Meter auf die Spitze zu, hinter der es erst ein gutes Stück nach unten und dann durch den Riesenlooping geht.
„Ist das nicht unglaublich“, rufe ich dem Professor zu, „dass wir Plätze ganz vorne bekommen haben.“
„Ich mag Achterbahnen gar nicht so sehr“, ruft der Professor zurück und sieht dabei irgendwie unglücklich aus. „Ich wäre lieber mit dem Glücksdrachen geritten.“
„Du musst dich treiben lassen“, rufe ich,
„ist doch egal, ob wir heute oder an einem anderen Tag sterben.“
Höher und höher geht es hinauf, inzwischen haben wir fast die Spitze erreicht.
„Ich hab kein so gutes Gefühl dabei“, sagt der Professor leise und rauft sich dabei die Haare, was er sonst nur in Momenten größter Aufregung tut.
Seine Stimme klingt so ernst, dass ich lachen muss. Da unten ist doch ohnehin alles weich. Kann er denn die Zuckerwatte nicht riechen?
„Ich weiß gar nicht, wie wir hier hingekommen sind“, sagt der Professor.
„Eben waren wir ja noch in deiner Wohnung“, sagt er und dann:
„Und ich glaube mich auch zu erinnern, dass wir das Sofa auf den Balkon getragen haben.“
„Das ist doch alles Quatsch“, sage ich, „riechst du denn nicht die Zuckerwatte? Wo gibt es denn bitte sonst Zuckerwatte, wenn nicht auf den Jahrmarkt? Und wo stehen gemeinhin Achterbahnen?“, frage ich und antworte direkt selber: „Na, auf dem Jahrmarkt.“
Ganz nah sind wir jetzt an der Kante, doch irgendetwas stimmt nicht, der Wagen bleibt einfach stehen. Wir hängen fest.
„Du hast es kaputtgemacht“, sage ich zum Professor, „durch deine elenden Zweifel hast du es kaputtgemacht. Eben ist es noch ganz problemlos gefahren.“
„Ich hab gar nichts gemacht“, ruft der Professor.
Und dann habe ich eine Idee: Wenn ich jetzt aussteige und dann breitbeinig über die Schienen hinunterlaufe, müsste ich auch ohne Wagen schnell genug werden, um es durch den Looping zu schaffen.“
„Wir könnten auch laufen“, sage ich zum Professor und öffne den Sicherheitsbügel, um aus der Achterbahn zu steigen.
„Warte“, sagt der Professor und erzählt dann ganz unvermittelt:
„Es war einmal ein kleines Reh, das in der Nähe eines Abgrunds wohnte.“
„Wie hieß das Reh?“, frage ich den Professor und vergesse für einen Moment die Achterbahn.
„Das Reh hieß Simon“, sagt der Professor.
„Der Name gefällt mir nicht“, unterbreche ich ihn.
„Dann hieß das Reh eben Sokrates. Sokrates, der Kleinere.“
„Das ist ein guter Name für ein Reh“, antworte ich, „ein Reh braucht einen guten Beinamen.“
„Eine Morgens fraß also das Reh Sokrates, der Kleinere, auf einer Wiese aus Versehen ein paar Pilze, die über Nacht dort gewachsen waren. Da das Reh, Sokrates, der Kleinere“,
hier muss ich lachen, weil der Name so gut passt,
„hör zu“, sagt der Professor,
„da Rehe Pilze nicht vertragen, wurde ihm ganz übel und auf einmal sah es Dinge, die gar nicht da waren. Der Abgrund, vor dem es sich immer gehütet hatte, erschien ihm auf einmal wie ein See, in dem es gerne baden wollte.“
„Oh nein“, sage ich, „er wird in den Abgrund stürzen.“
Sokrates, der Kleine, war in großer Gefahr“, sagt der Professor und schweigt.
„Und“, frage ich nach einer Weile, weil ich die Spannung nicht aushalten kann.
„Was ist mit ihm passiert? Hat er rechtzeitig erkannt, dass der See ein Abgrund ist?“
Wieder schweigt der Professor und sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht verstehe.
„Wir sind das Reh“, sagt der Professor, „wir schreiben diese Geschichte.“
Und plötzlich begreife ich, dass es nur unser Gewicht ist, welches das Sofa in diesem Moment davon abhält, gemeinsam mit uns über die Balustrade zu rutschen und vier Stockwerke tiefer dort unten zumindest zwei oder drei Passanten zu erschlagen. Wir sind in großer Gefahr.
Vorsichtig klettere ich von der Brüstung zurück, vor der ich auf einmal Angst habe. Manche Abgründe haben einen so starken Sog, dass sie einen immer noch überwältigen können, selbst wenn man sie erkannt hat.
Dann sitze ich eine Weile regungslos dort und warte bis der Schreck verschwunden ist.
„Sollen wir das Sofa wieder reintragen?“, frage ich den Professor, als es mir besser geht, doch er ist eingeschlafen, hat sich ganz am Ende des Sofas eingerollt und liegt dort wie in einer kleinen Höhle. Mit seinem bloßen Gewicht und mit seiner Geschichte hat er unser Leben gerettet, denke ich, und bin voller Dankbarkeit, als ich mit Riesenkräften das Sofa wieder in die Wohnung zerre.
Dann hole ich eine Decke, damit dem Professor nicht kalt wird.
„Jetzt ist es eine richtige Höhle“, sage ich voller Zärtlichkeit zu ihm, als ich die Decke über ihm ausbreite. Dann zieht es mich auf einmal in die Küche, weil ich eine Idee habe, wie man aus einfachem Zucker Zuckerwatte machen kann.
Als der Professor erwacht, ist es bereits dunkel. Ich habe mich auf den Boden des Balkons gelegt und betrachte die Sterne, die immer wieder für ein paar Momente zwischen all den Wolken sichtbar sind. Irgendwie ist es traurig, dass sie so weit weg sind, dass ihr Licht länger als ein Menschenleben braucht, um uns zu erreichen. Das kann einen richtig melancholisch machen.
„Das war mein Kreislauf“, sagt der Professor und setzt sich zu mir auf den Balkonboden.
„Siehst du das Riesenrad?“, frage ich und weise auf die bunten Lichter, die in der Ferne leuchten,
„Ich war mir so sicher, dass das ein Looping ist“, sage ich und reiche ihm eines meiner Essstäbchen, die mit Zuckerwatte umwickelt sind.
„Möchtest du etwas Zuckerwatte?“
„Wo hast du die denn her?“
„Ach“, antworte ich, „ich habe eine Anleitung im Internet gefunden. Die nennen so was Lifehack.“
„Erstaunlich“, sagt der Professor und betrachtet die Zuckerwatte eine ganze Weile lang, bevor er sie probiert.
„Es war letztendlich komplizierter als gedacht“, sage ich, „ich brauchte eine ganze Menge an Bauteilen und es hat auch eine Weile lang gedauert.“
„Wie lang habe ich geschlafen?“, fragt der Professor und probiert die Zuckerwatte.
„Sechs oder sieben Stunden, denke ich“, sage ich, „Ich habe sehr konzentriert gearbeitet. Alleine das Auseinanderbauen der Bohrmaschine hat bestimmt eine gute Stunde gedauert.“
„Lecker“, sagt der Professor, „schmeckt wie Zuckerwatte.“
„Meinst du die Pille wirkt noch?“, frage ich, als ich auf einmal wieder die kleinen Glöckchen höre, unzählige kleine Glöckchen.
„Hörst du das?“, frage ich den Professor, der langsam nickt: „Ja“, sagt er: „Irgendwo spielt jemand wohl eine Oboe.“
Und dann: „Wenn wir Frösche wären, könnten wir in diesem Takt von Seerosenblatt zu Seerosenblatt springen.“
„Das meine ich nicht“, sage ich, „ich meine diese vielen kleinen Glöckchen.“
„Der Professor hat recht“, sagt in diesem Moment Atreju,
„das Nichts breitet sich noch immer aus.“
„Aber das hat er gar nicht gesagt“, sage ich zu Atreju,
„er meinte doch, dass er gerne von Seerosenblatt zu Seerosenblatt springen möchte.“
„Das war doch eine Metapher“, sagt der Professor nun sehr ernst.
„Es ist doch offensichtlich, dass zwischen den Seerosenblättern das Nichts ist.“
„Der Professor hat recht“, sagt Atreju noch einmal und dann weist er mit der Hand in Richtung des Horizontes, „was siehst du?“, fragt mich Atreju und da ich genau dort, wohin er zeigt, nichts Besonderes erkennen kann, antworte ich „nichts“ und begreife in diesem Moment:
Das Nichts ist bereits bis an die Stadtränder vorgerückt und droht die gesamte Stadt zu verschlingen.
„Warum hast du nicht vorher schon etwas gesagt?“, frage ich den Professor, weil es mir nicht gefällt, dass er und Atreju Geheimnisse haben.
„Wir könnten ein Orakel bauen“, sage ich zum Professor, „so könnten wir uns erst einmal einen Überblick über die Situation verschaffen.“
Und dann, zu Atreju: „Und musst du nicht längst im Bett sein?“
„Lass doch den Atreju in Ruhe“, sagt der Professor, doch man merkt seinem Blick an, dass er gedanklich mit etwas ganz anderem beschäftigt ist:
„Diese Pillen, die wir genommen haben, du meintest ganz am Anfang, dass man nicht zu viel davon nehmen darf, weil sie stark seien.“
Ich nicke langsam, weil ich ahne, worauf er hinaus will.
„Wir haben bislang aber nur eine davon genommen“, ergänzt er und klingt dabei ein wenig so, als würde er einen Vortrag halten.
„Wenn dir der junge Mann geraten hat, nicht zu viel zu nehmen, hast du wohl mehr als zwei gekauft?“
Ich nicke langsam.
„Ja“, sage ich, „ich habe zehn gekauft, weil ich ja nicht wusste, ob sie wirklich stark sind. Alle sagen ja immer, dass etwas besonders stark sei, du kennst das.“
„Dann haben wir ja noch acht“, sagt der Professor und lächelt dabei erfreut, „und da ich ja meinte, dass ich klar bleibe, rate ich uns, dass wir auf keinen Fall alle acht auf einmal nehmen sollten.“
„Ich weiß nicht“, sage ich, „ich habe das Gefühl, dass du das alles nur sagst, um jetzt noch eine von den Pillen zu nehmen.“
„Da kennt mich aber jemand gut“, sagt der Professor und lacht.
„Ich mag dich nicht“, sagt Atreju zu mir, „aber du bist lustig.“
„Dieser Atreju geht mir ziemlich auf die Nerven“, sage ich zum Professor.
„Ich traue ihm nicht, weil er diese Gesichtsfalte hat, an der man in den Filmen immer die Bösen erkennt.“
„Gib ihm doch einfach etwas von deiner Zuckerwatte“, sagt der Professor.
Ich zögere, weil ich nur noch vier Stäbchen habe, doch dann reiche ich Atreju eine Zuckerwatte.
„Und?“, frage ich, nachdem er vorsichtig probiert hat.
„Es ist sehr süß“, sagt Atreju, „aber ich glaube, dass ich es mag.“
„Du darfst nicht zu viel davon essen“, sage ich zu ihm, „sonst bekommst du Bauchschmerzen.“
„Und?“, fragt der Professor, der noch immer auf eine Antwort wartet:
„Nehmen wir noch eine?“
„Ich weiß nicht“, sage ich, „ich meine, wir haben ja schon einiges erlebt und jetzt grade fühle ich mich ein wenig klarer, selbst mit Atreju komme ich jetzt irgendwie zurecht.
„Das ist aber erst der Anfang“, sagt Atreju, „wenn ihr euer Abenteuer jetzt beendet, wird das Nichts alles verschlingen. Das Schicksal der gesamten Welt liegt in euren Händen.“
„Siehst du?“, sagt der Professor,
„ich weiß nicht“, sage ich,
„vielleicht sollten wir noch ein wenig warten?“
„Warum warten“, fragt Atreju, „die Zeit ist doch relativ. Eigentlich kann man ja gar nichts über sie sagen, außer eben, dass sie fortlaufend ist.“
„Ich denke, dass wir hier transzendentalen Beistand brauchen“, sagt der Professor zu mir, „du hattest von Anfang an recht: Wir müssen ein Orakel bauen.“
Während wir das Orakel bauen, verstreicht die Nacht. Obwohl wir uns einig waren, das Orakel möglichst einfach und zweckdienlich zu gestalten, kommen wir nur sehr langsam voran, da der Professor immer wieder neue und für sich genommen auch außerordentlich gute Einfälle hat, um das Orakel noch weiter zu optimieren, bevor wir es befragen.
„Vielleicht könnte man die Sakralität noch mit einem Hirschgeweih erhöhen“, sagt der Professor und betrachtet dabei den Schürhaken neben meinem kleinen Kamin.
„Vielleicht bin ich gerade stark genug, um das Metall zu verbiegen“, sage ich, weil es wie eine Herausforderung scheint und tatsächlich lässt sich der Schürhaken unter größter Kraftanstrengung verbiegen.
„Du muss aufpassen, dass du dich nicht zu sehr anstrengst“, sagt der Professor.
„Im schlimmsten Fall platzt dir sonst eine Ader in der Stirn. Wer zu stark presst“, sagt der Professor, „bekommt auch schnell Hämorriden.“
Erschrocken lasse ich den Schürhaken fallen und erschrecke dann noch einmal, als er dabei eine der Wohnzimmerfliesen auf dem Fußboden zertrümmert.
„Vielleicht brauchen wir gar nicht noch mehr Sakralität“, sagt der Professor, um mich von der zersprungenen Fliese abzulenken, die kurzzeitig ein großes Potential hatte, um mich sehr traurig zu machen, weil sie nun kaputt ist, unwiederbringlich kaputt.
„Ich glaube, wir können stolz sein“, sagt der Professor,
„dies ist wohl wirklich das schönste mir bekannte Orakel“, sagt er
und jetzt, wo er darauf hinweist, muss ich zustimmen: Es ist wirklich schön geworden.
Wir haben Gewaltiges geleistet. Bis knapp unter die Decke stapeln sich die Gegenstände, die wir miteinander verbunden haben, weil jeder einzelne für sich eine symbolische Dimension der Ewigkeit repräsentiert. Darum rankt sich wie eine schimmernde Schlange die alte Christbaumbeleuchtung meiner Eltern, wobei ihr Licht genau so ausgerichtet ist, dass es die große Schale in der Mitte mit einem schwarzen Schatten umringt. Es ist genau so, wie wir es uns vorgestellt haben.
„Ich überlasse dir die feierliche Ehre, einen Zettel zu ziehen“, sagt der Professor und ich fühle mich geehrt, streiche mit der Hand durch die Hunderten von kleinen Zetteln, die allesamt so säuberlich, so perfekt gefaltet sind, dann greife ich einen heraus und halte ihn ins Licht, um besser lesen zu können.
„Der Professor hat recht“, lese ich.
„Das ist wohl eindeutig“, sagt der Professor.
„Es funktioniert“, rufe ich, „unser Orakel funktioniert“, weil ich so froh bin, dass sich die ganze Arbeit gelohnt hat.
„Kraft der Bestätigung durch das Orakel entscheide ich, dass wir eine weitere von diesen beigen Pillen nehmen“, sagt der Professor feierlich. „Die zweite wird eh nicht so stark sein, wie die erste, weil sich das Gehirn ja bereits an den Wirkstoff gewöhnt hat.“
Dies klingt alles so plausibel, dass mir nichts einfällt, was ich dagegen einwenden könnte. Schließlich hat ja auch das Orakel gesprochen.
Und wer stellt sich schon gegen ein Orakel?
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