Der Pyramidalbaum

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pol shebbel

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Dies ist das Eingangskapitel eines Fantasy-Romans. Die Idee ist, mittels einer Traumsequenz eine Einstimmung in die spezielle Welt, in der der Roman spielt, zu geben, sowohl in Bezug auf deren äussere Erscheinung (mit einer speziellen Flora) als auch und besonders die Gedankenwelt der Bewohner.

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Da stand er - der mächtige Stamm eines Pyramidalbaums. Am Boden beinahe 2 Mannslängen im Querschnitt, sich konisch verjüngend bis in eineinhalb Mannslängen Höhe, wo sich der Stamm in 3 dicke Teilstämme teilte, die schräg weiter in die Höhe stiegen. Die Oberfläche war vollständig glatt und schimmerte hellbraun - da, wo ein Sonnenstrahl sie berührte. Kaum einer der Strahlen erreichte aber den Boden direkt. Die meisten wurden abgelenkt und gefiltert durch Tausende von jungen Frühlingsblättchen des Waldes, die die Strahlen entweder zurückhielten oder aber einfärbten - in hundert verschiedenen Schattierungen von Grün. Ssai, die Gottheit des Waldes, hielt gerade ein Schläfchen, und ihr Atem ging als leichter Wind durch die Zweige, was zur Folge hatte, dass die Schatten, Flecken und Lichtreflexe auf dem Baumstamm in ständiger Bewegung waren - ein Spiegel von . Ssais Träumen und eine Anregung für die Träume des Menschen.

Auf einem besonders grossen Lichtfleck tanzte eine Perrkrômbolklai, eine Handwurz. Das heisst, Tanzen war wohl etwas übertrieben; eigentlich bewegte die braune Knolle ihre dicken "Finger" ziemlich träge. Sie suchte eine Stelle, um Wurzeln zu schlagen, um die harte Holzwand zu durchbohren und an das schwammige Innere zu gelangen. Mit zweien ihrer Fingerknollen war es schon gelungen, sie steckten fest im Holz; und jetzt gelang es auch der dritten. Und schon erhob sich auch ein langer Trieb, der seine Blätter dem Licht entgegenstreckte.

Von oben, von den Ästen des Baumes, hing das Ende einer Feigenliane herab. Die Liane räkelte sich und sah faul zu, wie sich die Handwurz unten abmühte. Sie hatte gut lachen, denn sie war nicht auf eine Wurzel angewiesen, sondern bezog fast ihre ganze Nahrung direkt aus der Luft; alles, was sie brauchte, war ein Platz an der Sonne und genügend Oberfläche. So einfach war das Leben freilich trotzdem nicht, denn dummerweise war die Liane nicht die einzige mit dieser Idee. Urplötzlich musste sie sich mächtig ins Zeug legen, weil eine andere Liane gerade im Begriff war, ihr vors Licht zu wachsen.

Die Handwurz war inzwischen zu einem kleinen, aber kräftigen Strauch herangewachsen. An besonders langen Trieben bildeten sich jetzt kleine, braune, handförmige Knollen, die rasch grösser wurden. Gleichzeitig verlängerte sich der Trieb, so dass sich das Ende nach unten neigte. Sobald sie den Boden berührten, versuchten die neuen Knollen, dort Wurzel zu fassen. Einige landeten in der Umgebung auf demselben Pyramidalstamm, andere auf dem Waldboden; dort fanden sie aber keine Nahrung und gingen ein. Am liebsten wäre die Handwurz auf einem anderen Pyramidalbaum gelandet; aber gerade beim nächstgelegenen war das ziemlich schwierig, denn dieser Baum war, im Gegensatz zum ersten, dicht bewachsen. Über seinen Zweigen und Ästen lagen dicke Teppiche von Lebensflechte und Südmoos, Lianen ware ineinander verschlungen. Seinen Stamm beherrschten zwei ansehnliche Eichen, die rechts und links in fast symmetrischer Anordnung aus ihm herauswuchsen und mit starken Wurzeln den ganzen Stamm zu umspannen versuchten; und auf der freigebliebenen Fläche des Pyramidalstamms balgte und boxte sich eine ganze Schar Pilze um das Recht auf Wurzelschlag. Gerade dort, wo die Handwurz am leichtesten hinreichte, sass wuchtig ein besonders grosses Exemplar des Kafâm, der gut halb mannshoch wird und mit Recht als Meister aller Pilze bezeichnet wird.

Die Liane von vorhin hatte inzwischen wieder etwas Zeit und betrachtete die Bemühungen der Handwurz wieder.Von oben hatte sie natürlich einen viel besseren Überblick über den anderen Stamm; und als sie eine relativ grosse, freigebliebene Fläche erspähte, beschloss sie, der Handwurz zu helfen. Sie liess einen ihrere Arme herab, ergriff einen der Ablegertriebe und lenkte ihn zu der Stelle.

Doch die Handwurz hatte wieder Pech. Die Stelle war nicht ohne Grund frei; vor kurzem hatte hier nämlich ein Medizinpilz gestanden. Dessen Trick besteht darin, rund um sich eine chemische Substanz zu verbreiten, die für alle Konkurrenzpflanzen (ausser den Kafâm) stark giftig ist. (Die Menschen benutzen ihn, um Mittel gegen Krankheiten herzustellen; daher der Name.) So brachte es auch dieser Ableger nur auf zwei kleine Blätter, ehe er eintrocknete. Dem Baum waren diese Medizinpilze mehr als recht; er hatte kein Interesse daran, seine Rinde pausenlos von Wurzeln durchlöchern zu lassen, da dies seinen Schutz gegen Austrocknung in Gefahr brachte.

Ein plötzlicher Windstoss liess die Blätter rauschen. Es schien, dass Ssai langsam aufwachte. Ihre Lebensimpulse gingen in Wellen durch alle Pyramidalbäume hindurch bis in die Randgebiete. Ein Baum allein war nichts, aber alle zusamemn waren Ssai, die Schutz und Fruchtbarkeit spendende Gottheit; und jeder einzelne Pyramidalbaum war als lebendiger und einzigartiger Teil mit dem Ganzen verbunden, so weit er nach menschlichem Ermessen auch entfernt schien. Und wie die einzelnen Teile eines Menschen, seine Arme und Beine, seine Augen, seine Aufmerksamkeit, sich aufeinander abgestimmt bewegen, so bewegten sich auch die vier grossen Naturgewalten, der Wald, die Erde, das Wasser und das Feuer, griffen ineinander, beeinflussten sich gegenseitig. Wolken ballten sich und verhüllten das grosse Feuer am Himmel; und dann kam Kerr auf die Erde, das Wasser - diese zweischneidige Kraft, die in kleinen Mengen so ein Labsal, in grosser Masse aber Tod und Vernichtung bedeutet. Jetzt war sie sanft wie das beglückte Rauschen, mit dem der Wald sie empfing. Wasser tropfte von glänzenden Blättern, hunderte von Gerüchen stiegen in die Luft, und die Wurzeln der Pyramidalbäume saugten das Nass gierig auf, um sich für die trockene, heisse Jahreszeit zu wappnen. Dann plötzlich ein Donnerschlag! Kerr war wütend. Ssai hatte eine von Menschen gemachte Wunde, eine kahle Stelle an ihrem Körper, Zin-Âching genannt, und Kerr wollte kratzen. Aber das Kratzen machte die Wunde nur schlimmer. Das Wasser prasselte auf die nackte Erde von Zin-Âching, grub sich ein und schwemmte sie davon. Wieder ertönte ein krachender Donnerschlag, und für den Bruchteil einer Sekunde war der Wald taghell erleuchtet - ein schwaches Abbild der unvorstellbaren Gewalt auch von Ssu, dem Feuer, das im Himmel herrschte. Die eine Eiche auf dem Pyramidalbaum war bis zur Wurzel gespalten, und eine Lichtzunge leckte an ihr; auch Ssu war auf die Erde gefahren. Das Feuer kroch durch die trockenen Lianen in Windeseile bis zur Krone; dort traf es das Wasser, mit dem es brüllend und schnaubend kämpfte. Noch ein krachender Donnerschlag, und noch einer, und plötzlich ein dunmpfer Schlag, und alles kracht zusammen, und plötzlich Stille.

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Ein dumpfer Schlag, und plötzlich Stille. Alles weg, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. Und für eine ganz kurze Ewigkeit sitzt du da mit weit aufgerissenen Augen, wie vom Donner gerührt - das heisst, nein, du bist ja tatsächlich vom Donner gerührt - denkst nichts, weisst nichts, siehst nichts und hörst nichts. Und dann, nach einer Sekunde vielleicht, gehen die Lichter wieder an, du hörst plötzlich das durchdringende Schlagen eines Akrobatenvogels, und du spürst, dass dir kalt ist, und dann siehst du durch den Vorhang der vielen Blätter, dass die Sonne schon tief steht, und du denkst: Mann, war das ein Traum...
 
N

nobody

Gast
Phantastisch!!! Allein dafür hast du eine sehr gute Bewertung verdient, vom handwerklichen ganz zu schweigen. Auch der Übergang zwischen Traum und Wirklichkeit ist interessant, vielleicht ein weeenig zu abrupt - aber das ist Geschmackssache.
Gruß Franz
 



 
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