Der Räuber Jochen

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Hera Klit

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Der Räuber Jochen


Das Berndle, der Pauli, der Rainer und ich waren wie alle heranwachsenden Jungs in unserem Alter mit einer blühenden Fantasie gesegnet. Zum Unmut unserer lieben Mütter und Väter setzten wir diese allerdings nicht für die Schule, das Lernen und die Hausaufgaben ein. Nein! Hauptsächlich interessierten wir uns für Räuber- und Gespenstergeschichten und fast den gesamten Tag hielten wir uns damit auf, uns mit diesen für Erwachsene sinnlosen Geschichten zu beschäftigen. Darunter litten unsere Zensuren merklich.

Jetzt kam erschwerend für unsere Eltern und deren Erziehungsbemühungen dazu, dass wir in einer Gegend lebten, in der tatsächlich vor vielen vielen Jahren der berühmte Schinderhannes sein Unwesen getrieben hatte. Gleich hinter unserem kleinen Weiler im Odenwald lag der dichte Sauwald mit mächtigen alten Eichen und mit, wie der Name schon andeutet, vielen Wildschweinrotten. Genau in diesem Sauwald sollte sich so erzählten mache, die sie gefunden hatten, die verlassene Räuberhöhle des besagten Schinderhannes befinden.

Der Eingang der Höhle sei fast vollständig zugewachsen, sodass alle, die ihn fanden, sagten, sie hätten ihn nur zufällig entdeckt, weil sie etwa vorher über Wurzelwerk oder Ähnliches gestolpert seien und dann fast mit dem Kopf voraus hineinstürzten. Diese Geschichten glichen sich auf seltsame Weise. Die Höhle sei absolut dunkel gewesen und man hätte nicht im Geringsten in sie hineinschauen können, aber es wäre der Eindruck irgendwie in einem entstanden, als sei sie sehr groß und rage weit hinein in den finsteren, felsigen Berg. Es sei dabei in ihnen ein derartig beunruhigendes Gefühl entstanden, so berichteten die jeweiligen Höhlenfinder, dass sie auf der Stelle beschlossen hätten, zunächst heimzueilen, um eine starke Taschenlampe zu holen. In all diesen Fällen lief es darauf hinaus, dass die besagten Höhlenentdecker jene Höhle nicht ein zweites Mal aufgefunden hatten. Nur einer im Dorf, der sogenannte Räuber Jochen, behauptete von sich, die Höhle genauestens zu kennen und gründlich erforscht zu haben.

Er wurde nicht etwa der Räuber Jochen genannt, weil er ein Räuber war, sondern weil er jedem und jeder immer wieder von der Höhle und von seinem Wissen über den Schinderhannes berichten wollte. Die Erwachsenen konnten natürlich diese Geschichten bald nicht mehr hören und machten einen Bogen um den bärtigen alten Kauz mit den filzigen langen Haaren und den besonders wenn er vom Schinderhannes sprach, wild, fast wie wahnsinnig funkelnden Augen. Da der Räuber Jochen sich meistens auf dem Marktplatz am Brunnen herumtrieb, war es schwer, ihm auszuweichen auch für noch so beschäftigte und gutsituierte Erwachsene, sodass sie ihm einfach wortlos ein paar Groschen in die Hand drückten und sich schnellstens aus dem Staub machten, nur um eben jene alten Schinderhannesgeschichten nicht wieder und wieder ertragen zu müssen. So verdiente sich der Räuber Jochen praktisch sein Geld für seinen Schnaps durch das Schweigegeld der genervten Passanten. Hatte er genug zusammen, verschwand er drüben im Ochsen und soff sich einen an. Kurz vor Mitternacht konnte man ihn dann das Schinderhanneslied singend durch das Dorf heimwanken sehen. Für uns Kinder war aber der Räuber Jochen ein ganz wichtiger Mann, denn nur er wusste doch über den Schinderhannes genau bescheid und wenn wir auch nur eine kleine Chance haben wollten, den Höhleneingang des berüchtigten Räubers zu finden, dann entweder nur durch ein zufälliges Hineinstolpern, und wann kommt so etwas schon einmal vor, vielleicht nie im Leben oder durch eine exakte Beschreibung ihrer Lage durch den Räuber Jochen.

Wir mussten früh am Marktplatz sein, denn dann war der Räuber Jochen noch halbwegs nüchtern und nur dann nahm er uns Kinder überhaupt zur Notiz und war bereit, sein Wissen mit uns zu teilen. Er saß oben auf der Bank und erzählte wild gestikulierend und mit schrecklich geweiteten Augen und wir Kinder lagerten vor seiner Bank auf dem Boden und erwarteten begierig jede noch so kleine Information über Schinderhannes und dessen Höhle. Jochen erzählte uns, dass der Schinderhannes lange schon drüben im Mainzer Raum sein Unwesen getrieben hatte, dass aber der Obrigkeit dort mehr und mehr seine Frechheiten und sein räuberisches Treiben auf die Nerven ging, sodass sie immer bessere Kommissare auf ihn ansetzten, die ihn endlich ausfindig machen sollten damit er seine gerechte Strafe empfangen könne. Die Kaufleute, die sich nicht mehr durch die Mainzer Wälder wagen wollten, flehten die Fürsten an, koste es, was es wolle, diesem Treiben des Schinderhannes ein Ende zu setzten. Hohe Kopfgelder wurden bereits ausgesetzt. Deswegen verlagerte der Schinderhannes seinen Standort bei Nacht und Nebel, nur begleitet von wenigen seiner treuesten Räubergenossen in den Odenwald, eben genau in den Sauwald hinter unserem winzigen Dorf. Dort nisteten sich die harten, gefährlichen Burschen in eine Felsenhöhle ein. Sie begnügten sich zunächst damit, nur wenige Überfälle auf wehrlose Kaufleute drüben im bayrischen Odenwald zu veranstalten und dann wieder in ihrer Höhle untertauchen. Die hier zuständigen Polizeibehörden waren freilich von einem solch ausgefuchsten Räuberhauptmann mit seinen dreisten Mannen total überfordert und so sah es zunächst so aus, so berichtete der Räuber Jochen, dass sich die Bande in diesem Teil des Odenwaldes für lange Zeit festsetzten könnte.

An dieser Stelle des Berichts waren wir so fasziniert von diesen Räubern, dass wir sie für wahre Helden einschätzten, in deren Fußstapfen wir zu gerne getreten wären. Sie raubten ja nur wenige Kaufleute aus und brachten diese ja auch gar nicht um. Nur die reine Präsenz des Schinderhannes genügte ja, dass die Kaufleute selber ihre Beutel abschnitten und sie dem listigen, stolzen Schinderhannes vor die Füße warfen, um dann schleunigst stiften zu gehen und sich nie wieder hier blicken zu lassen. Man wusste doch auch nie, auf welch diebische Weise diese fahrenden Kaufleute zu ihrem Geld gekommen waren. Nicht jeder von denen konnte als ehrlicher Mann eingestuft werden und so war es doch eigentlich nur recht, dass Schinderhannes ihnen das Geld abjagte. Der Räuber Jochen machte an dieser Stelle der Erzählung eine längere Pause und stopfte sich unendlich langsam und umständlich seine Pfeife. Wir Jungs waren doch ganz begierig, endlich zu erfahren, wie es dem Schinderhannes und seinen Genossen ergangen war, wir konnten uns doch nur vorstellen, dass deren Erfolgsgeschichte sich nahezu endlos fortsetzen würde, bis der Tod sie auf eine natürliche Art und Weise einst ereilen würde. Sie waren doch in dieser Höhle ganz sicher.
Aber als Jochens Pfeife endlich brannte, musste er uns leider vom Niedergang der Bande berichten. Auch ihn schien dieser Teil der Geschichte sehr traurig zu stimmen.
Die Bande wurde tatsächlich eins Tages gefasst und alle Mann, angeführt von ihrem stolzen Hauptmann, mussten den Weg auf das Schafott machen, das man drüben in Mainz für sie extra aufstellen ließ. Aber was machte den Niedergang unserer Helden möglich? Wir konnten es nicht fassen. Gier war es gewesen, so erklärte uns der weise Räuber Jochen. Denn die gesamten Räuber und allen voran der Schinderhannes konnten den Hals nicht voll genug bekommen und so überfielen sie viel mehr Kaufleute, als es für ihren eigenen Erhalt notwendig gewesen wäre. Und so mehrten sich die Klagen der geschundenen Kaufleute und sie legten für ein hohes Kopfgeld zusammen, das die Angst etwaiger Zeugen und Informanten milderte und deren Zungen löste. So kam es immer wieder zu Berichten aus der Bevölkerung, man habe die Bande da oder dort gesehen. Außerdem beschloss nun auch der Fürst in Mainz, seine besten Leute in den Odenwald herüberzuschicken, um den Schinderhannes und seine Gesellen ein für alle Mal dingfest zu machen. Und so kam es, dass die Bande eines Tages samt und sonders gefasst wurde, als sie mit reicher Beute auf dem Weg zurück in den Sauwald und in ihr sicheres Höhlenversteck war.

Es ist kaum zu beschreiben, wie enttäuschend dieser Hergang der Geschichte für uns Buben war, die wir geglaubt hatten, einen Weg gefunden zu haben, ein interessantes und spannendes Leben leben zu können, jenseits von Schulen, Lehrwerkstätten und den bürgerlich langweiligen Berufen. Wenn selbst ein harter Hund wie der Schinderhannes es nicht hinbekommt, wie sollten dann wir, die wir zugegebenermaßen über eine solche Härte gar nicht verfügten, es hinbekommen ein Räuberleben zu führen. Wir waren ja bisher nicht einmal in der Lage gewesen, die Höhle zu finden. Vielleicht existierte diese Höhle ja auch gar nicht und alles das, was wir vom Räuber Jochen gehört hatten, war nur eine der üblichen erstunkenen und erlogenen Sagen des Odenwaldes?

Den Zweifel in unseren Augen mag der erfahrene Räuber Jochen erkannt haben und deshalb zog er einen Gegenstand aus seiner Manteltasche, den er persönlich in der Schinderhanneshöhle entdeckt zu haben behauptete.
Das Berndle, der Pauli, der Rainer und ich drängten uns heran, um einen Blick auf jenen geheimnisvollen Gegenstand zu werfen, der angeblich aus der Höhle stammte, dessen Eingang nur der Räuber Jochen noch finden konnte. Es war ein Stück einer rostigen Messerklinge. Er habe sie ganz tief in der Höhle entdeckt, als er nach dem Schatz des Schinderhannes darin grub. Den Schatz habe er aber bisher nicht finden können, aber vielleicht seien wir eines Tages in der Lage, von im angeführt in der Höhle zu graben und den Schatz zutage zu fördern. Diese Hoffnung gab uns Halt in unserem sauren Alltag und wir träumten davon, irgendwann vom Jochen in die Schinderhanneshöhle geführt zu werden und mit ihm reich zu werden. So ertrugen wir unser Leben mit seinen alltäglichen Pflichten und Aufgaben. Und als wir Jahre später erfuhren, der Räuber Jochen sei gestorben, da hatten wir seine Geschichte fast schon vergessen und wir hatten uns im Leben so weit eingerichtet, dass wir es ertragen konnten, ohne Räuber werden zu müssen.
 
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